Was ist der menschliche Geist (mind)? – Was ist Aufklärung (enlightenment)?

Was ist der menschliche Geist (mind)?

Was ist Aufklärung (enlightenment)?

Auf diese Fragen antworte ich zum argumentativen Gebrauch als Philosoph: Gemeint ist die Fähigkeit des homo sapiens, durch sein Bewusstsein zu denken und sich zu denken (Entwicklung des Selbstbewusstseins).

Am Anfang der Bewusstseinsbildung des homo sapiens steht die Gesprächsfähigkeit, die Kommunikation. Die Möglichkeit des Gespräches schafft Verständigung. Die Verständigung in der Menschengruppe und die Entwicklung des individuellen Bewusstseins sind seit Beginn des Lernens des einzelnen Lebewesens, also seit seiner Entstehung, in einer dauernden Wechselwirkung.

Die Möglichkeiten und Leistungen des Bewusstseins bezüglich seiner Inhalte lassen sich als gemeinsame Schnittmenge von Natur und Norm (der Kulturbildung) beschreiben. Die Fähigkeit zu denken ist von Anfang an ein Prozess des Verstehens und der Verständigung. Daher entwickelt sich die Bildung des Bewusstseins in der Form des Gespräches; sei es zwischen Mutter und Kind (schon vor der Geburt) oder in der Wahrnehmung der Umwelt.

Das Bewusstsein des Menschen hat drei zu unterscheidende Denkmöglichkeiten; diese drei Möglichkeiten (Potenzen) sind (zunächst) an der Entwicklung der menschlichen Sprache abzulesen:

  1. Sprachspiele, die logisch aufgebaut und rekonstruierbar sind; Grundlage ist das begreifende Denken.
  2. Sprachspiele, die erzählend/poetisch aufgebaut sind und zwischenmenschliche Erfahrungen zum Ausdruck bringen; ich spreche vom poetischen Denken.
  3. Sprachspiele religiöser Art, die ein theozentrisches Weltbild zur Voraussetzung haben und – gemäß des Projektes der Aufklärung – der Übersetzung auf der Grundlage heutiger anthropozentrischer Weltdeutung bedürfen, um ihre (existenzielle) Bedeutung in aenigmatischer Form zu erkennen.

Entweder sind religiöse Aussagen (auf theozentrischer Basis) Projektionen und/oder steckt in ihnen eine (verborgene) Botschaft in Form einer Utopie. Ich spreche in diesem Fall vom utopischen Denken.

Religiöse Sprachspiele bedürfen der Übersetzung, da sie mehrdeutig oder sinn-los sind. Sinnlos ist ein Sprachspiel, wenn es nicht kommunikativ ist.

Das Bewusstsein projiziert seine Raumerfahrung in eine Mehrzahl von Räumen (z.B. Erde, Himmel, Unterwelt). Es projiziert seine Zeiterfahrung (im chronologischen Sinn) in ein verursachtes oder erwartetes Ende (im Sinne der Apokalypse).

Demgegenüber verweist das utopische Denken – und die entsprechenden Sprachspiele – auf menschliche Erfahrung ausserhalb von Zeit und Raum, aber innerhalb der Denkmöglichkeiten des menschlichen Bewusstseins. Ich spreche daher von kairologischer statt chronologischer Erfahrung. Wenn von „Augenblick“ oder „Ewigkeit“ gesprochen wird, wenn Oxymora benutzt werden (wie z.B „Menschwerdung Gottes“), kann die Utopie der Erlösung gemeint sein. Da die Menschen sterblich sind, kann  „Erlösung“ nur in utopischer Weise gedacht und gesprochen werden (jenseits von Raum und Zeit).

Wie können die Potenzen des sterblichen Bewusstseins einheitlich – ohne Hilfe metaphysischer Konstruktionen – zusammengefasst werden?

Die einheitliche Aktivität des Bewusstseins – bei unterschiedlichen Denkmöglichkeiten – besteht darin, Probleme zu lösen (erfolgreich und wiederholbar). Diese Lösungen sind vorläufig (im doppelten Sinn: provisorisch und antizipativ), da die Schöpferkraft des homo sapiens begrenzt, sterblich ist.

Daher spricht Hannah Arendt davon, dass die Menschen sterbliche Schöpfer sind (1958/2000) (– und keine Geschöpfe).

