Universalismus statt Tribalismus

Susan Neiman, amerikanische Philosophin und seit 2000 Direktorin des Einstein Forums in Potsdam hat zum 50. Jahrestag der Grundwertekommission der SPD einen Vortrag gehalten, der in verkürzter Form in der Frankfurter Rundschau (FR Nr. 281 vom 2./3. Dezember 2023) veröffentlicht wurde: „Wer die Hoffnung auf Fortschritt aufgibt, ist nicht mehr links“, in dem sie im Sinne der Aufklärung und der jüdischen Tradition in Deutschland den Tribalismus, und damit alle Formen des Rassismus verurteilt. Sie erinnert in diesem Kontext an Moses Mendelsohn, Heinrich Heine, Karl Marx, Eduard Bernstein, Albert Einstein, Walter Benjamin und Hannah Arendt.

Ich stimme der grundsätzlichen Kritik an jeder Form von Tribalismus (inklusive Antisemitismus und Nationalismus) zu und verweise zusätzlich auf Hermann Cohen (aus dem Neukantianismus kommend) und Franz Rosenzweig (Stern der Erlösung) und das aus den Propheten-Erzählungen der jüdisch-christlichen Bibel stammende messianische Denken.

Ich habe in meinen Überlegungen zur Anthropologie der Aufklärung (siehe: Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän, Münster 2023) versucht, das Programm der Aufklärung mit dem Messianischen Denken der Erlösung des Judentums wie des Christentums zu verknüpfen, um so „Stammesdenken“ und Nationalismus wie Rassismus, als auch „Volkstümelei“ zu überwinden.

Erlösung (als konkrete Utopie) weltweit zu denken und zu erhoffen und das religiös geprägte Stammesdenken zu überwinden, verbindet aufgeklärte Christen und Juden mit allen aufgeklärten Menschen, denn der Universalismus hat eine entscheidende Wurzel in den prophetischen Schriften der jüdischen Bibel.

Das messianische Denken widerspricht nicht den Exodus-Erzählungen des „Volkes Gottes“, sondern diese sind der konkrete (geschichtliche) Ausgangspunkt der messianischen Erwartungen. Auch wenn bis heute die Differenz zwischen dem erschienenen und dem zu erwartenden Messias bei Christen und Juden erhalten bleibt, verbindet beide das messianische Denken und Hoffen (wenn auch in unterschiedlichen Vorstellungen) als Utopie der Erlösung für die Menschheit und die Welt.

Schon zur Zeit des Jesus aus Nazaret existierten jüdische Gemeinden in der weltweiten Diaspora, in Distanz zur Tempelfrömmigkeit in Jerusalem.Schon weit vor der „Zeitenwende“ (im christlichen Verständnis) leben jüdische Gemeinden „zerstreut“ im Römischen Reich und auch die Dynamik des Christentums entwickelt sich in Kleinasien; verstärkt durch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch römische Truppen um 70 n.Chr. Die Botschaft der Erlösung im Sinne der Messias-Erwartung ist universal und nicht mehr stammes- oder tempel-gebunden.

Schon im Hebräerbrief – vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels verfasst – wird argumentiert, dass die Hinrichtung des Messias am Kreuz und seine erlösende Wirkung („Auferstehung“) außerhalb des Tempelbezirkes stattgefunden hat.

Das messianische Denken bei Diaspora-Juden wie bei Christen ist nicht mehr tempelgebunden bzw. kultgebunden (Beschneidung). Paulus aus Tarsus in Kleinasien ist ein typischer jüdischer Schriftgelehrter des Diaspora-Judentums, der in griechischer Sprache argumentiert und nach dem Scheitern der Reform der jüdischen Gemeinden zum „Weltapostel“ des Christentums wird.

Seine Erlösungsbotschaft hat sich radikal von kultischen Stammesvorstellungen gelöst. Die jüdisch-christliche Ablehnung des Tribalismus erlaubt und ermöglicht aufgeklärten Menschen, auch im 21. Jahrhundert Jude oder Christ zu sein. Zwischen der Bedeutung von „Volk“. „Raum“ und „Heimat“ muss unterschieden werden.

Nationalistische, rassistische Positionen, religiös begründet, widersprechen dem messianischen Denken der Bibel grundsätzlich. Daher müssen auch die jüdische „Orthodoxie“ wie christlich-dogmatische Kirchenideologien kritisch hinterfragt werden.

Was ist der aufgeklärten Christen Heimat?

Was ist die „Heimat“ der Menschen, die sich auf unterschiedliche Weise zum Judentum bekennen? Ich spreche sowohl von den Reformjuden als auch von den Orthodoxen, von den Diasporajuden bis zu den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern des heutigen Staates Israel.

Wenn ich Michael Wolffsohn in seinem Buch „eine andere jüdische Weltgeschichte“ (Freiburg 2022) recht verstehe, ist die Antwort: Heimat sind für die jeweils Betroffenen alle Gegenden der bewohnten Erde, in denen jüdische Gemeinden als religiöse Gemeinschaften – seit langem – existieren. Verstärkt wird diese Antwort durch die Realität und die Folgen des Holocaust.

Jüdischen Menschen, die religiös praktizieren (wenn auch in unterschiedlicher Strenge) oder aus orthodoxen Familien stammen, und in verschiedenen Gegenden Europas lebten, wurden durch die deutsche Nazi-Herrschaft systematisch ausgerottet, auch wenn dieses Verbrechen, dieser „liquidierende Antisemitismus“ (so Wolffsohn) nicht hundertprozentig „erfolgreich“ war, trotz über 6 Millionnen ermorderter Menschen. So gibt es heute (wieder) deutsche Juden, also Menschen, deren Heimat (in) Deutschland ist.

Aber da es in Deutschland auch nach der Nazi-Diktatur, also nach 1945 weiterhin mentalen Antisemitismus gab und in immer offensiverer und kriminellerer Weise gibt, verstärkt durch Einwanderung und Fluchtbewegung, verstärken sich auch die Sorgen und Ängste der deutschen jüdischen Bevölkerung. Diskriminierung und Angriffe auf Leib, Leben und Synagogen nehmen rapide zu.

