Was ist der menschliche Geist (mind)? – Was ist Aufklärung (enlightenment)?

Was ist der menschliche Geist (mind)?

Was ist Aufklärung (enlightenment)?

Auf diese Fragen antworte ich zum argumentativen Gebrauch als Philosoph: Gemeint ist die Fähigkeit des homo sapiens, durch sein Bewusstsein zu denken und sich zu denken (Entwicklung des Selbstbewusstseins).

Am Anfang der Bewusstseinsbildung des homo sapiens steht die Gesprächsfähigkeit, die Kommunikation. Die Möglichkeit des Gespräches schafft Verständigung. Die Verständigung in der Menschengruppe und die Entwicklung des individuellen Bewusstseins sind seit Beginn des Lernens des einzelnen Lebewesens, also seit seiner Entstehung, in einer dauernden Wechselwirkung.

Die Möglichkeiten und Leistungen des Bewusstseins bezüglich seiner Inhalte lassen sich als gemeinsame Schnittmenge von Natur und Norm (der Kulturbildung) beschreiben. Die Fähigkeit zu denken ist von Anfang an ein Prozess des Verstehens und der Verständigung. Daher entwickelt sich die Bildung des Bewusstseins in der Form des Gespräches; sei es zwischen Mutter und Kind (schon vor der Geburt) oder in der Wahrnehmung der Umwelt.

Das Bewusstsein des Menschen hat drei zu unterscheidende Denkmöglichkeiten; diese drei Möglichkeiten (Potenzen) sind (zunächst) an der Entwicklung der menschlichen Sprache abzulesen:

  1. Sprachspiele, die logisch aufgebaut und rekonstruierbar sind; Grundlage ist das begreifende Denken.
  2. Sprachspiele, die erzählend/poetisch aufgebaut sind und zwischenmenschliche Erfahrungen zum Ausdruck bringen; ich spreche vom poetischen Denken.
  3. Sprachspiele religiöser Art, die ein theozentrisches Weltbild zur Voraussetzung haben und – gemäß des Projektes der Aufklärung – der Übersetzung auf der Grundlage heutiger anthropozentrischer Weltdeutung bedürfen, um ihre (existenzielle) Bedeutung in aenigmatischer Form zu erkennen.

Entweder sind religiöse Aussagen (auf theozentrischer Basis) Projektionen und/oder steckt in ihnen eine (verborgene) Botschaft in Form einer Utopie. Ich spreche in diesem Fall vom utopischen Denken.

Religiöse Sprachspiele bedürfen der Übersetzung, da sie mehrdeutig oder sinn-los sind. Sinnlos ist ein Sprachspiel, wenn es nicht kommunikativ ist.

Das Bewusstsein projiziert seine Raumerfahrung in eine Mehrzahl von Räumen (z.B. Erde, Himmel, Unterwelt). Es projiziert seine Zeiterfahrung (im chronologischen Sinn) in ein verursachtes oder erwartetes Ende (im Sinne der Apokalypse).

Demgegenüber verweist das utopische Denken – und die entsprechenden Sprachspiele – auf menschliche Erfahrung ausserhalb von Zeit und Raum, aber innerhalb der Denkmöglichkeiten des menschlichen Bewusstseins. Ich spreche daher von kairologischer statt chronologischer Erfahrung. Wenn von „Augenblick“ oder „Ewigkeit“ gesprochen wird, wenn Oxymora benutzt werden (wie z.B „Menschwerdung Gottes“), kann die Utopie der Erlösung gemeint sein. Da die Menschen sterblich sind, kann  „Erlösung“ nur in utopischer Weise gedacht und gesprochen werden (jenseits von Raum und Zeit).

Wie können die Potenzen des sterblichen Bewusstseins einheitlich – ohne Hilfe metaphysischer Konstruktionen – zusammengefasst werden?

Die einheitliche Aktivität des Bewusstseins – bei unterschiedlichen Denkmöglichkeiten – besteht darin, Probleme zu lösen (erfolgreich und wiederholbar). Diese Lösungen sind vorläufig (im doppelten Sinn: provisorisch und antizipativ), da die Schöpferkraft des homo sapiens begrenzt, sterblich ist.

Daher spricht Hannah Arendt davon, dass die Menschen sterbliche Schöpfer sind (1958/2000) (– und keine Geschöpfe).

Erlösung ist die Hoffnung allen Problemlösens; diese Konsequenz kann als (konkrete) Utopie gedacht und bekannt werden (im Sinne von bekennen).

 

p.s.

Problemlösungen (im weiten Sinn) können erinnert, gesammelt und „ausgelagert“ werden (Schrift,Papyrus, Buch, Bibliothek, Internet – AI); das ändert nichts an ihrer Vorläufigkeit und der Verantwortung (der homo sapiens als homo praestans).

Die jüdisch/christliche Bibel  kennt zwei grundlegende Erzählungen: die messianische Perspektive der Erwartung der Erlösung (in der konkreten Utopie des Erlösers/Messias) und die rückblickende Schöpfungsperspektive (Schöpfungsmythen/Paradiesvorstellungen). Für die jüdische Täuferbewegung in der Konsequenz der Prophetenreden ist das messianische Denken (die Erwartung des Messias) primär; der Rückblick auf die Schöpfung der Welt und die Erschaffung des Menschen sind sekundär.

Der Rückblick auf den Anfang setzt ein theozentrisches Weltverständnis voraus; Gott als Schöpfer, der Mensch als Geschöpf. Dieses Verständnis drückt sich in religiösen Sprachspielen aus (religo = Rückbezug).

Die Messias-Erzählungen sind zukunftsorientiert (Utopie der Erlösung; konkret: Messias-Utopie). Das messianische Denken kann daher auch in das anthropozentrische Weltbild integriert und übersetzt werden. In diesem Weltverständnis wird „Gott“ zu einer aufzuhebenden „Arbeitshypothese“ (so Dietrich Bonhoeffer); dennoch kann Erlösung (als Utopie) gedacht werden.

Diese Überlegung erlaubt mir einerseits beim Lösen von Problemen einen „methodischen Atheismus“ zu unterstellen, andererseits „Erlösung“ als konkrete Utopie zu denken und zu bekennen. Daher folgere ich: ein aufgeklärter Mensch (am Ende des Anthropozän) kann ein methodischer Atheist und zugleich ein aufgeklärter Christ sein.