Erlösung ist die Hoffnung allen Problemlösens; diese Konsequenz kann als (konkrete) Utopie gedacht und bekannt werden (im Sinne von bekennen).

 

p.s.

Problemlösungen (im weiten Sinn) können erinnert, gesammelt und „ausgelagert“ werden (Schrift,Papyrus, Buch, Bibliothek, Internet – AI); das ändert nichts an ihrer Vorläufigkeit und der Verantwortung (der homo sapiens als homo praestans).

Die jüdisch/christliche Bibel  kennt zwei grundlegende Erzählungen: die messianische Perspektive der Erwartung der Erlösung (in der konkreten Utopie des Erlösers/Messias) und die rückblickende Schöpfungsperspektive (Schöpfungsmythen/Paradiesvorstellungen). Für die jüdische Täuferbewegung in der Konsequenz der Prophetenreden ist das messianische Denken (die Erwartung des Messias) primär; der Rückblick auf die Schöpfung der Welt und die Erschaffung des Menschen sind sekundär.

Der Rückblick auf den Anfang setzt ein theozentrisches Weltverständnis voraus; Gott als Schöpfer, der Mensch als Geschöpf. Dieses Verständnis drückt sich in religiösen Sprachspielen aus (religo = Rückbezug).

Die Messias-Erzählungen sind zukunftsorientiert (Utopie der Erlösung; konkret: Messias-Utopie). Das messianische Denken kann daher auch in das anthropozentrische Weltbild integriert und übersetzt werden. In diesem Weltverständnis wird „Gott“ zu einer aufzuhebenden „Arbeitshypothese“ (so Dietrich Bonhoeffer); dennoch kann Erlösung (als Utopie) gedacht werden.

Diese Überlegung erlaubt mir einerseits beim Lösen von Problemen einen „methodischen Atheismus“ zu unterstellen, andererseits „Erlösung“ als konkrete Utopie zu denken und zu bekennen. Daher folgere ich: ein aufgeklärter Mensch (am Ende des Anthropozän) kann ein methodischer Atheist und zugleich ein aufgeklärter Christ sein.

Dieses Resultat ergibt sich auch, wenn ich das Programm der Aufklärung konsequent zu Ende denke und nicht mit Immanuel Kant (Was ist Aufklärung? 1783) beginne, sondern mit Erasmus von Rotterdam und seiner Korrektur des Prologs des Johannes-Evangeliums in der Vulgata-Übersetzung des Hieronymus: logos = sermo, nicht verbum; im Anfang war das Gespräch, nicht das Wort (vor 1518). Übrigens: Martin Luther kannte diesen Übersetzungsvorschlag von Erasmus in einigen seiner lateinischen Varianten, hat ihn aber bei seiner Übersetzung ins Deutsche nicht berücksichtigt.

Ich nenne meine vier Grundaussagen des universalen Programms der Aufklärung:

  1. Im Anfang war das Gespräch, die Kommunikation, nicht das isolierte, dogmatische Wort. (Erasmus von Rotterdam)
  2. Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! (Mündigkeit/Autonomie/Verantwortlichkeit; der homo sapiens als homo praestans) (Immanuel Kant)
  3. Die Menschen sind sterbliche Schöpfer (nicht Geschöpfe); deswegen sind sie für den Erhalt der Welt und die Lebensbedingungen der Menschen verantwortlich. (Hannah Arendt)
  4. Die Menschen können und müssen nicht nur Probleme lösen, sie können Erlösung denken (als Umkehr und Befreiung von Zwang, Kult und Tod – in Form der konkreten Utopie). (Paulus aus Tarsus)

Wann und wo ist ein Buch überholt?

Biografische Episode während der Pandemie mit reflexivem Einschub zum Raum-Begriff

Wann und wo ist ein Buch überholt?

Wer gelernt hat, über lange Zeit in seinem Arbeitszimmer an seinem Schreibtisch zu sitzen und zu schreiben, dem ist – zusätzlich als Bibliophiler – die aktuelle Nötigung zur Häuslichkeit in Zeiten der Pandemie nicht ungewohnt, wenn auch grenzwertig.

Ich arbeite, informiere mich online und schreibe in meinem Gehäus; so nennt und zeichnet Albrecht Dürer die Studierstube des Hieronymus. Ich empfinde diesen Zustand als gewohnt, wenn auch nicht gesundheitsfördernd. Kein Engel über mir und kein Löwe vor mir schützen mich; obwohl: auch ein dämmernder Löwe ist wachsam und ein schwebender Engel stiftet himmlischen Duft.

