Anthropologie der Aufklärung: Exposé meiner Argumentation (Münster 2023)

Grundlage und Ziel meines Projektes: Aufklärung zu Ende denken

Seit langem versuchen Religionsphilosophie – und auch die Soziologie der Religion das Verhältnis von Profanem und Heiligem und den vermeintlichen Ursprung von beiden zu klären. Demgegenüber hinterfragt mein Projekt der Aufklärung diese Dualität und entwickelt die Möglichkeiten – ich spreche auch von Potenzen – eines einheitlichen menschlichen Bewusstseins – individuell wie sozial/geschichtlich – von Wahrnehmung, (aenigmatischer) Erkenntnis, Projektion und Utopie. Ich beschreibe in einer Theorie des Aufgeklärten Realismus diese Potenzen (oder Leistungen) dieses Bewusstseins am Ende des Anthropozän. „Anthropologie der Aufklärung: Exposé meiner Argumentation (Münster 2023)“ weiterlesen

EINSPRUCH: Kriegstüchtigkeit – ein missverständlicher Begriff – für eine aktive Friedenspolitik und einen aufgeklärten, pragmatischen Pazifismus ungeeignet

Der Bundesminister der Verteidigung stellt immer wieder die Frage, ob – und erhebt die Forderung, dass – die Bundeswehr „kriegstüchtig“ werden muss. Er will damit Stärke in der Sprache als verantwortlicher Politiker zeigen, löst meiner Überzeugung nach dadurch Missverständnisse und unverantwortliche Emotionen aus.

Das Grundgesetz kennt allein die Friedenssicherung und den Verteidigungsfall. Handlungen, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben zu stören, insbesondere die Vorbereitung eines Angriffskrieges, sind verfassungswidrig und stehen unter Strafe (Artikel 26).

Der Verteidigungskrieg ist und bleibt eine Notmaßnahme, die natürlich effektiv vorbereitet sein muss. Aber diese Maßnahme ersetzt keine Bemühung um Frieden, geschweige denn, dass sie friedliche Verhältnisse und einen vertraglichen Frieden schafft. Frieden muss verhandelt, durchgesetzt und gesichert werden. Das ist die primäre Aufgabe verantwortlicher Politik.

Maßnahmen der Schaffung, Sicherung und Erhaltung von Frieden und Maßnahmen des effektiven Grenzschutzes und der Verteidigung schließen sich nicht aus, sondern müssen sich ergänzen. Diese Verknüpfung ist für mich als aufgeklärten, pragmatischen Pazifisten entscheidend, da ich an der Utopie des „ewigen Friedens“ festhalte, „Krieg“ niemals ein Mittel zu irgendeinem Zweck sein kann. Aber der Friede zwischen Menschen, Staaten und in der Gesellschaft muss stets wieder durchgesetzt werden; auf der Basis von Menschenwürde und Menschenrecht – und mit Empathie.

Wer Kriegstüchtigkeit zur Norm erhebt, verletzt die Menschenwürde. Wer Macht ausübt und diese Ausübung missbraucht, muss entmachtet und in einem gerechten Verfahren bestraft werden. Demokratische Staaten und Gesellschaften kennen und praktizieren legale Machtausübung auf Zeit. In ihnen werden Verbrechen gesetzmäßig geahndet, ohne Menschenwürde und Menschenrechte außer Kraft zu setzen. Das ist meine Überzeugung eines pragmatischen Pazifismus.

Notwendige und Sinn-erschließende Übersetzung der Leistungen des menschlichen Bewusstseins vom theozentrischen ins anthropozentrische Weltbild

In einem Weltbild lassen sich die grundsätzlichen Erkenntnismöglichkeiten des menschlichen Bewusstseins in einer jeweiligen Epoche (Weltverständnis) aufzeigen und zusammenfassen. Ich unterscheide die Vorstellungen, Denkmöglichkeiten (Potenzen) und Sprachformen (Sprachspiele) vor und nach der Aufklärung und kennzeichne sie zusammenfassend als theozentrisches und anthropozentrisches Weltbild.

Die Ablösung der Weltbilder lässt sich sowohl historisch als auch strukturell beschreiben. Der Ablösungsprozess verläuft sowohl chronologisch als auch gleichzeitig – in struktureller Konkurrenz – ab.