Dieses Resultat ergibt sich auch, wenn ich das Programm der Aufklärung konsequent zu Ende denke und nicht mit Immanuel Kant (Was ist Aufklärung? 1783) beginne, sondern mit Erasmus von Rotterdam und seiner Korrektur des Prologs des Johannes-Evangeliums in der Vulgata-Übersetzung des Hieronymus: logos = sermo, nicht verbum; im Anfang war das Gespräch, nicht das Wort (vor 1518). Übrigens: Martin Luther kannte diesen Übersetzungsvorschlag von Erasmus in einigen seiner lateinischen Varianten, hat ihn aber bei seiner Übersetzung ins Deutsche nicht berücksichtigt.

Ich nenne meine vier Grundaussagen des universalen Programms der Aufklärung:

  1. Im Anfang war das Gespräch, die Kommunikation, nicht das isolierte, dogmatische Wort. (Erasmus von Rotterdam)
  2. Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! (Mündigkeit/Autonomie/Verantwortlichkeit; der homo sapiens als homo praestans) (Immanuel Kant)
  3. Die Menschen sind sterbliche Schöpfer (nicht Geschöpfe); deswegen sind sie für den Erhalt der Welt und die Lebensbedingungen der Menschen verantwortlich. (Hannah Arendt)
  4. Die Menschen können und müssen nicht nur Probleme lösen, sie können Erlösung denken (als Umkehr und Befreiung von Zwang, Kult und Tod – in Form der konkreten Utopie). (Paulus aus Tarsus)

Zur Spezifik der Geschichte des menschlichen Bewusstseins und zum Ziel des erdweiten Projektes der Aufklärung

Die aktuelle Frage (in Philosophenkreisen), ob es einen „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ gibt – so problematisiert Peter Tawny in seinem Buch „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“ (Frankfurt/Main 2015, 3.A.) –, ist (für mich) schon deswegen sinn-los, weil die Frage nach der Geschichte des Seins sinnlos ist. Das Sein (auch wenn es Seyn geschrieben wird) hat keine Geschichte – im Sinne der Geschichte der Menschen auf dem Planeten Erde. Allein das Dasein des homo sapiens wie der Menschheit lässt sich – biografisch wie gesellschaftlich – als Geschichte rekonstruieren, verstehen und erzählen.

Die Konstruktion der Seinsgeschichte (bei Heidegger) unterstellt eine „Seinsvergessenheit“, deren Erinnerung dem (auserwählten) Philosophen erlaubt, mit Hilfe der Ideologieproduktion des menschlichen Bewusstseins im Labyrinth dieses Bewusstseins zu „stöbern“ und ziellos (sinnlos) zu phantasieren. Unter dieser Perspektive wird „Heimatlosigkeit zum Weltschicksal“ (siehe Heideggers „Humanismusbrief“, Erstfassung 1946) und der Antisemitismus entpuppt sich als wirksame Ideologie mit langer Geschichte realer Machtverhältnisse.

Seinsgeschichte ist ein sinnloser Begriff, denn das Sein dessen, was ist – und auch nicht ist –, hat keine Geschichte; denn menschliche Geschichte (in meinem Verständnis) ist bewusste (auch missverstandene wie verlogene)  Konstruktion gesammelter Erkenntnis; auf der Basis überprüfbarer Erinnerung.

Meine Kritik an der Ideologie der Seinsgeschichte etabliert aber kein naives Geschichtsverständnis. Denn zwei weitere Geschichts-Ideologien sind in der heutigen Diskussion wirksam: der Konstruktivismus und der Naturalismus. Die erste Ideologie reduziert die Geschichte der Menschheit (der menschlichen Gesellschaften und des Erkenntnisfortschritts) auf (spätere) subjektive Interessen, die die Wahrheitsfrage ausklammern oder relativieren. Die zweite Ideologie verwechselt den Ablauf (und die Widersprüche) menschlicher Geschichte mit (biologischer) Evolution des Lebens auf der Erde und des Kosmos insgesamt.

Zwar entsteht und entstand menschliches Bewusstsein – individuell wie sozial – aus der gemeinsamen Schnittmenge von Natur (im Sinne der evolutiven Entwicklung des Lebens auf der Erde) und der sozialen Strukturen des Zusammenlebens der Menschen (Bildung von Normen und wiederholbare, erfolgreiche Lösung von Problemen), aber daraus bildete und bildet sich eine eigenständige, spezifisch begreifbare und beschreibbare Struktur des Erkenntnisfortschritts (mit allen Rückschlägen): die Geschichte der Menschheit.

Diese Geschichte der Menschheit – wie auch die biografische Entwicklung des homo sapiens zur Mündigkeit, zur Menschenwürde und zur Empathie – lassen sich in Weltbildern zusammenfassen und in einem weltweiten Projekt der Aufklärung begreifen und beschreiben. Unter der Bedingung des anthropologischen Weltbildes (an Ende des Anthropozän) versuche ich diese Zusammenfassung:

(1) in einer Metatheorie des Aufgeklärten Realismus, die den Atheismus – als Methode, nicht als Weltanschauung – einschließt:

(2) in einer Anthropologie der Aufklärung (aus der Peripherie heraus), die einen dreifachen (kategorischen) Imperativ erdweit einfordert und als Lernprozess organisiert: Mündigkeit, Würde, Empathie.

 

p.s.

Die „Heimat“ des homo sapiens (als homo praestans) ist einerseits die „Entsterblichung“ seiner Natur (oder die „Entmachtung“ seiner Sterblichkeit), andererseits die „Vermenschlichung“ des Unsterblichen (Gottes).

Der „Holzweg“ ist nicht die Lösung des Problems (der Erlösung), sondern ein Irrweg, der (bestenfalls) als Umweg erkannt werden kann.

Erlösung als Erfahrung – in Form der messianischen Utopie – beginnt mit dem Schweigen, aber endet nicht in der „Heimatlosigkeit“, sondern hat Grund und Ziel: Menschliche Schöpferkraft und Sterblichkeit des Menschen (als eines natürlichen Lebewesens) lösen sich.

Grund ist die menschliche Schöpferkraft. Ziel ist die Entmachtung des Todes.