In dieser menschenunwürdigen Situation gab und gibt es (noch) einen sicheren Fluchtpunkt: der im letzten Jahrhundert gebildete Staat Israel, der nicht nur für die orthodoxen Juden das „gelobte Land“ der Bibel ist.

Aber auch diese Sicherheit war und ist gefährdet, weil die Bildung eines zweiten Staates verhindert wurde – und der (mein) Traum eines gemeinsamen Staates, in dem alle Menschen friedlich und gemeinsam leben können (Juden, Muslime, Christen, Beduinenstämme und Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft (mehr) angehören) unerfüllt bleibt. Meine Vorstellung und mein Wunsch einer gemeinsamen Heimat wird konterkariert durch Hass, Terror und Krieg – Formen der Vernichtung. Das Bewusstsein vieler Menschen bleibt geprägt durch Vertreibung und Vernichtung.

Programm und Prozess der Aufklärung leben von dem Ziel, dass alle Menschen am Ende des Anthropozän eine Heimat haben, in der sie gemeinsam, frei, menschenwürdig, gesund und ohne Hunger und Not leben können.

Zur Zeit leben erst unter 30 % der Weltbevölkerung in (demokratischen) Staaten, die zumindest das Ziel des Prozesses der Aufklärung anerkannt haben und dafür arbeiten, dieses Ziel weltweit zu realisieren.

Angesichts dieser Analyse der Realität stelle ich die präzise Frage, was der Christen Heimat sei. Die traditionelle Antwort, Christen hätten auf der Erde keine Heimat, ihre Heimat sei der „Himmel“ – formuliert in einem religiösen Sprachspiel – ist am Ende des Anthropozän nicht nur naiv, sondern un-sinnig; übrigens genau so wie die Vorstellung, ein „Paradies auf Erden“ schaffen zu können.

Aufgeklärte Christen (Messias-Überzeugte) leben in der Tradition des messianisch-jüdischen Täufertums (während der Zeitenwende). Sie leben in der Überzeugung, dass Jesus aus Nazaret der Messias ist. Diese Überzeugung befreit sie von allem Kult, allem Aberglauben und aller Verzweiflung angesichts der Endlichkeit ihres individuellen Lebens.

Diese konkrete Utopie der Erlösung ist erfahr-, erzähl- und weitererzählbar und befähigt den Christen zu erkennen, „was gut und vollkommen ist“ (so Paulus aus Tarsus in seinem Brief an die Römer). Ich übersetze diese Erkenntnis: sie befreit den Menschen, die Probleme dieser Welt zu lösen, wenn auch in der Dynamik des Vorläufigen, in der konkreten Utopie der Erlösung.

Daher stimme ich der Aussage von Hannah Arendt (1958) zu:

„Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden“. Arendts Aussage hat zwei Teile: einen Indikativ (= der homo sapiens ist ein sterblicher Schöpfer, kein Geschöpf) und einen daraus folgenden Imperativ (= die Welt des homo sapiens muss dauernd erneuert werden).

Ich übertrage diese Erkenntnis in meine Argumentation: die Menschen können die Probleme ihres endlichen Lebens auf der Erde selbstbewusst und selbstverantwortlich lösen. Aus der Endlichkeit ihres individuellen Lebens resultiert die Vorläufigkeit aller Problemlösungen (provisorisch und antizipativ).

Die Konsequenz dieser Vorläufigkeit besteht darin, alle Problemlösungen zu überprüfen und gegebenenfalls zu erneuern; im Sinne von Menschenwürde, Gerechtigkeit und Empathie.

Angesichts dieser Überlegung wiederhole ich meine Frage nach der Heimat der Christen und antworte: die von Menschen bewohnte Erde und ihre Natur sind die Heimat. Aus der Zusage der Erlösung ergibt sich der universale Auftrag, die befreiende Verpflichtung, die „Welt im Sein zu erhalten“(so H. Arendt).

Trotz der unlösbaren Differenz in Bezug auf die Messias-Erwartung zwischen Juden und Christen, sind die Aussagen der biblischen Propheten die gemeinsame Wurzel: Heimat ist für Christen wie Juden die bewohnbare Erde unter der Zusage der Erlösung der Welt – für alle Menschen.

Was ist der menschliche Geist (mind)? – Was ist Aufklärung (enlightenment)?

Was ist der menschliche Geist (mind)?

Was ist Aufklärung (enlightenment)?

Auf diese Fragen antworte ich zum argumentativen Gebrauch als Philosoph: Gemeint ist die Fähigkeit des homo sapiens, durch sein Bewusstsein zu denken und sich zu denken (Entwicklung des Selbstbewusstseins).

Am Anfang der Bewusstseinsbildung des homo sapiens steht die Gesprächsfähigkeit, die Kommunikation. Die Möglichkeit des Gespräches schafft Verständigung. Die Verständigung in der Menschengruppe und die Entwicklung des individuellen Bewusstseins sind seit Beginn des Lernens des einzelnen Lebewesens, also seit seiner Entstehung, in einer dauernden Wechselwirkung.

Die Möglichkeiten und Leistungen des Bewusstseins bezüglich seiner Inhalte lassen sich als gemeinsame Schnittmenge von Natur und Norm (der Kulturbildung) beschreiben. Die Fähigkeit zu denken ist von Anfang an ein Prozess des Verstehens und der Verständigung. Daher entwickelt sich die Bildung des Bewusstseins in der Form des Gespräches; sei es zwischen Mutter und Kind (schon vor der Geburt) oder in der Wahrnehmung der Umwelt.

Das Bewusstsein des Menschen hat drei zu unterscheidende Denkmöglichkeiten; diese drei Möglichkeiten (Potenzen) sind (zunächst) an der Entwicklung der menschlichen Sprache abzulesen:

  1. Sprachspiele, die logisch aufgebaut und rekonstruierbar sind; Grundlage ist das begreifende Denken.
  2. Sprachspiele, die erzählend/poetisch aufgebaut sind und zwischenmenschliche Erfahrungen zum Ausdruck bringen; ich spreche vom poetischen Denken.
  3. Sprachspiele religiöser Art, die ein theozentrisches Weltbild zur Voraussetzung haben und – gemäß des Projektes der Aufklärung – der Übersetzung auf der Grundlage heutiger anthropozentrischer Weltdeutung bedürfen, um ihre (existenzielle) Bedeutung in aenigmatischer Form zu erkennen.