Statt Löwe und Engel schützen mich – wie Barrikaden – Bücherreihen, Bücher- und Manuskriptstapel (wenn auch auf fragile Weise) und Bücherregale voller Bücher. Ein explizierter Bibliophiler ist eben ein implizierter Biblioman.

Meine Bücher verströmen nicht nur einen unterscheidbaren Geruch (ich kann Bücher riechen und dieses Phänomen druck- und klebetechnisch erklären), sondern sie haben eine unterschiedliche visuelle Gestalt; selbst Paperbacks und Taschenbücher sind (u.a. dank der edition suhrkamp) individuell unterscheid- und erkennbar.

Seit meiner Jugend – und den regelmäßigen Besuchen in der Stadtbücherei – habe ich die Fähigkeit, Bücher an Gestalt und Farbe wiederzuerkennen, auch wenn die Reihenfolge in den Bücherregalen eher chaotisch ist. Das alles ist eine Frage der Geduld.

Von Zeit zu Zeit frische ich meine visuelle Fähigkeit auf, indem ich ein Buch aus dem Regal nehme, es (insgeheim) berieche und mich schnell wieder an Autor und Inhalt erinnere; selbst wenn ich das Buch nur flüchtig gelesen oder durchblättert habe.

Soweit die Hinweise zu meinem praktischen Alltag. Grenzwertig ist dieser durch Pandemie erzwungene Alltag, weil die wöchentliche Flucht vom Dorf in die Stadt, in ihre Buchgeschäfte und Cafés unmöglich und verboten ist, so dass nur Routinegang mit Ausweis und Gesichtsmaske in die Universitätsbibliothek bleibt. Das ist schon frustrierend; beinahe hätte ich „kastrierend“ geschrieben.

Eine Universitätsstadt voller Bücher ist ohne geöffnete Cafés und Bistros und ohne Kommunikation halbtot; auch die geschlossenen Museen (wie die menschenleeren Kirchen) verlieren ihre Attraktion. Doch zurück in mein Gehäus.

Gestern griff ich, um meine Wahrnehmung zu prüfen und die Fähigkeit wiederzuerkennen zu stärken, zu einem kleinen, gebundenen Buch des Kölner DuMont Bücherverlages aus dem Jahr 2010: Alexander Marguier: Das Lexikon der Gefahren. Marguier, westdeutscher Journalist, hat in diesem Buch Anekdoten zur Gefährdung von A wie Alkohol bis Z wie Zusatzstoffe in Lebensmitteln gesammelt und Gottfried Müller hat sie jeweils präzise illustriert.

Bevor ich anhand dieses in Leinen gebundenen Taschenbuches „für die Hosentasche“ die Frage beantworte, ob es „überholte“ Erzählungen in „veralteten“ Büchern gibt, muss ich klären, ob und was es bedeutet, im Gehäus zu sitzen und zu schreiben; in der Tradition von Hieronymus (in der Phantasie Dürers), von Luther (auf der Wartburg) oder Hans Blumenberg (in seiner Münsteraner Wohnung in literarischer Verarbeitung durch Sibylle Lewitscharoff). Wie beeinflusst der Raum des Erzählers, Übersetzers, des Aufschreibers die Erzählung und die Geschichte ihrer Überlieferung – auch ohne Engel oder Löwe?

Der Raumbegriff ist ein Konstruktion des menschlichen Bewusstseins. Räume prägen unsere alltäglich Wahrnehmung, wie auch unser Erzählen im Gespräch. Naturwissenschaftlich gesehen ist der Raumbegriff sekundär, also abgeleitet. Grundlegend ist heute nicht mehr der physikalische Raum (der sog. Klassischen Physik), primär ist der Feldbegriff. Durch seine

Differenzierung können verschiedene Räume (bis hin zum Schwarzen Loch) eindeutig begriffen und beschrieben werden.

Erfahrungswissenschaftlich (raumsoziologisch) ist der Raumbegriff sekundär, da er ohne Zeit nicht gedacht, nur in der Zeit (chronologisch) wahrgenommen und beschrieben werden kann. Erfahrungen werden also verstanden, indem sie sprachlich (in Sprachspielen) ausgedrückt/verfasst werden. Dies gilt in einem ursprünglichen Sinn: nur in einer sprachlichen Verfassung können sie verstanden und (natürlich) erzählt werden.