Anthropologie der Aufklärung: Exposé meiner Argumentation (Münster 2023)

Grundlage und Ziel meines Projektes: Aufklärung zu Ende denken

Seit langem versuchen Religionsphilosophie – und auch die Soziologie der Religion das Verhältnis von Profanem und Heiligem und den vermeintlichen Ursprung von beiden zu klären. Demgegenüber hinterfragt mein Projekt der Aufklärung diese Dualität und entwickelt die Möglichkeiten – ich spreche auch von Potenzen – eines einheitlichen menschlichen Bewusstseins – individuell wie sozial/geschichtlich – von Wahrnehmung, (aenigmatischer) Erkenntnis, Projektion und Utopie. Ich beschreibe in einer Theorie des Aufgeklärten Realismus diese Potenzen (oder Leistungen) dieses Bewusstseins am Ende des Anthropozän. „Anthropologie der Aufklärung: Exposé meiner Argumentation (Münster 2023)“ weiterlesen

Missverständnisse bezüglich des utopischen Denkens

Das utopische Denken ist keine Strategie zur Durchsetzung der Demokratisierung der Gesellschaft oder der allgemeinen Anerkennung und Durchsetzung der Menschenwürde. Nur auf der Basis eines aufgeklärten Realismus können Friedensordnungen durchgesetzt werden und Gesellschaften bestehen, die die Menschenrechte achten und die Risiken der Zerstörung und Vernichtung minimieren: vom Gesundheitsschutz über den Naturschutz bis zum Menschenschutz. Risikominimierung in diesem Sinn ist eine ständige Verpflichtung unter dem (kategorischen) Imperativ, die Menschenwürde zu achten.

Paradiesvorstellungen sind demgegenüber eine gefährliche Illusion. Ich nenne zwei Beispiele: ein verrücktes und ein zeitgemäßes. Meine Zielvorstellung für ein menschenwürdiges Leben sind weder die (scheinbare) Selbstverständlichkeit goldener Wasserhähne – wie in der Utopia-Vorstellung des Thomas Morus, die dort eine zivilisationskritische Funktion hat –, noch eine phantasierte Erde ohne Eingriff der Naturgewalt.

Dies klingt verrückt und meine Aussage bedarf der Klärung, um nicht missverstanden zu werden: Ich wünsche mir kein Paradies auf Erden und kein Ende der „natürlichen“ Evolution. Das erstere wollen Menschen nicht, wenn sie „aufgeklärt“ sind (im Sinne des homo praestans); das weitere können sie nicht, wenn sie aufgeklärte Realisten sind. Die mögliche Selbstzerstörung der Erde ist der Grenzfall, der die Evolutionsgesetze des Kosmos unberührt lässt.

Zunächst kläre ich, warum ich irrige Zielvorstellungen ablehne:

(1) Die Geschichte der goldenen Wasserhähne ist in der Utopia des Thomas Morus nachzulesen, geschrieben in England im Jahr 1517.

In diesem erfundenen Inselstaat bestehen die Instrumente der Wasserversorgung aus Gold, weil dieses Metall für die Inselbewohner seinen spezifischen Wert verlieren soll.

Der Hintergrund dieser Episode wird deutlich: die Faszination des Goldes/des Geldes wird hinterfragt; in diesem fiktiven Paradies ist es wertlos. Die utopische Vorstellung ist eine Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen.

Ich hoffe, es ist einsichtig, dass ich in einem solchen paradiesischen Utopie-Staat nicht leben will. Denn zu einem menschenwürdigen Leben gehört es, ausreichend sauberes Wasser für alle Menschen zu haben. Der Gebrauchswert des Wassers und seine Zufuhr sind entscheidend und nicht der Tauschwert der Ware „Wasser aus goldenen Hähnen“.

(2) In der notwendigen Diskussion um ausreichenden und wirksamen Naturschutz wird oft suggeriert, der Mensch könne die Gewalt und Entwicklung der Naturkräfte in seinem „Wohnraum“, der Erde, abschaffen. Das ist „natürlich“ eine Illusion.

Der Mensch kann sich wirksam vor den Naturkräften auf der Erde schützen und die Natur vor der Zerstörung bzw. vor dem Missbrauch bewahren – mit der möglichen Konsequenz der Selbstzerstörung (z.B. durch selbstverschuldete Erderwärmung).

Das menschliche Bewusstsein kann sehr wohl zwischen durch Menschen erzeugte Katastrophen und kosmischen Veränderungen, die der natürlichen Evolution und ihren Gesetzen entsprechen, unterscheiden und sachgemäß reagieren.

Naturschutz ist aus menschlicher Sicht immer auch Überlebensschutz. Hannah Arendts Aussage, dass der Mensch ein „sterblicher Schöpfer“ sei, bezieht sich meiner Überzeugung nach nicht nur auf die Sterblichkeit der Individuen, sondern auch auf seine Stellung im Universum.

Was bedeutet diese Erkenntnis für das utopische Denken?

Das utopische Denken – als Bewusstseinserweiterung – beendet nicht – im chronologischen Sinne – die Entwicklung des Universums, deren Gesetzmäßigkeiten im Detail noch erforscht werden (z.B. durch die Theorie der „schwarzen Löcher“), und beendet auch nicht die Entwicklung des Lebens auf den Planeten (auch wenn der „homo sapiens“ eine Endform des Lebens auf der Erde darstellen sollte).

Das utopische Denken – so meine begründete Überzeugung – ermöglicht dem menschlichen Bewusstsein – im kairologischen Sinn – Erlösung zu denken und Befreiung – im Sinne der Menschenwürde für alle Menschen durchzusetzen.

Im religiösen Sprachspiel des messianischen Denkens bedeutet diese Möglichkeit – unter den Bedingungen des aufgeklärten Realismus – für menschliches Bewusstsein am Ende des Anthropozän, Erlösung in Form einer konkreten Utopie zu denken und diese existenzielle Erfahrung – kairologisch, nicht chronologisch in Befreiung und Empathie umzusetzen – und davon – im Sprachspiel der Oxymora – zu erzählen.

Das utopische Denken. Zur Dynamik des Vorläufigen

Die Vorläufigkeit des konstruktivistischen Denkens für endgültig zu erklären, ist eine resignative Form der Metaphysik. Vorläufiges Denken und Handeln hat eine Dynamik, die durch utopisches Denken – im heutigen anthropozentrischen Weltverständnis – gekennzeichnet werden kann.

Menschliches Denken und Handeln im Prozess der Aufklärung ist – zusammenfassend – als Problemlösen strukturiert. Diese Struktur als endlich zu analysieren, eröffnet die Utopie der Erlösung, die existenziell erfahren und konkret erzählt werden kann, aber nicht begriffen.

Das Vorläufige ist nicht das Endgültige. Die Endlichkeit alles Menschlichen enthält (verbirgt und eröffnet) eine Dynamik: Provisorium und Antizipation zugleich; Erkenntniszuwachs wie Erkenntnisfortschritt. Der entscheidende Impuls für alles Problemlösen ist die Utopie der Erlösung (als Erwartung: zeit- und ortlos).