Entweder sind religiöse Aussagen (auf theozentrischer Basis) Projektionen und/oder steckt in ihnen eine (verborgene) Botschaft in Form einer Utopie. Ich spreche in diesem Fall vom utopischen Denken.

Religiöse Sprachspiele bedürfen der Übersetzung, da sie mehrdeutig oder sinn-los sind. Sinnlos ist ein Sprachspiel, wenn es nicht kommunikativ ist.

Das Bewusstsein projiziert seine Raumerfahrung in eine Mehrzahl von Räumen (z.B. Erde, Himmel, Unterwelt). Es projiziert seine Zeiterfahrung (im chronologischen Sinn) in ein verursachtes oder erwartetes Ende (im Sinne der Apokalypse).

Demgegenüber verweist das utopische Denken – und die entsprechenden Sprachspiele – auf menschliche Erfahrung ausserhalb von Zeit und Raum, aber innerhalb der Denkmöglichkeiten des menschlichen Bewusstseins. Ich spreche daher von kairologischer statt chronologischer Erfahrung. Wenn von „Augenblick“ oder „Ewigkeit“ gesprochen wird, wenn Oxymora benutzt werden (wie z.B „Menschwerdung Gottes“), kann die Utopie der Erlösung gemeint sein. Da die Menschen sterblich sind, kann  „Erlösung“ nur in utopischer Weise gedacht und gesprochen werden (jenseits von Raum und Zeit).

Wie können die Potenzen des sterblichen Bewusstseins einheitlich – ohne Hilfe metaphysischer Konstruktionen – zusammengefasst werden?

Die einheitliche Aktivität des Bewusstseins – bei unterschiedlichen Denkmöglichkeiten – besteht darin, Probleme zu lösen (erfolgreich und wiederholbar). Diese Lösungen sind vorläufig (im doppelten Sinn: provisorisch und antizipativ), da die Schöpferkraft des homo sapiens begrenzt, sterblich ist.

Daher spricht Hannah Arendt davon, dass die Menschen sterbliche Schöpfer sind (1958/2000) (– und keine Geschöpfe).

Erlösung ist die Hoffnung allen Problemlösens; diese Konsequenz kann als (konkrete) Utopie gedacht und bekannt werden (im Sinne von bekennen).

 

p.s.

Problemlösungen (im weiten Sinn) können erinnert, gesammelt und „ausgelagert“ werden (Schrift,Papyrus, Buch, Bibliothek, Internet – AI); das ändert nichts an ihrer Vorläufigkeit und der Verantwortung (der homo sapiens als homo praestans).

Die jüdisch/christliche Bibel  kennt zwei grundlegende Erzählungen: die messianische Perspektive der Erwartung der Erlösung (in der konkreten Utopie des Erlösers/Messias) und die rückblickende Schöpfungsperspektive (Schöpfungsmythen/Paradiesvorstellungen). Für die jüdische Täuferbewegung in der Konsequenz der Prophetenreden ist das messianische Denken (die Erwartung des Messias) primär; der Rückblick auf die Schöpfung der Welt und die Erschaffung des Menschen sind sekundär.

Der Rückblick auf den Anfang setzt ein theozentrisches Weltverständnis voraus; Gott als Schöpfer, der Mensch als Geschöpf. Dieses Verständnis drückt sich in religiösen Sprachspielen aus (religo = Rückbezug).

Die Messias-Erzählungen sind zukunftsorientiert (Utopie der Erlösung; konkret: Messias-Utopie). Das messianische Denken kann daher auch in das anthropozentrische Weltbild integriert und übersetzt werden. In diesem Weltverständnis wird „Gott“ zu einer aufzuhebenden „Arbeitshypothese“ (so Dietrich Bonhoeffer); dennoch kann Erlösung (als Utopie) gedacht werden.

Diese Überlegung erlaubt mir einerseits beim Lösen von Problemen einen „methodischen Atheismus“ zu unterstellen, andererseits „Erlösung“ als konkrete Utopie zu denken und zu bekennen. Daher folgere ich: ein aufgeklärter Mensch (am Ende des Anthropozän) kann ein methodischer Atheist und zugleich ein aufgeklärter Christ sein.

Dieses Resultat ergibt sich auch, wenn ich das Programm der Aufklärung konsequent zu Ende denke und nicht mit Immanuel Kant (Was ist Aufklärung? 1783) beginne, sondern mit Erasmus von Rotterdam und seiner Korrektur des Prologs des Johannes-Evangeliums in der Vulgata-Übersetzung des Hieronymus: logos = sermo, nicht verbum; im Anfang war das Gespräch, nicht das Wort (vor 1518). Übrigens: Martin Luther kannte diesen Übersetzungsvorschlag von Erasmus in einigen seiner lateinischen Varianten, hat ihn aber bei seiner Übersetzung ins Deutsche nicht berücksichtigt.

Ich nenne meine vier Grundaussagen des universalen Programms der Aufklärung:

  1. Im Anfang war das Gespräch, die Kommunikation, nicht das isolierte, dogmatische Wort. (Erasmus von Rotterdam)
  2. Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! (Mündigkeit/Autonomie/Verantwortlichkeit; der homo sapiens als homo praestans) (Immanuel Kant)
  3. Die Menschen sind sterbliche Schöpfer (nicht Geschöpfe); deswegen sind sie für den Erhalt der Welt und die Lebensbedingungen der Menschen verantwortlich. (Hannah Arendt)
  4. Die Menschen können und müssen nicht nur Probleme lösen, sie können Erlösung denken (als Umkehr und Befreiung von Zwang, Kult und Tod – in Form der konkreten Utopie). (Paulus aus Tarsus)

Missverhältnisse in der Einschätzung von Artifizieller Intelligenz (AI/KI)