Im theozentrischen Weltbild (der zwei Wirklichkeiten) sind Theophanie, Apotheose und Adoptionismus vorstellbar und in religiösen Sprachspielen erzählbar. Die Welt der Götter/des Gottes und die Welt der Menschen auf der Erde stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander und werden in vielfältigen Schöpfungsmythen erzählt. Paradieserzählungen stehen oft am Anfang oder werden zukünftig erwartet.

Im anthropozentrischen Weltbild wird die Trennung von Himmel und Erde (und Unterwelt) als Mythos entziffert. Aufgeklärte Menschen halten auf der Basis dieser Welterkenntnis Paradiesvorstellungen (sowohl im Himmel wie auf der Erde) für eine erklärbare Illusion.

Die Frage ist: Bleibt dem aufgeklärten homo sapiens am Ende des Anthropozän nur der allgemeine Pantheismus oder eine vielfältige Form des Atheismus als mögliche Weltanschauung? Meine Antwort ist: Nein!

Zumindest die hebräische Bibel – als Grunddokument von Judentum und Christentum – und ihre griechische Übersetzung (LXX) kennen das Messianische Denken; die Propheten erwarten den Messias als (konkrete) Utopie in vielfältigen apokalyptischen (und damit chronologisch erzählten) Sprachspielen. Die Zeit/Wiederkehr des Messias/Christus ist nahe (als Naherwartung oder in kairologischer Erfahrung – jenseits von Raum und Zeit. In dieser Utopie ist Erlösung universal denkbar, konkret vorstellbar und überzeugend (als Credo/Glaube) mitteilbar.

Ich behaupte, auch für aufgeklärte Menschen – nicht nur aufgeklärte Juden und Christen – ist Erlösung denkbar. Das bedeutet: Atheismus muss keine Weltanschauung sein, sondern auf die „Gotteshypothese“ (so Bonhoeffer) beim Lösen von Problemen im Alltag, in der Gesellschaft und in der Wissenschaft kann verzichtet werde. Ich spreche daher vom „methodischen Atheismus“.

Da alles Problem-Lösen vorläufig ist (Provisorium und Antizipation zugleich), kann und muss Erlösung im heutigen Bewusstsein der Menschen mitgedacht werden. In das anthropozentrische Weltverständnis übersetzt, bedeutet das: Erlösung (konkret: der Erlöser) kann kairologisch erfahren und mitgeteilt werden: als Befreiung und Umkehr.

Für aufgeklärte Christen ist die Botschaft des Messias Jesus aus Nazaret maßgebend (dokumentiert in den „Evangelien“ des Neuen Testamentes als Explikation der prophetischen Verheißungen) und es gilt der kategorische Imperativ des exil-jüdischen Schriftgelehrten Paulus aus Tarsus: „Euer Leben sei ein ‚vernünftiger Gottesdienst‘“ (eine griech. latreia logiké).

p.s.

Chronologisch erzählte Messias-Erwartungen müssen in kairologisch erfahrene Befreiung übersetzt werden.

Gerade habe ich gelesen:

(1) Daniel Boyarin, Die jüdischen Evangelien. Die Geschichte des jüdischen Christus, Würzburg 2015, Judentum, Christentum, Islam. Interreligiöse Studien, Bd. 12 (übersetzt aus dem Amerikan., New York 2012)

Rosenmontagerinnerung

oder: Der Niederrheiner in mir

Seit langem lebe ich im Münsterland, bin 80 Jahre alt, die Zeit des Karnevals hat begonnen, wenn man den Zeitungsberichten über Prinzenpaare, Karnevalssitzungen und Tanzformationen glauben darf.

Heute habe ich eine Tüte, gefüllt mit Puderzucker bestreuten Mutzen erhalten, erworben bei der hiesigen Bäckereifiliale.

B. weiß aus Geschichten meiner Kindheit am Niederrhein, dass meine Mutter am Rosenmontag jedes Jahres Mutzen und Mutzenmandeln auftischte, mit Puderzucker bestreut. Dazu gab es am Nachmittag, nach dem obligatorischen Besuch des Krefelder Rosenmontagszuges mit dem Einfangen und Einsammeln zahlloser Karamelbonbons, die ich als Beute mit nach Hause nahm, aber nie lutschte – ein trotz Nachkriegszeit verwöhntes Einzelkind – heiße Schokolade.