Religion, wie sie sich heute präsentiert, ist der Rückzugs-Ort des Heiligen in einer profanen Welt. Demgegenüber umfasst das Utopische Denken den Welt-Raum. Dieses Denken benötigt weder Tempel noch Heiligtümer; es wirkt mitten unter den Menschen, mitten in unserer verdinglichten, entfremdeten Welt. Historisch wie biografisch gesehen hat das Utopische Denken konkret einen Namen: gebunden in der – und übersetzt aus der jüdisch-christlichen Täufer-Tradition: das messianische Denken.

Utopisches Denken wird im Alltag der Menschen erfahrbar und erzählbar, aber bleibt unbegreifbar. Der „Ort“ der Utopie, der einzige Ort des Ortlosen (ein Oxymoron) ist das Gespräch; in ihm kann erzählt und gehört werden, was Erlösung bedeutet (in der Struktur der Antizipation). Die Differenz von chronos und kairos ist erkennbar, erfahrbar, erzählbar, aber nicht aufhebbar.

Das Gespräch dient sowohl der gemeinsamen Rückerinnerung, als auch der gemeinsamen Entwicklung von Perspektiven und Aktionen; es ist der Raum der Umkehr (Revision) und Verantwortung. Entscheidend ist die dialogische Struktur des Gespräches, selbst da, wo der Einzelne sich mit sich selbst verständigt (verständigen muss). Verantwortung ist nicht delegierbar, Selbstkritik und Umkehr befreien.

Gegen die Lagermentalität – Zum Ursprung des Christentums

Aus dem Brief an die Hebraier (13,13-14):

Daher wollen wir hinausgehen zu ihm (Jesus Christos), außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend, denn nicht haben wir hier eine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. (Übersetzung: Münchener NT) (Vulgata: „extra castra“; NT gr.: ménousan/méllousan pólis; vulg./lat.: civitas)

Das ursprüngliche Christentum ist eine messianische Täuferbewegung innerhalb des Judentums in der damaligen Zeit, deren Gemeinden sich, so der Hebräerbrief (entstanden vor der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die römischen Truppen), als „außerhalb des Lagers“ verstehen, also keine Tempel- und Opfer-orientierte Religionsgemeinschaft sind. Diese Gemeinschaften haben keine „bleibende polis“, sondern erinnern sich an und bekennen sich zu Jesus aus Nazaret als ihren Messias und suchen eine „neue polis“.

Christen können sich also – im religiösen Sinn – nicht auf ein räumliches Zentrum rückbeziehen; weder auf Jerusalem (mit dem Tempel), noch Konstantinopel noch Rom. Denn sie leben und handeln weltweit „außerhalb des Lagers“; das ist ihr universaler Auftrag. Überall, wo sie sich im Namen und Auftrag des Messias (Christos) Jesus zusammenfinden und sich seiner kenosis erinnern und seiner Erlösung (der Welt) gedenken und diese durch ihr Verhalten bezeugen, sind sie zu hause.

Religionen beziehen sich auf ein religiöses Zentrum; daher spreche ich von religio als Rückbezug. Judentum wie Christentum sind durch die Exodus-Struktur gekennzeichnet; kennen aber auch – sekundär – den Schöpfungsmythos (erzählt im Buch Genesis). Das Christentum erwartet und erfährt (als kairologisches Ereignis – in der Deutung des Paulus aus Tarsus) den Beginn der „Gottesherrschaft“. Übersetzt vom theozentrischen Weltbild in das anthropozentrische Weltverständnis bedeutet das die konkrete Utopie der Erlösung, die befreit und verhindert, dass Zweifel und Endlichkeit in Verzweiflung und Vernichtung umschlagen.

Daher akzeptieren aufgeklärte Christen keine „Lagermentalität“; sie ziehen sich nicht in ihre „Kirchen“ zurück, sondern ihre Form der „Entweltlichung“ bedeutet, sich nicht den bestehenden Verhältnissen anzupassen, sondern Verantwortung für die Menschen und die Welt zu übernehmen.

Zum Hintergrund der Argumentation des „Briefes an die Hebraier“

Der Text des „Hebräerbriefes“ ist seiner Argumentation nach ein Traktat eines Gelehrten der Priestertheologie des hellenistischen Judentums, der gelernt hat, mit der biblischen Tempel- und Opfertheolgie zu argumentieren. Die Schärfe seiner Kritik am Tempeldienst und Opferkult (in Jerusalem) besteht darin, dass er diese Opfertheologie allein auf Jesus, den Messias, bezieht und die Adressaten seiner Argumentation, sog. „Judenchristen“, vor einem Rückfall in die Opferpraxis des Tempels in Jerusalem schützen will. Der Kontext im 13. Kapitel des Hebräerbriefes verdeutlicht dies:

Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit.

Lasst euch nicht durch schillernde und fremdartige Lehren verführen. Denn es ist gut, dass das Herz gefesselt wird durch Gnade, nicht durch Speisegebote; die sie befolgten, hatten keinen Nutzen davon.

Wir haben einen Altar, von den zu essen keine Vollmacht hat, wer dem Zelt dient. Denn die Leiber der Tiere, deren Blut der Hohe Priester als Sühnopfer ins Heiligtum hineinbringt, werden außerhalb des Lagers verbrannt.

Darum hat auch Jesus, um durch sein eigenes Blut das Volk zu heiligen, außerhalb des Tores gelitten.

Lasst uns also vor das Lager hinausziehen zu ihm und seine Schmach tragen, denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Durch ihn wollen wir Gott allezeit als Opfer ein Lob darbringen, das heisst die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen.

Vergesst nicht, einander Gutes zu tun und an der Gemeinschaft festzuhalten, denn an solchen Opfern findet Gott Gefallen.

(Hebr. 13,8-16 in der Übersetzung der Zürcher Bibel)

Schärfer kann die Kritik an den Speisegeboten und der Opfertheologie in der Sprache der jüdischen Priestertheologie (Nutzlosigkeit der Speisegebote und die Hinrichtung Jesu außerhalb des Tempelbezirks als einzig sinnvolles Blutopfer der „Heiligung“) nicht formuliert werden, auch wenn für aufgeklärte Menschen (auch Christen) unserer Zeit diese weltbildbezogene Denkweise fremd und unverständlich bleibt. Diese Kritik muss also in Bezug auf unsere Lebenspraxis übersetzt werden.