In der aktuellen Medienlandschaft wird die neue Dimension der Herstellung und des Gebrauchs Künstlicher Intelligenz (KI/AI) als Kampf und Gefahr problematisiert. Ich verweise auf zwei Spiegel-Artikel: „Wie der Hype um KI einen globalen Machtkampf ausgelöst hat“ (Der Spiegel 10/2023) und „Diese sechs Dinge braucht man, um eine KI zu bauen“ (ebd. www.spiegel.de/netzwelt). Die Autoren sprechen in diesen Artikeln vom „Weltgeist aus der Maschine“ und ich zitiere: „Doch KI ist alles andere als Spielerei. Es geht um Macht und Milliarden. Ein globaler Kampf ist entbrannt.“

Es geht also (auch) um die Durchsetzung ökonomischer Interessen bei der Herstellung und beim Verkauf „handlicher“ Instrumente zum präzisen Erkennen und zur Kontrolle menschlichen Verhaltens. Wiedererkennungs-, Täuschungs-, Simulations- und Imitationsverfahren sind heute so präzise und zeitgleich, dass der einzelne Mensch – wie auch Institutionen – nicht mehr unterscheiden können, ob Bewusstseinsleistungen oder Computerleistungen vorliegen. Totale Kontrolle wie kaum überprüfbarer Missbrauch – bei hohem Energieverbrauch und Einsatz krimineller Energie – sind gegeben.

Das ist unstrittig. Dennoch frage ich mich, wieso ein als menschlicher Kopf modellierter Roboter, der seine Umwelt weit präziser wahrmimmt, als das die menschlichen Sinnesorgane je können, und der mit seiner Umwelt kommuniziert, solche Erregung und solchen Schrecken auslöst?

Ich vermute, weil wir Menschen vor der Wirkung eines Kleincomputers in der Gestalt eines menschlichen Kopfes (inklusive Gehirn) erschrecken. Diese Wirkung ist verständlich und lächerlich zugleich; verständlich, weil wir einen „homunculus“ erblicken – und die Wirkungsgeschichte des künstlich konstruierten Menschen wie auch des gestorbenen „Wiedergängers“ ist eine alte Geschichte, eine „Gruselgeschichte“; diese Wirkung ist zugleich lächerlich, weil ein Roboter ein auf menschliches Aussehen und Verhalten zugeschnittener Automat ist, der auf Basis wissenschatlicher Forschung und Erkenntnis bestimmte Möglichkeiten des menschlichen Bewusstseins – seiner Sinnesorgane und seiner Fähigkeit zu Sprache und Kommunikation – übertrifft. Über das Verhältnis von Automat (als intelligenter Maschine) und menschlichen Bewusstsein ist Endgültiges nicht ausgesagt, außer, dass einerseits Automaten bestimmte Möglichkeiten des Menschen (sein Erinnerungsvermögen, sein begreifendes und reprouzierbares Erkennen und Wissen) um ein Vielfaches präziser und – bei ausreichender Energiezufuhr – schneller kombinieren und reproduzieren können;und dass andererseits – unter den Bedingungen der KI im Anthropozän – der homo sapiens ein homo praestans ist; anders formuliert: am Ende des Anthropozän sind die Menschen für ihr Denken und Handeln allein verantwortlich. Dies schließt nicht aus, dass sie selbstverschuldet unmündig bleiben und schließt ein, dass sie. ihre Mündigkeit, ihre Verantwortung missbrauchen; also verantwortungslos, verbrecherisch denken und handeln.

Ich unterstelle dass die mediale Diskussion über künstliche Intelligenz anhand von Robotern im Sinne von homunculi eine ablenkende, auch Angst (oder Zuneigung) auslösende, wenn auch gefährliche Spielerei ist. Sie lenkt von den entscheidenden Leistungen wie Gefahren heutiger Problem-Lösungs-Automaten ab.

Heute, am Ende des Anthropozän, ist es möglich und vielfach realisiert, unterschiedliche Produkte von der Planung bis zum Endprodukt „fehlerfrei und automatisch“ herzustellen. Ich nenne als Beispiele den Backautomaten, den PKW oder Waffen aller Art. Die automatisierte Herstellung von Produkten aller Art stellt eine neue Form der industriellen Produktionsweise dar, die ohne den Gebrauch der Künstlichen Intelligenz nicht möglich wäre. Diese Produktionsweise übertrifft in Qualität, Fehlerkontrolle und Quantität alle bisherigen handwerklichen Arbeitsweisen. Sie stellt eine (in meinem Sprachgebrauch) gelungene „Auslagerung“ der Möglichkeiten (Potenzen) des menschlichen Bewusstseins dar.

Weiterhin stellt die Auslagerung der Erkenntnis- und Erinnerungsfähigkeit des menschlichen Bewusstseins einen entscheidenden Maßstab für den wissenschaftlichen Fortschritt der Menschheit dar. Dieser geschichtliche Prozess – nicht zu verwechseln mit der Naturgeschichte des homo sapiens – beginnt mit der Kommunikation (Sprache) und der Sicherung des Wissens durch das Buch und endet mit den Möglichkeiten des Rückgriffs und der Verarbeitung in weltweiten Informationssystemen. Der heutige wissenschaftliche Fortschritt ist ohne die Möglichkeiten der KI nicht mehr denkbar und praktisch umsetzbar (research & development). Die Menschheit hat gelernt – wenn auch in unterschiedlichem Maße in entstandenen wie vergangenen Gesellschaftsformationen und Produktionsweisen –, die Summe des erkannten Wissens zu reproduzieren und in Problemlösungen umzusetzen.

Diese Entwicklung entmachtet den Menschen nicht, wenn er seine Verantwortung und Kontrolle sachgemäß umsetzt. Das Problem der gelingenden Machtkontrolle – beim erfolgreichen Lösen von Problemen – ist bis heute nur unzureichend gelöst. Beispielhaft nenne ich, dass nur 30% der derzeitigen Weltbevölkerung in Demokratien leben, also zumindest durch freie Wahlen politische Machtkontrolle ausüben können.

Der homo sapiens im Anthropozän ist zum homo praestans geworden. Für mich ist diese Aussage eine notwendige Konsequenz aus dem in Europa im 18. Jahrhundert begonnenen Prozess der Aufklärung, der seine Wurzeln schon in der Renaissance und noch früher im jüdisch-christlichen Messianismus hat.