An der sprachlichen Verfassung von Erfahrung lässt sich ablesen, ob sie begriffen werden kann oder (als Utopie bei religiösen Sprachspielen) erzählt werden muss. Bestimmte Erfahrungen (z.B. Märchen) sind nicht an Ort und Zeit gebunden, auch und da sie in fiktiven Orten und zu fiktiven Zeiten spielen. Diese Erfahrungen können von der erzählten Zeit und den erzählten Orten gelöst werden; in diesem Sinn sind sie ort- und zeitlos, aber Weltbild-abhängig.

Ich nenne begreifbare Erfahrungen hinsichtlich ihrer Dimension „chronologisch“; erzählbare Erfahrungen „kairologisch“. Im (heutigen) anthropozentrischen Weltbild sind chronologische Erfahrungen begreifbar, in bestimmten Rahmen reproduzierbar und verbindlich mitteilbar. Kairologische Erfahrungen sind existenziell erfahrbar und nach einer Pause des Schweigens auf „aenigmatische Weise“ erzählbar (wie in einem Spiegel).

Um die Bedeutung von Sprachspielen aus dem theozentrischen Weltverständnis zu erkennen, müssen diese (überkommenen) Sprachspiele übersetzt werden. Dieser Prozess der Übersetzung schließt kritische Prüfung (auf Sinn oder Sinnlosigkeit) ein. Die mögliche Bedeutung überkommener Sprachspiele (z.B. in religiöser Sprache) kann im Gespräch in Form konkreter Utopie vermittelt werden.

Religiöse Sprachspiele sind rückgebunden an das theozentrische Weltbild. Diese Rückbindung zeigt sich in den zahlreichen Schöpfungtsmythen. Für das aufgeklärte Denken bleibt zu prüfen, ob in den tradierten Botschaften utopische Strukturen konkret erkennbar und erzählbar sind.

Mein (vorläufiges) Ergebnis der Prüfung und Übersetzung der jüdisch-christlichen Tradition und ihrer Sprachspiele ist die konkrete Utopie der messianischen Botschaft. Ihr kann unter den Bedingungen des anthropozentrischen Weltverständnisses vertraut werden und diese Botschaft kann als konkrete Utopie der Erlösung weiter erzählt werden. Auf andere Weise formuliert: Aufgeklärtes Denken und messianisches Denken sind dem Grunde nach kongruent.

Eine Konsequenz messianischen Denkens ist die Raum- und Zeitlosigkeit kairologischer Erfahrung, auch wenn ort- und zeitbedingt erzählt wird. Das bedeutet zugleich die Profanisierung von Raum und Zeit. Es gibt keine heiligen Orte und keine heiligen Zeiten. Arbeitszimmer und Studierstuben dienen der Konzentration menschlichen Bewusstseins; Kirchenräume und Museen dienen der Ruhe und Entspannung, aber auch der gemeinsamen Erinnerung und Danksagung, wie der bewussten Wahrnehmung künstlerisch geschaffener Artefakte.

Zu den Konzentrationsübungen des menschlichen Bewusstseins gehört der abschätzende und verantwortungsvolle Umgang mit den Risiken des Alltags und der Arbeit, im Sinne der Einsicht von Hannah Arendt, dass wir Menschen sterbliche Schöpfer sind. Hier unterstützt – auf launig-satirische Weise das oben genannte Lexikon der Gefahren.

Ich schlage unter dem Stichwort „Pandemien“ nach (Seite 163-168) und erfahre zunächst, dass der Begriff „Pandemie“ „mittlerweile zum Wortschatz der Globalisierung“ gehört. Ich gestehe, bis vor einem Jahr kannte ich dieses Wort nicht und begnügte mich, von „Epidemien“ zu sprechen. Ich lese weiter:

Die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland einer pandemischen Infektionskrankheit zu erliegen, ist heutzutage wegen der enormen medizinischen Fortschritte und aufgrund besserer Hygiene so gering wie nie zuvor. Noch zwischen den Jahren 1918 und 1920 fielen allein im Deutschen Reich schätzungsweise 300 000 Menschen der Spanischen Grippe zum Opfer, gegen die es keinen Impfstoff gab.“ (S. 167)

Dieses Buch erschien im Jahr 2010 auf dem Büchermarkt und die Aussage zur Pandemie ist 2021 überholt. Nun weiß ich nicht, ob Autor und Verlag eine korrigierte Neuauflage planen. Interessant ist die Fehleinschätzung der Risiken vor mehr als 10 Jahren. Zweifellos ist dieses Buch mit dieser Aussage veraltet. Bemerkenswert bleibt, wie wir mit Risikoeinschätzungen in gedruckten Büchern umgehen sollten. Bücherfreunde seien gewarnt.