Ich fasse zusammen:

Der Verfasser der Argumentation des sog. Hebräerbriefes polemisiert gegen die „Lagermentalität“ derer in seinem Freundeskreis (der getauften messianischen Juden), die sich weiterhin am Tempelkult des Hohen Priesters und der dort stattfindenden Opferpraxis orientieren. Ich unterstelle, der Tempel in Jerusalem ist noch nicht durch die römischen Legionäre zerstört ( und das spricht für eine Entstehung des Briefes eindeutig vor 70 n. Chr.). Die Gegenargumentation in der Sprache der Priestertheologie ist:

(1) Es gibt nur einen Hohen Priester, und das ist Jesus aus Nazaret, der vor den Toren der Stadt (außerhalb der Mauern) hingerichtet wurde;

(2) Sein Tod ist das einzige sinnvolle Opfer zur Erlösung der Menschen;

(3) Und deshalb haben die Messias-Vertrauten (die Christen) hier (in Jerusalem) keine „bleibende polis“, sondern sie sind Suchende der „zukünftigen polis“.

Christen haben keinen heiligen Ort, kein Kultzentrum – nur Erinnerungsorte -, denn als „Erlöste“, als freie Menschen können sie überall „Gott loben“ – für die Befreiung danken (Eucharistie als Danksagung), sich sozial (für ihre Mitmenschen) engagieren (Diakonie/Caritas als Konsequenz) und (um der Erinnerung und Bezeugung der Erlösung willen) Gemeinschaft halten (ekklesia).

Der Ursprung des Christentums ist messianisch. Erlösung bedarf der Entmythologisierung und Übersetzung.

Die jüdisch-christliche Bibel beginnt in ihrem ersten Buch (der Genesis) mit dem Schöpfungsmythos, doch strukturell wie existenziell ist diese Erzählung rückblickend sekundär, während der Erlösungsmythos vorausschauend primär ist. Damit meine ich, dass die entscheidende Struktur des Judentums wie des Christentums der Auszug, der Exodus ist; der Auszug aus dem status quo in der Hoffnung auf Erlösung. Diese messianische Struktur relativiert Religion als Rückzug, Rückblick, als Rückbezug.

Meine Unterscheidung zwischen „primär“ und „sekundär“ bleibt missverständlich, wenn sie als chronologische Aussage verstanden wird. Daher konnte die Erzählung von der kommenden „Gottesherrschaft“ (als „Ende der Welt“, als „Endgericht“) in die Irre führen und apokalyptisch ausgemalt werden.

Heutzutage sind (wir) Menschen in der Lage, sich auf der Erde insgesamt selbst zu zerstören, aber diese Möglichkeit der Vernichtung ist mitnichten das „Jüngste Gericht“. „Erlösung“ als Aufhebung allen (vorläufigen) Problemlösens verstehe ich als kairologisches Ereignis. In der Erzählung vom kenosis-Mythos (der radikalen Entäußerung Gottes als Mensch) ist der Messias kein König, kein absoluter Herrscher, sondern ein gewaltloser, mitleidender Mensch, der als Verbrecher hingerichtet wird.

Seine Erhöhung (erzählt im theozentrischen Weltverständnis als „Auferstehung“) bedeutet im anthropozentrischen Weltbild (aufgeklärter Menschen): Erlösung ist die Macht der Ohnmacht, beschreibbar als Oxymoron; radikale Umkehr der menschlichen Machtverhältnisse. Diese existenzielle Erfahrung ist allein beschreibbar als konkrete Utopie. Sie bleibt den Philosophen dieser Welt eine Torheit, den messianischen „Christen“ aber eine befreiende Überzeugung, die ihr Leben verändert und eine weltweite (grenzenlose) Empathie begründet, ohne ihre Sterblichkeit in dieser Welt aufzuheben. Diese Empathie ist im heutigen anthropozentrischen Weltverständnis als kategorischer Imperativ formulierbar: Handle stets so, dass die Würde aller Menschen unantastbar bleibt. Dass dieses Regulativ bis heute weltweit nicht durchgesetzt ist und stets in allen Gesellschaften der Umsetzung und Überprüfung bedarf, ist offensichtlich.

Wenn „Erlösung“ als konkrete Utopie erzählt werden kann, dann muss unter den Bedingungen heutiger Welterfahrung (im Sinne der Aufklärung, die zu Ende gedacht und nicht abgebrochen wird) auch diese Vorstellung entmythologisiert werden, um sie sowohl vor dem chronologischen Missverständnis am Ende des individuellen Lebens, als auch vor der Hoffnung auf ein „Jenseits“(das das „Diesseits“ ablöst) zu schützen.

Ich erinnere an die Reflexion von Dietrich Bonhoeffer (in „Widerstand und Ergebung“):

Man sagt, das Entscheidende sei, daß im Christentum die Auferstehungshoffnung verkündigt würde, und daß also damit eine echte Erlösungsreligion entstanden sei. Das Schwergewicht fällt nun auf das Jenseits der Todesgrenze. Und eben hierin sehe ich den Fehler und die Gefahr. Erlösung heißt nun Erlösung aus Sorgen, Nöten, Ängsten und Sehnsüchten, aus Sünde und Tod in einem besseren Jenseits. Sollte dies aber wirlich das Wesentliche der Christusverkündigung der Evangelien und des Paulus sein? Ich bestreite das. Die christliche Auferstehungshoffnung unterscheidet sich von den mythologischen darin, daß sie den Menschen in ganz neuer und gegenüber dem Alten Testament noch verschärfter Weise an sein Leben auf der Erde verweist. Der Christ hat nicht wie die Gläubigen der Erlösungsmythen aus den irdischen Aufgaben und Schwierigkeiten immer noch eine letzte Ausflucht ins Ewige, sondern er muß das irdische Leben wie Christus ganz auskosten und nur indem er das tut, ist der Gekreuzigte und Auferstandene bei ihm und ist er mit Christus gekreuzigt und auferstanden. Das Diesseits darf nicht vorzeitig aufgehoben werden. Darin bleiben Neues Testament und Altes Testament verbunden. Erlösungsmythen entstehen aus den menschlichen Grenzerfahrungen. Christus aber faßt den Menschen in der Mitte seines Lebens.“

Dieser Reflexion von Dietrich Bonhoeffer stimme ich zu, wenn ich von einem kairologischen Ereignis spreche. Erlösung im messianischen Denken ist kein (altorientalischer) Mythos; sondern die konkrete Utopie verweist auf das zu ändernde und geänderte Leben auf dieser Erde, auf die Freiheit (besser: Befreiung) aller Menschen. Der Mensch bleibt sterblich, aber er ist befreit zu radikaler Menschenliebe; denn der Tod hat keine Herrschaft mehr über ihn, obwohl sein Leben endlich bleibt.

Dieses Ereignis ist (nur) existenziell erfahrbar und widersprüchlich erzählbar. Daher sprechen manche Denker von einer Torheit. Das gilt für (traditionelle) Metaphysiker, als auch für (moderne) Konstruktivisten, wenn diese die Vorläufigkeit des Problemlösens für endgültig halten. Letztere leugnen die Dynamik des Vorläufigen, provisorisch und antizipativ zugleich zu sein.