Der Prozess der Aufklärung ist – so mein heutiger Befund –, bedingt durch so unterschiedliche Bewegungen wie die Romantik, den Naturalismus und den „postmodernen“ Konstruktivismus abgebrochen worden. Hinzu kamen antiaufklärerische, dogmatische Positionen des römischen Katholizismus. Mein Vorschlag ist, unter den Bedingungen der anthropozentrischen Weltauffassung (im Sinne der Hannah Arendt, dass die Menschen die „sterblichen Schöpfer ihrer Umwelt“ sind), ausgehend von einer aufgeklärten, realistischen Wissenschaftstheorie, eine verbindliche, universale Ethik zu entwickeln, deren Grundkategorien Mündigkeit, Menschenwürde und Empathie sind.

Auf dieser kategorialen Grundlage können und müssen die Menschen für ihr Denken und Handeln „einstehen“ (homo praestans). Ihre, unsere Verantwortung ist universal, aber bleibt an ihre Natur als sterbliche Lebewesen auf dem Planeten Erde rückgebunden. Aus dieser Einsicht folgert Hannah Arendt, dass die Welt „im Sein gehalten“ werden muss; daher muss die Welt kontinuierlich „eingerenkt“ werden. Das ist keine apokalyptische Endzeitprognose, sondern eine realistische Verpflichtung. Die Menschen stehen vor der (grundsätzlichen, da kategorialen) Aufgabe, sich vor Verantwortungslosigkeit und Verbrechen gegen Mitmenschen und Umwelt zu schützen und eine mögliche Selbstzerstörung zu verhindern (denn eine „atomare“ oder „biologische“ Vernichtung der Menschheit ist möglich).

Ich kehre zu meiner Anfangsüberlegung zurück: angesichts des „radikalen Universalismus“ als Konsequenz eines weltweiten Aufklärungsprozesses (ich benutze einen Begriff von Omri Boehm aus seinem gleichnamigen Buch, Berlin 2022/Original auf Englisch) sind die Ängste oder die Bewunderung vor dem Homunkulus-Roboter eine lächerliche Spielerei, durch die die Notwendigkeit der Kontrolle der heutigen Computer-Systeme überdeckt, überspielt wird.

Was die Intelligenz eines Roboters bestenfalls und unstrittig dokumentiert, ist, dass die Wahrnehmung des menschlichen Bewusstseins (durch seine Sinnesorgane) und seine Steuerungsfunktion künstlich optimierbar werden. Aber die Frage, das Problem der Verantwortung wie auch die Umsetzung der Kreativität (der schöpferischen Kräfte) für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde bleiben erhalten. Diese universale Verpflichtung spiegelt sich in der zeit- und ortlos erfahrbaren Utopie der Erlösung.

Von der Notwendigkeit doppelten Naturschutzes und der Kritik an missverständlichen Katastrophenszenarien

Konsequenzen aus dem Gastkommentar in der nzz.ch vom 1. Januar 2022: Apocalypse now? Die Menschheit ist gross, doch das Klima grösser.

These: Der Naturschutz hat eine doppelte Aufgabe: Die Natur, unsere Umwelt, vor ihrer Ausbeutung und Zerstörung zu schützen; aber auch: die Menschheit vor den Naturgewalten zu schützen.

Diese doppelte Aufgabe verlangt eine differenzierte Balance im menschlichen Verhalten; das Bewusstsein der Menschen im Anthropozän ist notwendigerweise das eines, „sterblichen Schöpfertums“; denn „um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden“. (Hannah Arendt, 1958)

Die heutigen Katastrophenszenarien lassen eine klare Unterscheidung zwischen „Naturgeschichte“ und „Menschengeschichte“ vermissen, bzw. lamentieren mit unsachgemäßen Katastrophenszenarien. Diese Verwirrung beruht auch auf der Verwechslung von kosmischer Naturentwicklung, Evolution auf dem Planeten Erde und den Möglichkeiten bzw. Verfehlungen menschlicher Geschichte. Ich spreche in diesem Zusammenhang von den widersprüchlichen Potenzen der Problemlösung des menschlichen Bewusstseins.

Wir Menschen am Ende des Anthropozäns beherrschen nicht die sog. „Naturgeschichte“, auch wenn uns unser Bewusstsein ermöglicht, sowohl die kosmischen Abläufe der Eiszeiten auf der Erde sowie die Evolution des Lebens auf der Erde zunehmend zu erkennen. Als Naturwesen sind die Menschen in diese Naturprozesse einbezogen, ohne sie entscheidend beeinflussen zu können. Auch wird mit Recht gesagt, dass die „heutige Krisenrhetorik verkennt, dass das Menschsein seit je krisenhaft ist“.

Wir Menschen als Naturwesen sind daher in doppelter Weise sterblich: sowohl unsere individuelle Lebenszeit ist begrenzt; wie alles Leben auf der Erde, wenn auch in unterschiedlichen Zeitdimensionen (man vergl. die mögliche Lebensdauer eines Bakteriums mit der eines Säugetieres). Aber auch die Lebensbedingungen des homo sapiens – als Gattung – sind zeitlich begrenzt, da an die „Naturzustände“ des Planeten Erde in unserem Sonnensystem unwiderruflich gebunden. Eine Flucht des Menschen vom Planeten Erde als Überlebensstrategie der Gattung Mensch ist zwar phantasierbar (und ansatzweise individuell konstruierbar), aber unter den bestehenden Problemlösungsmöglichkeiten nicht realistisch.

Realistisch – im Sinne des Aufgeklärten Realismus – ist sowohl die menschlich verursachte Selbstzerstörung der bewohnbaren Erde (durch bewusste Freisetzung von welterschütternden Kräften wie der Atomenergie), aber auch die „schleichende“ bewusst zu machende Verschlechterung der Lebensbedingungen (wie z.B. durch Luftverschmutzung, Erderwärmung, unkontrolliertes Bevölkerungswachstum – ohne ausreichende Verbesserung der Lebensbedingungen; aber auch durch – durch nichts zu rechtfertigende – Kriege und Hungersituationen; also durch Ausbeutung und Verelendung.