Bemerkungen zur Schriftform meines Buches „Aufgeklärter Realismus“

In eigener Sache.

Nicht nur die Erstkorrektorin (und Erstleserin) meines Manuskriptes „Aufgeklärter Realismus“ Brigitte Schmitter-Wallenhorst (als Ehefrau), sondern auch die Lektorin des Verlages (als Zweitkorrektorin) sind über meinen individuellen und vielfachen Gebrauch der Zeichensetzung (bezüglich Semikolon, Klammer, Gedankenstrich) und die Länge meiner Sätze irritiert.

Diese Irritation, verbunden mit wiederkehrenden Bemerkungen, ist für mich nichts Neues. Dennoch sehe ich mich (fast und aktuell) gezwungen, mich zu rechtfertigen.

Ich antworte zunächst, meine Freundinnen und Freunde kennen das, mit allgemeinen, provozierenden Aussagen:

  • Auch Goethe benutzte eine eigenwillige Zeichensetzung;
  • Wer mäandernd denkt und nachdenkt, der muss auch mäandernd aufschreiben.

Diese zumutenden Aussagen bedürfen der Erläuterung, um Arroganz zu vermeiden und sprachlichen Hochmut abzuwehren. Natürlich ist ein Vergleich mit Goethe inakzeptabel und beendet jede weitere Argumentation. Auch mein situativ üblicher Nachsatz, Goethe habe weit vor Konrad Duden gelebt und geschrieben bzw. schreiben lassen, verschärft nur die Provokation: ich wolle doch wohl nicht Goethe gegen Duden ausspielen und die notwendige Normierung der Schriftsprache grundsätzlich in Frage stellen.

Bevor ich die Problemlage der Zeichensetzung in der heutigen Schriftsprache auf das Thema der Sprach- und Schreibanarchie erweitere oder auf die Kunst der mittelalterlichen Schriftgelehrten in ihren Klöstern, ganz ohne Satzzeichen und Zwischenräumen zwischen der Wörtern Texte lesen zu können, stelle ich nüchtern fest, dass in einer Demokratie (zumindest) das Lesen und Verstehen von Schrift ein Grundrecht ist, das von allen Menschen erlernt werden kann und muss.

Zum Erlernen einer Sprache und (dazugehörigen) Schreibe gehört – um des Verstehens willen – eine Regelhaftigkeit, die das Verstehen sichert – und zwar durch und von allen Menschen in einer Gesellschaft, in einem Land, in der bewohnten Welt.

Kehren wir zur ausgelösten Irritation durch meine Zeichensetzung zurück:

Selbst die heute gültige Vereinbarung zur Zeichensetzung, die der Duden abdruckt, gibt für die Zeichensetzung einen gewissen Spielraum, soweit die (relative) Verständlichkeit oder – bei bestimmten Texten – Eindeutigkeit nicht gefährdet ist.

Schon früher – seit ich philosophische Texte lese und die Resultate meiner Beobachtung und meines Nachdenkens aufschreibe – habe ich meinen persönlichen, erlernten Denk- , Sprach- und Schreibstil mit dem Mäandern eines Baches oder Flusses verglichen. Ich gebe zu, schon die ungewöhnliche Bildsprache reizt mich bis heute. Und ich erweitere meinen Bildvergleich: Auch schlängerndes, ausuferndes Wasser eines Flusses wie z.B. des Rheins, den ich seit Kindestagen (als Niederrheiner) kenne, erreicht (irgendwann) das Meer. Abstrakt formuliert: Auch auf Umwegen kann ich das gesteckte Ziel erreichen; zumindest solange ich das Ziel nicht aus dem Sinn verliere und mich nicht an der folgenden Ideologie fest beiße: Der Weg sei schon das Ziel.