Kinder Abrahams und Erben der (abgebrochenen bzw. unvollendeten) Aufklärung

Europäische Gedanken zum Neuen Jahr 2019

Vor einigen Tagen erhielt ich zum Jahreswechsel ein Chronogramm, in dem es heißt, Europa solle sich seiner christlichen Wurzeln (radicis christianae) erinnern, um seine Einigkeit und seinen Bestand zu sichern. Diese Forderung ist gut gemeint, aber einseitig und in historischer Perspektive problematisch.

Wir Jetzt-Menschen in Europa/Vorderasien/Nordafrika sind alle „Kinder Abrahams“: Juden, Christen und Muslime. Und zu unserer Geschichte gehören von Anfang an Religionsspaltungen, Konfessionsbildungen, Religionskriege (die immer auch Machtauseinandersetzungen und Interessenkonflikte zur Grundlage hatten und haben), Pogrome und ideologischer Streit und Feindschaft. Gemeinsamer Anspruch der abrahamitischen Religionen und die historische wie gesellschaftliche Wirklichkeit widersprechen sich und bis heute bedarf es gemeinsamer Anstrengung und Empathie, diese Widersprüche und Gegensätze von den gemeinsamen Wurzeln her zu überwinden. Karl-Josef Kuschel, ein Theologe, der sich seit langem dem interreligiösen Dialog widmet, hat eindringlich darauf hingewiesen, „dass wir alle Kinder Abrahams sind“. (1)

Wir Jetzt-Menschen sind darüber hinaus alle „Erben der Aufklärung“, gleich welcher Konfession wir zugehören (durch Geburt oder/und Entscheidung) oder ohne Zugehörigkeit zu einer Konfession. Diese Aussage bedarf der Erläuterung, da wir oft diese Herkunft und Wirklichkeit verdrängen, verleugnen, verharmlosen oder gegen unsere religiöse Herkunft ausspielen. (2)

Wenn ich von „Aufklärung“ spreche, dann umfasst dieser Begriff nicht nur einen unabgeschlossenen historischen Prozess in Europa (mit sehr unterschiedlichen Resultaten und Wirkungen), sondern die grundlegende Möglichkeit und Notwendigkeit, begreifbare Probleme in Wissenschaft und Gesellschaft (Alltag) auf der Basis von Erfahrung (nicht Spekulation) zu lösen; mit Hilfe erfahrungswissenschaftlicher Methoden und unter dem Postulat von Mündigkeit und Autonomie. Dieser Prozess wird ideologiekritisch begleitet, ausgehend von Roger Bacon über Immanuel Kant und die Kritik der Politischen Ökonomie des Karl Marx bis hin zu einer zeitgemäßen Sprachkritik. (3)

Wir im Sinne dieser Aufklärung ausgebildete Jetzt-Menschen haben die zum Teil widersprüchlichen Arbeitsweisen und Erfahrungen verinnerlicht; zum Teil müssen wir lernen, mit ihnen zu arbeiten, und zu einem weiteren Teil leben wir in überholten Weltvorstellungen oder klammern uns an ideologischen Konstruktionen der Wirklichkeit. Ich erinnere – pars pro toto – an die umwerfende Bedeutung der Einführung der „arabischen Null“ in das beschränkte römische Zahlensystem, ich denke an Raimundus Lullus und seinen Versuch der Synthese unterschiedlicher Weltvorstellungen, ich verweise auf jüdische, christliche und muslimische Formen der Mystik, ich hebe jüdische, christliche und muslimische Denker im Zeitalter der Aufklärung hervor und verweise auf den impliziten wie expliziten Atheismus (im Sinne einer theologia negativa) in Judentum und Christentum.

Diese Lebens-, Erfahrungs- und Reflexionsprozesse prägen unser heutiges Welt- und Menschenbild. Ich kennzeichne dieses Weltbild als „anthropozentrisch“ (inklusive eines methodischen Atheismus) und spreche beim zugehörigen Menschenbild von „Autonomie“. Dieser Begriff bedeutet für mich – auf der Erfahrungsebene – nicht absolute Unabhängigkeit oder Freiheit, sondern ausschließliche Verantwortung des Menschen und der Menschen für ihr Denken, Handeln und Verhalten. Es gibt meiner Überzeugung nach keinen entlastenden Rückgriff auf eine „andere“ Wirklichkeit, auf den sog. Zufall (casus non datur) oder ein grundsätzlich „anonymes“ Schicksal.

Diese Überzeugung auf der Basis von Autonomie und aufgeklärtem Realismus (4) bedeutet im Detail:

  1. Wir sind notwendigerweise „methodische Atheisten“ (sic deus non datur), wenn wir Probleme lösen und damit wir sachgemäß Probleme lösen können; in Wissenschaft und Alltag (öffentlich wie privat).
  2. Wir erfahren – und wissen um – die Vorläufigkeit allen Problemlösens. Daher sind wir notwendigerweise kritisch und zweifelnd (ohne zu verzweifeln); ansonsten verfallen wir den Ideologien, den Illusionen und dem Aberglauben.
  3. Wenn wir die Dynamik des Vorläufigen erfahren und erkennen, sind wir implizit und/oder (im Einzelfall) Mystiker, die die „Utopie der Erlösung“ andenken, ohne in „Gottesgeplapper“ zu verfallen. Wir enträtseln die Oxymora unserer Sprachen und unserer Welt, ohne das „beredte Schweigen“ aufheben zu können. (5)
  4. Als Christ bin ich überzeugt (im Sinne von Vertrauen), dass auf der Basis und in der Form des jüdischen Messianismus die „Utopie der Erlösung“ konkretisiert ist.
  5. Die Botschaft der konkreten Utopie des Christentums ist in zweifacher Hinsicht formulierbar:
    • Jesus aus Nazaret ist der Messias;
    • Gott ist Liebe (agape/caritas); in der Interpretation des Johannesbriefes.

Die Konsequenzen aus dieser Doppelbotschaft für den Menschen bedürfen, um realisiert zu werden, der steten Übersetzung und Aktion; in messianischer Vorstellung und Sprache bedeutet das den Anbruch und die spezifische Gegenwart des „Reiches Gottes“. Wir Jetzt-Menschen sind (so formuliert Hannah Arendt) sterbliche Schöpfer. Das ist unsere Freiheit und Verantwortung.