Diese (sicher unzureichende) Zustandsbeschreibung der menschlichen Geschichte – ihrem Mangel und ihren Möglichkeiten an menschengerechten Problemlösungen – verlangt darüber hinaus für eine humane Überlebensstrategie die Organisation und Sicherung einer menschenwürdigen Gesellschaftsstruktur – und einen doppelten Naturschutz: einen nachhaltigen Schutz vor erkennbaren Naturgewalten (wie z.B. den Dammbau in den Niederlanden) und den Schutz der Natur vor menschlicher Zerstörung (z.B. der Ökosysteme) durch Waldvernichtung oder durch kurzfristige „Verbesserung“ der menschlichen Lebensgrundlagen, deren Nachteile langfristig überwiegen.

Menschen sind als bewusste Lebewesen in der Lage, die Probleme im Sinne des doppelten Naturschutzes und auf der Basis, die Menschenwürde universal durchzusetzen, zu lösen, auch wenn alle Problemlösung vorläufig bleibt und immer neuer Anstrengung bedarf. In dieser Perspektive sind die Menschen für ihre Zukunft am Ende des Anthropozäns verantwortlich. Daher spreche ich (in Form eines kategorischen Imperativs) davon, dass der homo sapiens nur überleben kann, wenn er ein homo praestans wird, ein Mensch, der für andere und sich einsteht.

Zum Neuen Jahr und zu Mariä Lichtmess 2020: Erleuchtung bedarf der Aufklärung, sonst zerstreut sich das Licht.

Kritische Überlegungen zur LWL-Aktion „finde dein Licht“ 2020 in der Klosterlandschaft Westfalen-Lippe

Das Licht strahlt nicht nur in der Finsternis, sondern – gezielt eingesetzt – erhellt es die Dunkelheit voller Chaos, Vernichtung und Verbrechen. Die Aufklärung von Versagen, Verbrechen, Vertreibung, Krieg und mutwilliger Vernichtung ist notwendige Voraussetzung der Verantwortung, die wir Menschen für uns, für unsere Mitmenschen, für die Natur, für die Welt haben.

Diese Verantwortung der Menschen als „sterbliche Schöpfer“ (so Hannah Arendt 1958) ist nicht abschiebbar, nicht delegierbar auf eine „höhere Macht“ oder „die Natur“, sondern die Menschen sind eigenverantwortlich für das, was sie tun und ob und wie sie Probleme lösen.

Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden“, so formuliert Hannah Arendt bereits 1958 in ihrem Aufsatz „Die Krise in der Erziehung“. Nicht von ungefähr, sondern bewusst steht diese Aussage innerhalb ihrer Konzeption aufgeklärten Lernens für das Problemfeld Gesellschaft; ausgehend von der Erziehungskrise der Nachkriegszeit in den USA.

Der Anspruch, verantwortlich für Gesellschaft und Welt zu sein, wäre eine Überforderung, würde sie den Menschen als bloßes Individuum betreffen. Verantwortung kann nur wirksam sein, wenn sie auch gesellschaftlich strukturiert und organisiert ist. Mitbestimmung, Gewaltenteilung, Minderheitenschutz, demokratische Verfassung und Rechtsstaatlichkeit sind keine Zugaben, sondern für das friedliche und gerechte Zusammenleben der Menschen konstitutiv, denn, um Hannah Arendt noch einmal zu zitieren, die Welt muss „dauernd neu eingerenkt werden“.

Hannah Arendt (1906-1975) hat in ihrer publizistischen Tätigkeit immer wieder auf die Notwendigkeit und das Risiko des Denkens und Lernens „ohne Geländer“ hingewiesen. Ich verweise zum Lektüreeinstieg auf die Text- und Briefsammlung „Denken ohne Geländer“, hrsg. v. H. Bohnet und K. Stadler, im Piper-Verlag, München/Zürich 2005.

Des weiteren erinnere ich an Pablo Picassos berühmtes Bild „Guernica“, das 1937 als Reaktion auf die Zerstörung der Stadt Guernica im spanischen Bürgerkrieg durch den Luftangriff der deutschen Legion Condor entstand und heute im Museum in Madrid zu sehen ist. Die Fackelträgerin – in diesem Bild – erhellt die Vernichtung von Mensch und Tier durch faschistische Gewalt.

Ich wünsche mir, dass die Veranstaltungen in den 31 Klöstern und Kirchen der Klosterlandschaft Westfalen-Lippe „finde dein Licht“ zu Beginn des Neuen Jahres 2020 diese – weiterhin weltweit aktuelle – Aufklärung mit bedenken und zur Sprache bringen. Denn die Lichtmetapher ist mehrdeutig: sie zielt nicht nur auf die Erleuchtung nach innen, sondern verlangt Aufklärung in die Gesellschaft und die Welt.

Ich sehe darin eine dauernde Verpflichtung für die Arbeit in meinem Projekt des „Aufgeklärten Realismus“ und verweise auf mein im Februar 2020 erscheinendes Buch: „Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf“. Das Buch erscheint im agenda-Verlag in Münster, umfasst etwa 240 Seiten, und kostet 17,90 EUR.

Herbstzeitlose (3) – Herbstzeit ist Endzeit.

Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden.“ (Hannah Arendt, 1958)

Diese Überzeugung der Hannah Arendt kann ich mir zu eigen machen. Und ich warne vor dem naturalistischen Missverständnis, den Jahreskreislauf der Natur auf die menschliche Gesellschaft und das In-der-Welt-Sein zu übertragen: als Naturwesen erwarten wir – auf den Herbst folgend – den Winter; und nach Dunkelheit und Winterskälte den Frühling und den Sommer. Demgegenüber ist für uns als Vernunftwesen die Zeit des Herbstes Endzeit. Denn der Herbst ist bildhafter Ausdruck für die Situation, in der wir Menschen leben. In Erwartung des Endes, unseres Todes, erfahren wir, wenn wir bewusst leben, die Dynamik des Vorläufigen. Sie verpflichtet uns zur Verantwortung für die Welt, die Gesellschaft, die Mitmenschen und für uns selbst.

Diese Verantwortung ist im Prinzip weder delegierbar noch relativierbar; sie ist eine Konsequenz unserer Autonomie, unserer Freiheit. Diese Freiheit schließt den Missbrauch ein: zu Verbrechen gegen andere, zur Welt- und Selbstzerstörung. Diese Freiheit verpflichtet uns Menschen (als Vernunftwesen), sie zur Welt- und Selbsterhaltung zu gebrauchen. Das Ethos der Menschenliebe und die Anerkennung der Menschenwürde sind Basis-Verpflichtungen, die (vernünftigerweise) nicht relativierbar sind.