Siebzig Jahre später brühe ich mir am späten Nachmittag einen doppelten Espresso und beiße auf die weiß bepuderten Mutzen. Spontan schmecke ich den Unterschied: damals hatte der Teig mehr Blasen, war dünner und die rautenartig geformten Plätzchen schmeckten leicht süß; verstärkt durch den heißen Kakao, der vielleicht aus einem Care-Paket der Engländer stammte. Das war meine Kindheitssehnsucht an jedem Rosenmontag im Jahr.

Ich bin erstaunt, nicht verwundert über mein präzises Erinnerungsvermögen, die Geschmackserinnerung meines Bewusstseins nach so langer Zeit. Man/frau verzeihe mir diese Formulierung; gerade habe ich Hugo Lagercrantz Buch (Berlin 2019, wissenschaftlich komplex) über die Entwicklung des frühkindlichen Gehirns: Die Geburt des Bewusstseins gelesen.

Ich erinnere die damalige Bäckerei an der Ecke Nordstraße in Krefeld und den jährlich wiederkehrenden Genuss dieses Rosenmontagsgebäcks in der sonst so genussarmen Nachkriegszeit.

Ich denke sowohl über die Erinnerungsmöglichkeit und -Leistung meines Bewusstseins nach, als auch die mangelnde Kenntnis des westfälischen Bäckers, rheinische Mutzen herzustellen. Nach einiger Zeit des Grübelns – der Esspresso schmeckt nicht zu den Mutzen und die Mutzenmandeln fehlen – vermute ich eine grundlegende Differenz zwischen niederrheinischem und münsterländer Gebäck und Geschmack.

Und ich verallgemeinere (typisch philosophisch): der westfälische Geschmack ist herber und bissfester als das rheinische, süßere Empfinden. Und ich übertrage meine Erkenntnis auf eine andere Leibspeise: Wurstebrot (westfälisch) und Panhas (rheinisch).

Und ich schließe meine Rosenmontagsanalyse mit der Einsicht: seit über 50 Jahren lebe ich im Münsterland, aber mein Geschmack ist niederrheinisch geblieben; zumindest in der Erinnerung.

p.s. (lt. Wikipedia)

Mutzen, auch Mutze (ich kenne nur den Plural), sind ein rheinisches Siedegebäck (in Rautenform), das traditionell zu Karneval und Silvester hergestellt wird. Neugierig spüre ich im etymologischen Wörterbuch nach und finde: (ital.) mozzare (abschneiden) und zur Sprachfamilie gehörend (im 20. Jahrh.) „aufmotzen“.

Universalismus statt Tribalismus

Susan Neiman, amerikanische Philosophin und seit 2000 Direktorin des Einstein Forums in Potsdam hat zum 50. Jahrestag der Grundwertekommission der SPD einen Vortrag gehalten, der in verkürzter Form in der Frankfurter Rundschau (FR Nr. 281 vom 2./3. Dezember 2023) veröffentlicht wurde: „Wer die Hoffnung auf Fortschritt aufgibt, ist nicht mehr links“, in dem sie im Sinne der Aufklärung und der jüdischen Tradition in Deutschland den Tribalismus, und damit alle Formen des Rassismus verurteilt. Sie erinnert in diesem Kontext an Moses Mendelsohn, Heinrich Heine, Karl Marx, Eduard Bernstein, Albert Einstein, Walter Benjamin und Hannah Arendt.

Ich stimme der grundsätzlichen Kritik an jeder Form von Tribalismus (inklusive Antisemitismus und Nationalismus) zu und verweise zusätzlich auf Hermann Cohen (aus dem Neukantianismus kommend) und Franz Rosenzweig (Stern der Erlösung) und das aus den Propheten-Erzählungen der jüdisch-christlichen Bibel stammende messianische Denken.

Ich habe in meinen Überlegungen zur Anthropologie der Aufklärung (siehe: Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän, Münster 2023) versucht, das Programm der Aufklärung mit dem Messianischen Denken der Erlösung des Judentums wie des Christentums zu verknüpfen, um so „Stammesdenken“ und Nationalismus wie Rassismus, als auch „Volkstümelei“ zu überwinden.

Erlösung (als konkrete Utopie) weltweit zu denken und zu erhoffen und das religiös geprägte Stammesdenken zu überwinden, verbindet aufgeklärte Christen und Juden mit allen aufgeklärten Menschen, denn der Universalismus hat eine entscheidende Wurzel in den prophetischen Schriften der jüdischen Bibel.