Anmerkungen

  1. Karl-Josef Kuschel lehrte Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs an der Universität Tübingen und stellvertretender Direktor des Instituts für für ökumenische und interreligiöse Forschung. In der Weihnachtsausgabe der Frankfurter Rundschau Nr. 299 (2018) wurde er interviewt unter dem Titel: „Wer Christentum und Islam gegeneinander ausspielt, hat keine Ahnung von den gemeinsamen Wurzeln“. Im Gespräch erzählt Theologe Karl-Josef Kuschel, dass die „Heilige Nacht“ kein Privileg der Christen ist. Vgl. seine neueste Veröffentlichung: Karl-Josef Kuschel: „Dass wir alle Kinder Abrahams sind …“. Helmut Schmidt begegnet Answar as-Sadat. Ein Religionsgespräch auf dem Nil, Düsseldorf 2018
  2. Immanuel Kants Programmschrift von 1783 „Was ist Aufklärung“ trifft alle Menschen, Christen, Nichtchristen und auch Atheisten. Ich habe 2017 ein Buch geschrieben, das zu Gespräch und gemeinsamen Nachdenken auffordert: Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten. Ein Taschenwörterbuch, Münster 2017.
  3. Am unterschiedlichen Verhältnis von Staat und Religion, insbesondere vom jeweiligen Staat und den Kirchen in Europa lässt sich klar ablesen, dass der Prozess der Aufklärung auf unterschiedliche Weise steckengeblieben ist; und das gilt nicht nur für die einzelnen europäischen Gesellschaften, sondern auch für die jeweiligen rechtlichen Konstruktionen und die Theorieproduktion. Deswegen spreche ich von der „abgebrochenen“ Aufklärung. Vgl. die einzelnen Stichworte in meinem „Vademecum“ (für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten). Siehe Anm. 2
  4. Ich beginne in diesen Tagen unter diesem Stichwort des „aufgeklärten Realismus“ einen „Leitfaden zu einem zeitgemäßen Welt- und Menschenbild“ aufzuschreiben (Grundlagen für eine Theorie verantwortungsvollen Handelns und Verhaltens). Vgl. zu der Frage, was ein „zeitgemäßes Welt- und Menschenbild“ sein könnte: Günter Dux: Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Wiesbaden 2017 (4.A.) und Michael Zichy: Menschenbilder. Eine Grundlegung, Freiburg/München 2017. Hannah Arendts Aussage, die Menschen seien „sterbliche Schöpfer“ ist für diesen Leitfaden maßgebend.
  5. Wenn ich hier von „Mystik“ bzw. „mystischer Erfahrung“ spreche, dann nicht in einem religionsspezifischen Sinn, sondern ausgehend von der Position Wittgensteins – schon zu Ende seines Tractatus –, dass es Erfahrungen gibt, die sich „zeigen“ – und nicht „begriffen“ werden können (im sprachkritischen Sinn, aber sehr wohl kritisch analysiert werden können und müssen). Diese mystischen Erfahrungen sind grundsätzlich für alle nachdenkenden Menschen offen, sie sind streng zu unterscheiden von aller Esoterik und allem Aberglauben. Am Anfang dieser Erfahrung steht das Schweigen (nicht das „Gottesgeplapper“), aber es kann zum „beredten Schweigen“ werden – in der sprachlichen Form der Oxymora. Ich halte die Sprache des jüdisch-christlichen Messianismus für ein interessantes, sachgemäßes Ausdrucksmittel – auch in unserem zeitgemäßen anthropozentrischen Weltbild und autonomen Menschenbild – der konkreten Utopie der Erlösung; jenseits, besser: diesseits allen Problemlösens, das Wissenschaft und Alltag kennzeichnet. Daher spreche ich von der „Dynamik des Vorläufigen“ (im Gegensatz zu Siegfried J. Schmidt, der von „Endgültigkeit der Vorläufigkeit“ spricht; vgl. sein gleichnamiges Buch: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit. Prozessualität als Argumentationsstrategie, Weilerswist 2010)

Es lebe die Europäische Republik!

Phantasie für Europa! Daher am Samstag, 10. November, 16 Uhr: Raus auf den Balkon!

Am kommenden Samstagnachmittag, den 10. November 2018, werde ich auf unseren, zugegeben mickrigen Balkon in Metelen hinaustreten und ausrufen: Es lebe die Europäische Republik! Ich weiß, das wird niemanden interessieren und niemand wahrnehmen, aber ich schließe mich persönlich und privat einer europaweiten Aktion an, die Ulrike Guérot, eine deutsche Publizistin, und der international bekannte Schriftsteller Robert Menasse, geboren 1954 in Wien, ins Leben gerufen haben.

In ihrem Manifest heißt es: „Heute, am 10. November 2018, um 16 Uhr, 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges, der auf Jahrzehnte die europäische Zivilisation zerstört hatte, gedenken wir nicht nur der Geschichte, sondern nehmen unsere Zukunft selbst in die Hand. Es ist Zeit, das Versprechen Europas zu verwirklichen und sich an die Gründungsidee des europäischen Einigungsprojekts zu erinnern.“

Und zu Ende dieses Manifestes heißt es: „An die Stelle der Souveränität der Staaten tritt hiermit die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger. Wir begründen die Europäische Republik auf dem Grundsatz der allgemeinen politischen Gleichheit jenseits von Nationalität und Herkunft. Die konstitutionellen Träger der europäischen Republik sind die Städte und Regionen.“

Zugegeben, das Balkon-Projekt ist eine symbolische Geste, wie auch die Forderungen des Manifestes konkrete Utopie sind. Aber mit allen Mitteln, auch den unmöglichsten, müssen wir für ein demokratisches Europa mit einer europäischen Regierung und einem Europäischen Parlament werben und uns für die Weiterentwicklung einsetzen. Die sog. Mönchskrankheit der Schläfrigkeit am Mittag, also der geistigen Trägheit, von der Jürgen Habermas vor kurzem in seiner Preisrede zum Deutsch-Französischen Medienpreis (am 4. Juli 2018 in Berlin) gesprochen hat, muss dringend überwunden werden.

Übrigens erinnert der 10. November nicht nur an das Ende des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren, sondern auch daran, dass einen Tag zuvor um 14 Uhr der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Balkon des Berliner Reichstags die Weimarer Republik ausgerufen hat und Friedrich Ebert Reichskanzler wurde. Und es sollte nicht vergessen werden, dass zwei Stunden später, um 16 Uhr, vor dem Berliner Schloss Karl Liebknecht die sozialistische Republik ausgerufen hat; aber dies blieb – trotz Münchener Räterepublik und Spartakusaufstand – auf Dauer wirkungslos, schwächte aber die Weimarer Demokratie.