Probleme lösen geschieht nicht auf einem schmalen und geraden Weg, der vorgegeben ist, sondern in einer unübersichtlichen und vielfältigen Landschaft. In dieser Landschaft dienen Wege zur Orientierung, schließen auch Irrwege, Sackgassen und Trampelpfade ein. Es bedarf der Spürnase, aber auch der Vorbereitung durch Landkarte und Kompass sowie gesicherter Vorinformationen, um das Ziel nicht zu verfehlen oder zu verlieren.

Nun will ich im Rahmen meiner Rechtfertigung des speziellen Gebrauchs der Zeichensetzung nicht unterstellen, dass der Umweg die einzig effektive und produktive Strategie ist, Probleme zu lösen. Durch die mäandernde Arbeitsweise kann auch Komplexität vorgetäuscht werden, während einfache Lösungswege Zeit und Energie sparen und dennoch erfolgreich sind. Auch kann meine Ungeduld oder die Erwartung schneller Lösungen (nach den bekannten und eingeübten Schemata) mich dazu verführen, auf lieb gewonnene Gewohnheiten zurück zu greifen.

Zu meiner Verteidigung und zur Klärung erinnere ich an die mittelalterliche „questio disputata“ mit ihrem Wiederholungszwang, um Missverständnisse möglichst zu vermeiden und eine sachgemäße und sinnvolle Argumentation, die alle verstehen, zu ermöglichen. Umständliches Argumentieren – um des Verstehens willen – kann nützlicher sein als subjektives Für-wahr-halten und das Beharren auf der eigenen Meinung.

Verzichtet habe ich in diesen Bemerkungen auf meine Unart, durch kursive oder fette Schreibweise die Bedeutung bestimmter Wörter oder Sätze hervorzuheben (so auch in diesem Text). Ich sehe ein, das Schriftbild wird durch fett gedruckte oder kursiv gesetzte Wörter oder Sätze verschandelt. Dennoch bleibt meine Einsicht, dass Wörter bzw. Sätze nicht gleich bedeutungsvoll sind; und muss dieser Tatbestand nicht gekennzeichnet werden?

In diesem Kontext erinnere ich an die mittelalterlichen Schriftgelehrten in den Klöstern, die in der Lage waren, bedeutende Wörter oder Namen optisch hervorzuheben und alltägliche Phrasen abzukürzen. Aber ich muss dagegen halten: für die gemeine Frau und den gemeinen Mann wurde das Lesen und Verstehen zur Qual und sie waren auf das Hörensagen angewiesen; das ist einer demokratischen Gesellschaft unwürdig.

Herbstzeitlose (2)

Warum Karl R. Poppers Denken zu kurz greift.

Der Herbst ist da; das Efeu am Nachbarschuppen färbt sich wein- bis blutrot. Die Nachttemperatur sinkt nahe an den Gefrierpunkt. Ich benötige eine zusätzliche Decke, denn die Sonne wärmt mich nur noch, wenn sie tagsüber scheint.

Ich sitze am Schreibtisch und denke über die Spielarten des Realismus nach: aufgeregt – unaufgeregt, kritisch – unkritisch; aufgeklärt – naiv. Sind die verschiedenen Sprachspiele eine undurchdringliche Wand oder simulieren sie eine Tür oder versteckt sich in ihnen ein verschlossenes Tor zu einer anderen Wirklichkeit?

Und ich greife auf den (veralteten) Karl R. Popper zurück: wir nähern uns der Wahrheit durch die Methode der Falsifikation – endlos – endlicher Weg bis zum Tod. Für Popper ist „alles Leben Problemlösen“ (1991). Wäre dann das Ende des Lebens, der Tod, die Erlösung? Popper erkennt nicht die Dynamik des Vorläufigen. Differenz und Bezug zwischen Chronos und Kairos sind ihm fremd.

Zwar ist alles Vorläufige endlich und alles Endliche vorläufig, aber im endlichen Augenblick scheint die Utopie auf: zeitlose Ewigkeit – ein anderer Ausdruck für Erlösung. Die Herbstzeitlose erinnert an diese dynamische Erfahrung in der Vergänglichkeit des Augenblicks und verweist, ungreifbar und unbegreifbar, auf die radikale Menschwerdung des Göttlichen. Die messianische Vorstellung der Kenosis (im Sprachspiel der Entäußerung bis in die Hinrichtung und der Erhöhung „am Ende der Zeit“, also jenseits aller chronologischen Fixierung) hat die Struktur der konkreten Utopie, kann – in unserem Weltverständnis – als Erlösung jenseits aller Problemlösungen beschrieben, nicht begriffen werden.