Aber diese Verpflichtungen sind nicht naturgegeben; sie bedürfen stetiger Überprüfung und Revision. Das ist der vernünftige Grund („die Welt im Sein zu halten“) menschlichen Verhaltens und Handelns als „sterbliche Schöpfer“. Diese Verpflichtung verlangt Disziplin (Arendt spricht vom „Einrenken“) und lebt von der Utopie der Erlösung.

Diese Verpflichtung (dieses Ethos) kann in einem anthropozentrischen Weltverständnis reflektiert und eingeordnet werden. Dieses heutige Weltbild ist – realistisch verstanden – unüberholbar (das ist mit dem Begriff der „Endzeit“ gemeint); es hat Aufklärung, Autonomie und Verantwortung zur Grundlage (Verstandesgebrauch, Selbständigkeit, Ethik). Daher spreche ich von einem aufgeklärten Realismus.

Dieser Realismus mag in der Vorstellung (oder Phantasie) mancher Philosophen oder Theologen in Frage gestellt oder als unzureichend reflektiert gekennzeichnet werden, aber das von mir entwickelte Konzept eines aufgeklärten Realismus ist die notwendige Voraussetzung für erfolgreiches wissenschaftliches Arbeiten (inklusive des methodischen Atheismus) einerseits, und die Voraussetzung für verantwortliches Handeln und Verhalten andererseits.

Dieses Konzept nenne ich aufgeklärt, da sowohl die Wahrheitsfrage wie der ethische Imperativ kritisch geprüft wurden (bezogen auf metaphysische, religiöse und anthropologische wie sprachkritische Postulate) – und das Gebot der Verantwortung sich aus der Autonomie (Selbstbestimmung) des Menschen herleitet.

In diesem Konzept, das ich hier nur angedeutet habe, verschwindet Religion (als Praxis oder Institution) nicht – im Sinne einer (globalen) Säkularisierung. Ich versuche, religiöse Praxis und die sie legitimierende Sprache zu verstehen und zu übersetzen – in Abgrenzung von allen Formen der religiösen Metaphysik, der Esoterik und des Aberglaubens. Meiner Überzeugung nach können sowohl aufgeklärte Christen (oder Muslime), als auch nachdenkende Atheisten in diesem Konzept des aufgeklärten Realismus übereinstimmen und in der Praxis des Alltags wie der Wissenschaft zusammenarbeiten.

Die konkrete Utopie der Erlösung als „Entäußerung“ (Kenosis)

Im Bedenken und Übersetzen (als Versuch) eines urchristlichen Hymnus, den Paulus, der sich wahrscheinlich in Rom im Gefängnis befindet (um das Jahr 59/60 n.Ch.) und der sich als Sklave des Christus Jesus bezeichnet, in seinem Brief an seine Freunde in Philippi (Makedonien), die er als die Heiligen des Christus Jesus kennzeichnet, zitiert (Phil 2, 5-11):

Dies sinnt bei euch, was auch in Christos Jesus, der, als er in Gestalt Gottes war, nicht für Raub hielt das Sein gleich Gott, sondern sich selbst entäußerte, Gestalt eines Sklaven annehmend, in Gleichheit von Menschen geworden; und im Äußeren erfunden wie ein Mensch, demütigte er sich selbst, geworden gehorsam bis zum Tod, zum Tod aber (des) Kreuzes. Deshalb auch erhöhte ihn Gott und schenkte ihm den Namen, der über jedem Namen (ist), damit im Namen von Jesus jedes Knie sich beuge, (der) Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne: Herr (ist) Jesus Christos zur Herrlichkeit Gottes (des) Vaters.“

(Studienübersetzung Münchener Neues Testament, Düsseldorf 1998, 5.A.)

Übersetzung des Urtextes (Koine-Griechisch) ins Deutsche 2007; Zürcher Bibel:

Niedrigkeit und Erhöhung Christi
Seid so gesinnt, wie es eurem Stand in Christus Jesus entspricht:
Er, der doch von göttlichem Wesen war,
hielt nicht, wie an einer Beute daran fest,
Gott gleich zu sein,
sondern gab es preis
und nahm auf sich das Dasein eines Sklaven,
wurde den Menschen ähnlich,
in seiner Erscheinung wie ein Mensch.
Er erniedrigte sich
und wurde gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz.
Deshalb hat Gott ihn auch über alles erhöht
und ihm den Namen verliehen,
der über allen Namen ist,
damit im Namen Jesu
sich beuge jedes Knie,
all derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind,
und jede Zunge bekenne,
dass Jesus Christus der Herr ist,
zur Ehre Gottes, des Vaters.

Wer war Paulus von Tarsus (Kilikien; heute südl. Türkei)?

P. war, soweit wir heute wissen, ein griechisch gebildeter jüdischer Gelehrter, wie (damals üblich) auch ein ausgebildeter Zeltmacher, Anhänger des messianischen Judentums seiner Zeit, Römischer Bürger, Kenner der hellenistischen Philosophie seiner Zeit, Bekenner des Messias Jesus aus Nazaret, Botschafter und erster Theologe des Urchristentums, das sich „weltweit“ (also im Römischen Reich) entwickelte.

In diesem Hymnus wird auf sehr spezielle und konkrete Weise die „Menschwerdung Gottes“ im und durch den „Messias Jesus“ aus Nazaret verkündet, natürlich unter den Erfahrungen und Bedingungen eines theozentrischen (wie auch durch das römische Reich geprägten) Weltbildes.

Mein Problem und meine Frage ist: wie kann die Botschaft des Paulus, und insbesondere der von ihm zitierte „Hymnus“ sinnvoll unter den Bedingungen der anthropozentrischen Welterfahrung und den bewährten Methoden moderner Problemlösung („als wenn es Gott nicht gäbe“), also im „Zeitalter der Aufklärung und Wissenschaft“ übersetzt und verstanden werden?