Sicher ist das EUROPEAN BALCONY PROJECT nur symbolisch zu verstehen, aber auch so müssen die nationalen Verhältnisse und Fixierungen „zum Tanzen“ gebracht werden. Daher wünsche ich mir, dass über dieses Projekt in allen Gremien, Parteien und Zirkeln diskutiert wird.

Und zum Schluss meiner Aufforderung, sich auf dem Balkon zu zeigen oder, wenn das nicht möglich ist, vor die Tür zu treten, stelle ich klar, dass auch in einer Europäischen Republik konstitutionelle Monarchien oder die Französische Republik als regionale Institutionen erhalten bleiben. Ich phantasiere, dass auch die Dänische Königin oder der spanische König auf ihren Balkon treten und ausrufen, jeweils in ihrer Sprache: „Es lebe die Europäische Republik!“

Zu weiteren Informationen: https://europeanbalconyproject.eu/en/

Überlegungen zu KAIROS oder der AUGENBLICK (nach Kierkegaard)

Søren Kierkegaard brachte die Zeitschrift „Augenblick“ (dänisch Ojeblikket) 1855 in Kopenhagen heraus; er war ihr Redakteur und einziger Beitragsschreiber. Neun Nummern erschienen in diesem Jahr 1855; die zehnte erst 26 Jahre nach dem Tode Kierkegaards (im November 1855). 1988 ist diese „Zeitschrift“ DER AUGENBLICK auf Deutsch in Nördlingen erschienen; hrsg. Von H.M. Enzensberger in seiner Reihe „Die andere Bibliothek“.

Ich wurde durch einen Vortrag in der letzten Woche, in dem ein Bogen von Hegel und Marx zu Kierkegaard geschlagen wurde, an diesen exzentrischen dänischen Theologen und Existenzphilosophen erinnert und hoffte, dass der von mir gebrauchte Begriff „kairos“ (im Gegensatz zu chronos) bei Kierkegaard eine spezielle Auslegung fände. Zunächst fand ich die mir bekannte (und im Alter gesteigerte) Polemik Kierkegaards gegen das verwaltete Christentum und dessen Repräsentanten: die dänisch-lutherische Staatskirche und ihre Bischöfe und Pfarrer. Diese ätzende Kritik ist der „rote Faden“ aller Beiträge dieser fiktiven Zeitschrift.

In dem Beitrag vom 29. Mai 1855 beantwortet Kierkegaard die Frage: Wann ist der „Augenblick“?

„Denn der Augenblick ist eben das, was nicht in den Umständen liegt, das Neue, der Einschlag der Ewigkeit (Hervorhebung von mir) – aber im selben Nu beherrscht es die Umstände in dem Grade, dass es trügerischerweise (darauf berechnet, weltliche Klugheit und Mittelmäßigkeit zum Narren zu halten) so aussieht, als ginge der Augenblick aus den Umständen hervor.“

Im weiteren nennt Kierkegaard den Augenblick das „Geschenk des Himmels“ und schließt seine Antwort mit der für ihn typischen überspitzten Aussage:

„Weltliche Klugheit ist ewig ausgeschlossen, im Himmel mehr verachtet und verabscheut als alle Laster und Verbrechen, wie sie ist; denn sie gehört ihrem Wesen nach von allem am meisten dieser elenden Welt an und ist am meisten von allen davon entfernt, mit dem Himmel und dem Ewigen zu tun zu haben.“ (a.a.O. S. 254)

Hier wird das „Lob der Torheit“ in der Kierkegaardschen Fassung besungen; anders als bei Erasmus von Rotterdam, obwohl sich beide auch auf Paulus aus Tarsus beziehen. Kierkegaard verweist in seinen Beiträgen zum „Augenblick“ auf die Tradition: er beginnt mit seinem „Kronzeugen“ Sokrates (ich weiß, dass ich nichts weiß) und kulminiert in der Demontage der Klugheit jüdischer Schriftgelehrter durch Jesus aus Nazaret.

Ich ergänze die Tradition dieser Denkschule und ihrer Lebenspraxis mit Hinweis auf Diogenes und die Kyniker aus hellenistisch-jüdisch-römischer Zeit. Heutzutage formuliert Bernhard Lang (2015):

„Wir können Jesus als eine Diogenesgestalt sehen. Er verdient einen Platz unter den Philosophen der antiken Welt“. (S. 46, B. Lang: Jesus, der Philosoph, Gütersloh 2015; vgl. Bernhard Lang: Jesus, der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, München 2010) Und auch die Vision und Botschaft des Paulus aus Tarsus in Kleinasien – in seiner Kenntnis und Auseinandersetzung mit der Stoa und den Kynikern seiner Zeit gehören in diesen Kontext.

Ich kehre zu der Auffassung von Kierkegaard zurück, Ewigkeit (oder Erlösung) nicht als chronologischen Wende- oder Endpunkt zu deuten, oder – aus der jüdisch-christlich-apokalyptischer Tradition heraus – als Wiederkunft Christi am Ende der Zeit chronologisch misszuverstehen. Kierkegaard spricht vom „Einschlag der Ewigkeit“, der nicht aus den „Umständen“ der Geschichte erklärt werden kann, sondern ein Ereignis sui generis ist.

Aber anders als Kierkegaard ziehe ich aus diesem Ereignis eine entgegengesetzte Konsequenz: dieser „Einschlag“ bedeutet nicht Abschied oder Trennung von der „elenden Welt“, sondern metanoia, Metamorphose. Entweltlichung ist keine Weltflucht, sondern im Sinne Jesu und seines Botschafters Paulus Befreiung – im Sinne der Nachfolge Jesu, unkonventionell, als radikale Menschenliebe. Ich erkenne im Neuen Testament, in der Botschaft wie im Verhalten Jesu, als auch in Theorie und Praxis seines Botschafters Paulus keine dualistische Tendenz (wie z.B. in Teilen der Gnosis oder des Manichäismus).

Menschen, die das Ereignis vom Einschlag der Ewigkeit erfahren und bekennen, sind befreit, passen sich dem herrschenden Äon dieser Welt nicht an, sondern schaffen eine neue Welt in der bestehenden. Paulus nennt dieses Verhalten in Theorie und Praxis im Römerbrief einen vernünftigen Gottesdienst (latreia logiké): „Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt, sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr zu prüfen vermögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“ (Röm 12,2)

Kierkegaard ist meiner Überzeugung nach in der Gefahr, dieses Ereignis – ich spreche in anderem Zusammenhang von konkreter Utopie – gnostisch/manichäistisch misszuverstehen. Daher führt seine Position der Entweltlichung in den Rückzug aus der (bösen) Welt und zur Verdammung der Institutionen – nicht zu ihrer Reform.