Das messianische Denken widerspricht nicht den Exodus-Erzählungen des „Volkes Gottes“, sondern diese sind der konkrete (geschichtliche) Ausgangspunkt der messianischen Erwartungen. Auch wenn bis heute die Differenz zwischen dem erschienenen und dem zu erwartenden Messias bei Christen und Juden erhalten bleibt, verbindet beide das messianische Denken und Hoffen (wenn auch in unterschiedlichen Vorstellungen) als Utopie der Erlösung für die Menschheit und die Welt.

Schon zur Zeit des Jesus aus Nazaret existierten jüdische Gemeinden in der weltweiten Diaspora, in Distanz zur Tempelfrömmigkeit in Jerusalem.Schon weit vor der „Zeitenwende“ (im christlichen Verständnis) leben jüdische Gemeinden „zerstreut“ im Römischen Reich und auch die Dynamik des Christentums entwickelt sich in Kleinasien; verstärkt durch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch römische Truppen um 70 n.Chr. Die Botschaft der Erlösung im Sinne der Messias-Erwartung ist universal und nicht mehr stammes- oder tempel-gebunden.

Schon im Hebräerbrief – vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels verfasst – wird argumentiert, dass die Hinrichtung des Messias am Kreuz und seine erlösende Wirkung („Auferstehung“) außerhalb des Tempelbezirkes stattgefunden hat.

Das messianische Denken bei Diaspora-Juden wie bei Christen ist nicht mehr tempelgebunden bzw. kultgebunden (Beschneidung). Paulus aus Tarsus in Kleinasien ist ein typischer jüdischer Schriftgelehrter des Diaspora-Judentums, der in griechischer Sprache argumentiert und nach dem Scheitern der Reform der jüdischen Gemeinden zum „Weltapostel“ des Christentums wird.

Seine Erlösungsbotschaft hat sich radikal von kultischen Stammesvorstellungen gelöst. Die jüdisch-christliche Ablehnung des Tribalismus erlaubt und ermöglicht aufgeklärten Menschen, auch im 21. Jahrhundert Jude oder Christ zu sein. Zwischen der Bedeutung von „Volk“. „Raum“ und „Heimat“ muss unterschieden werden.

Nationalistische, rassistische Positionen, religiös begründet, widersprechen dem messianischen Denken der Bibel grundsätzlich. Daher müssen auch die jüdische „Orthodoxie“ wie christlich-dogmatische Kirchenideologien kritisch hinterfragt werden.

Was ist der aufgeklärten Christen Heimat?

Was ist die „Heimat“ der Menschen, die sich auf unterschiedliche Weise zum Judentum bekennen? Ich spreche sowohl von den Reformjuden als auch von den Orthodoxen, von den Diasporajuden bis zu den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern des heutigen Staates Israel.

Wenn ich Michael Wolffsohn in seinem Buch „eine andere jüdische Weltgeschichte“ (Freiburg 2022) recht verstehe, ist die Antwort: Heimat sind für die jeweils Betroffenen alle Gegenden der bewohnten Erde, in denen jüdische Gemeinden als religiöse Gemeinschaften – seit langem – existieren. Verstärkt wird diese Antwort durch die Realität und die Folgen des Holocaust.

Jüdischen Menschen, die religiös praktizieren (wenn auch in unterschiedlicher Strenge) oder aus orthodoxen Familien stammen, und in verschiedenen Gegenden Europas lebten, wurden durch die deutsche Nazi-Herrschaft systematisch ausgerottet, auch wenn dieses Verbrechen, dieser „liquidierende Antisemitismus“ (so Wolffsohn) nicht hundertprozentig „erfolgreich“ war, trotz über 6 Millionnen ermorderter Menschen. So gibt es heute (wieder) deutsche Juden, also Menschen, deren Heimat (in) Deutschland ist.

Aber da es in Deutschland auch nach der Nazi-Diktatur, also nach 1945 weiterhin mentalen Antisemitismus gab und in immer offensiverer und kriminellerer Weise gibt, verstärkt durch Einwanderung und Fluchtbewegung, verstärken sich auch die Sorgen und Ängste der deutschen jüdischen Bevölkerung. Diskriminierung und Angriffe auf Leib, Leben und Synagogen nehmen rapide zu.

In dieser menschenunwürdigen Situation gab und gibt es (noch) einen sicheren Fluchtpunkt: der im letzten Jahrhundert gebildete Staat Israel, der nicht nur für die orthodoxen Juden das „gelobte Land“ der Bibel ist.