Ich setze voraus (was ich anderswo erläutert habe), dass unter den Bedingungen der Aufklärung (Kritik jeder Metaphysik, Religionskritik, Sprachkritik) „Erlösung“ der Welt (als Grenzerfahrung allen vorläufigen Problemlösens) denkbar und erfahrbar, aber nicht begreifbar ist. „Erlösung“ ist daher nur als „Utopie“ beschreibbar.

Ich übersetze den von Paulus zitierten „Kenosis-Hymnus“ in ein heutiges Sprachspiel. Unsere Sprachen kennen nicht nur „logische“ Sprachspiele, die widerspruchsfrei und begreifbar sind, sondern auch Sprachspiele, die die Struktur von „Oxymora“ haben und auf spezielle Weise erfahrbar sind (auch dies habe ich anderswo erläutert).

Ein erster Versuch:

Erlösung als konkrete Utopie

Ein konkreter Mensch
prophezeit das Ende der Zeit (als kairos nicht chronos),
nicht als mächtiger Herrscher (König oder Kaiser oder Führer),
der das Paradies auf Erden verspricht;
sondern als hingerichteter Verbrecher (in der Sicht und Macht der Mächtigen)
Vertrauen erwartet (ohne es erzwingen zu können oder wollen).

Wer dem Gekreuzigten als „Messias“ vertraut (pistis),
der kann befreit und ohne Zwänge denken und handeln,
der muss sich nicht den herrschenden Gesetzen der Macht anpassen,
sondern kann und muss prüfen, was gut und gerecht ist.

In diesem Sinn ist er befreit und bereit,
Gerechtigkeit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit zu realisieren.
Selbst der Tod hat keine Macht mehr über ihn,
obwohl er als Naturwesen sterblich bleibt.

Zum Verhältnis von Macht und Gewalt, Gebrauch und Missbrauch

Unkontrollierte Macht schlägt in Gewalt um. Gewalt realisiert sich in Zerstörung und Selbstzerstörung; in Hass und Vernichtung. Der Gebrauch der Macht kann in Missbrauch umschlagen; das ist der Preis der Freiheit.

Menschen sind Vernunft- und Naturwesen. Sie sind, wie Hannah Arendt sagt: sterbliche Schöpfer.

Sie können ihre Macht gebrauchen und missbrauchen. Sie allein sind verantwortlich für Verbrechen, aber auch für die Durchsetzung der Menschenwürde und Menschenrechte und die Gestaltung gerechter gesellschaftlicher Verhältnisse.

Menschen (als Vernunftwesen) haben die dauernde Verpflichtung und Aufgabe, Menschenwürde für alle und Pflege der Natur durchzusetzen. Als Vernunftwesen sind sie in der Lage und dafür verantwortlich, gerechte Lebensverhältnisse zu realisieren und Missbrauch zu verhindern bzw. einzugrenzen. Menschen sind daher dazu bestimmt (im Sinne der Selbstbestimmung), Probleme zu erkennen und zu lösen; Erlösung ist eine (notwendige) Utopie.

Ein zweiter Versuch:

Jesus Christus Erlöser (Erlösung gedacht in einer und durch eine konkrete Person), diese Botschaft (in Form einer konkreten Utopie) setzt auf Vertrauen; und dieses Vertrauen (pistis) verheißt zeitloses Leben (im Sinne des kairos). Diese konkrete Hoffnung wird existenziell erfahren und ermöglicht, Probleme in der Dynamik des Vorläufigen zu lösen.

Zwar bleiben alle Lösungswege und Ergebnisse bzw. Entscheidungen an Endlichkeit und Irrtum des menschlichen Daseins gebunden, aber in der „Nachfolge Christi“ sind sie weder Zufall noch Schicksal, das in Vernichtung oder Auflösung endet, sondern ermöglichen Korrektur und Umkehr.

Zwar wird die Differenz zwischen Erfahrung der Umkehr oder Korrektur (metanoia) und Erkenntnis des Begriffenen nicht aufgehoben, aber für die Zeit des irdischen Lebens im Lichte der Zusage des ewigen Lebens relativiert.

„Ewiges Leben“ (ein Oxymoron höchster Stufe) ist als Synonym für „Erlösung“ das entscheidende Sprachspiel eines „Christen“; es beschreibt die existenzielle Erfahrung der Zusage der Erlösung (als eines Geschenkes, das weder erkauft noch erzwungen werden kann). Die Macht dieser Zusage gegenüber den Bedingungen begenzten Lebens (als Naturwesen) kann weder aufgehoben, noch kann diese konkrete Utopie in menschlicher Sprache „begriffen“ werden. Aber dieses „Geschenk“ wurde und wird in einer radikalen Form sprachlich beschrieben, die alle theologischen Vorstellungen „sprengt“: Gott ist Liebe (theòs agápe estín).

Im ersten Johannesbrief wird der Gottesbegriff (im Lichte der Messias-Botschaft) entziffert, und die Gottesvorstellungen des theozentrischen Weltbildes werden so radikal zerlegt, dass diese Aussage auch für uns heutige Menschen verstehbar und bedeutsam sein kann: „Gott“ ist ein synsemantischer Ausdruck für konsequente Menschenliebe. So zumindest übersetze ich das Sprachspiel der „johanneischen Schule“.

p.s.

Diese Reflexion bleibt grenzwertig, da ich nicht ausreichend geklärt habe, wie das Verhältnis von begreifenden Sprachspielen und Sprachspielen, die existenzielle Erfahrungen beschreiben, sinnvoll zu klären ist. Aber dieses spezifische Verhältnis versuche ich in der „Formel“ von der Dynamik des Vorläufigen auszusprechen.

Zusammenfassende Übersetzung:

Erlösung in der Dynamik des Vorläufigen

„Jesus Christus Erlöser“ –
diese Botschaft setzt auf Vertrauen
und verheißt zeitloses Leben.

In der Dynamik des Vorläufigen
können Probleme gelöst werden;
gebunden an Irrtum und Endlichkeit.

In der Nachfolge Christi
herrscht weder Zufall noch Schicksal;
sondern Korrektur und Umkehr sind möglich.

Ewiges Leben steht für Erlösung;
Ein Geschenk, das alle frommen Vorstellungen sprengt:
Gott ist Liebe.