Aber auch diese Sicherheit war und ist gefährdet, weil die Bildung eines zweiten Staates verhindert wurde – und der (mein) Traum eines gemeinsamen Staates, in dem alle Menschen friedlich und gemeinsam leben können (Juden, Muslime, Christen, Beduinenstämme und Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft (mehr) angehören) unerfüllt bleibt. Meine Vorstellung und mein Wunsch einer gemeinsamen Heimat wird konterkariert durch Hass, Terror und Krieg – Formen der Vernichtung. Das Bewusstsein vieler Menschen bleibt geprägt durch Vertreibung und Vernichtung.

Programm und Prozess der Aufklärung leben von dem Ziel, dass alle Menschen am Ende des Anthropozän eine Heimat haben, in der sie gemeinsam, frei, menschenwürdig, gesund und ohne Hunger und Not leben können.

Zur Zeit leben erst unter 30 % der Weltbevölkerung in (demokratischen) Staaten, die zumindest das Ziel des Prozesses der Aufklärung anerkannt haben und dafür arbeiten, dieses Ziel weltweit zu realisieren.

Angesichts dieser Analyse der Realität stelle ich die präzise Frage, was der Christen Heimat sei. Die traditionelle Antwort, Christen hätten auf der Erde keine Heimat, ihre Heimat sei der „Himmel“ – formuliert in einem religiösen Sprachspiel – ist am Ende des Anthropozän nicht nur naiv, sondern un-sinnig; übrigens genau so wie die Vorstellung, ein „Paradies auf Erden“ schaffen zu können.

Aufgeklärte Christen (Messias-Überzeugte) leben in der Tradition des messianisch-jüdischen Täufertums (während der Zeitenwende). Sie leben in der Überzeugung, dass Jesus aus Nazaret der Messias ist. Diese Überzeugung befreit sie von allem Kult, allem Aberglauben und aller Verzweiflung angesichts der Endlichkeit ihres individuellen Lebens.

Diese konkrete Utopie der Erlösung ist erfahr-, erzähl- und weitererzählbar und befähigt den Christen zu erkennen, „was gut und vollkommen ist“ (so Paulus aus Tarsus in seinem Brief an die Römer). Ich übersetze diese Erkenntnis: sie befreit den Menschen, die Probleme dieser Welt zu lösen, wenn auch in der Dynamik des Vorläufigen, in der konkreten Utopie der Erlösung.

Daher stimme ich der Aussage von Hannah Arendt (1958) zu:

„Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden“. Arendts Aussage hat zwei Teile: einen Indikativ (= der homo sapiens ist ein sterblicher Schöpfer, kein Geschöpf) und einen daraus folgenden Imperativ (= die Welt des homo sapiens muss dauernd erneuert werden).

Ich übertrage diese Erkenntnis in meine Argumentation: die Menschen können die Probleme ihres endlichen Lebens auf der Erde selbstbewusst und selbstverantwortlich lösen. Aus der Endlichkeit ihres individuellen Lebens resultiert die Vorläufigkeit aller Problemlösungen (provisorisch und antizipativ).

Die Konsequenz dieser Vorläufigkeit besteht darin, alle Problemlösungen zu überprüfen und gegebenenfalls zu erneuern; im Sinne von Menschenwürde, Gerechtigkeit und Empathie.

Angesichts dieser Überlegung wiederhole ich meine Frage nach der Heimat der Christen und antworte: die von Menschen bewohnte Erde und ihre Natur sind die Heimat. Aus der Zusage der Erlösung ergibt sich der universale Auftrag, die befreiende Verpflichtung, die „Welt im Sein zu erhalten“(so H. Arendt).

Trotz der unlösbaren Differenz in Bezug auf die Messias-Erwartung zwischen Juden und Christen, sind die Aussagen der biblischen Propheten die gemeinsame Wurzel: Heimat ist für Christen wie Juden die bewohnbare Erde unter der Zusage der Erlösung der Welt – für alle Menschen.

Vom Bewusstsein und der Überzeugung aufgeklärter Menschen am Ende des Anthropozän

Auf einem Kalenderblatt des Monats September fand ich den Spruch: „Gläubige brauchen keine Erklärung, Ungläubigen hilft keine Erklärung“. Diese Aussage, vom Kalender als „Sprichwort“ gekennzeichnet, ist doppelt unsinnig.

Ohne die Möglichkeit und Notwendigkeit zu erklären, werden aus Gläubigen Abergläubige, Wundergläubige oder Spinner; und aus Ungläubigen werden Ideologen, Weltanschauungsatheisten oder Kritiker aus Prinzip.

Wer überzeugt ist, zweifelt aus Einsicht, ohne zu verzweifeln. Überzeugend ist nur der, der seine Überzeugung erklären kann, auch wenn im Einzelfall seine Argumentation sprachlicher Oxymora bedarf.

Der alltägliche Gebrauch des deutschen Wortes „glauben“ ist mehrdeutig und mehr als missverständlich. Die Differenz von credere und putare im Lateinischen geht verloren oder der Gebrauch wird missbraucht.

Daher sind mir alltägliche wie verfremdete religiöse Sprachspiele höchst verdächtig, sofern sie nichts (er-)klären, sondern nur behaupten. Sie sind sinn-los. Nur wer argumentiert, kann überzeugen.

Daher weisen aufgeklärte Menschen, Christen, Muslime wie Atheisten, die Anfrage: Was glaubst Du? zurück und entgegnen mit der Rückfrage, was mit dem Wort „glauben“ gemeint sei: unerklärtes, ungeklärtes, unerklärbares „meinen“ oder eine argumentativ begründete Überzeugung, die den Zweifel einschließt.

Überzeugungen werden im Gespräch verstehbar: sie entsprechen dem „beredten Schweigen“ (Oxymoron), sie klären auf, indem sie zwischen chronologischen Vorstellungen und kairologischen Erfahrungen unterscheiden.

Wer die Kunst der Unterscheidung leugnet, bleibt im Labyrinth des Aberglaubens und der Magie gefangen. Wer zu unterscheiden weiss, wer zu argumentieren vermag, der weiss um die Dynamik des Vorläufigen – beim Wahrnehmen wie Erkennen.

Die Potenz des menschlichen Bewusstseins, (alltägliche wie wissenschaftliche) Probleme zu lösen, ist vorläufig (provisorisch) wie vorausschauend (antizipativ) zugleich.

Ich differenziere zwischen drei Möglichkeiten (Potenzen) des Bewusstseins zu denken: das begreifende Denken, das poetische Denken (auch erzählendes Denken) und das utopische Denken.

Dem entsprechen drei verschiedene Sprachspiele: das logische Sprachspiel (auch mathematisches Sprachspiel), die erzählende Sprache (Poesie) und das utopische Sprachspiel (kairologische Erfahrungen jenseits von Raum, Zeit und Vergänglichkeit – im Gegensatz zu chronologischer Wahrnehmung bzw. Erkenntnis).

Wahrnehmen und Erkennen des homo sapiens am Ende des Anthropozän

sind aenigmatisch strukturiert („videmus nunc per speculum in aenigmate“, Ad Cor.I, 13, Paulus aus Tarsus, jüdischer Schriftgelehrte und griechisch sprechender antiker christlicher Philosoph).

 

Dr. Jürgen Schmitter M.A. Metelen, am 21. November 2023

Was ist der menschliche Geist (mind)? – Was ist Aufklärung (enlightenment)?

Was ist der menschliche Geist (mind)?

Was ist Aufklärung (enlightenment)?

Auf diese Fragen antworte ich zum argumentativen Gebrauch als Philosoph: Gemeint ist die Fähigkeit des homo sapiens, durch sein Bewusstsein zu denken und sich zu denken (Entwicklung des Selbstbewusstseins).

Am Anfang der Bewusstseinsbildung des homo sapiens steht die Gesprächsfähigkeit, die Kommunikation. Die Möglichkeit des Gespräches schafft Verständigung. Die Verständigung in der Menschengruppe und die Entwicklung des individuellen Bewusstseins sind seit Beginn des Lernens des einzelnen Lebewesens, also seit seiner Entstehung, in einer dauernden Wechselwirkung.

Die Möglichkeiten und Leistungen des Bewusstseins bezüglich seiner Inhalte lassen sich als gemeinsame Schnittmenge von Natur und Norm (der Kulturbildung) beschreiben. Die Fähigkeit zu denken ist von Anfang an ein Prozess des Verstehens und der Verständigung. Daher entwickelt sich die Bildung des Bewusstseins in der Form des Gespräches; sei es zwischen Mutter und Kind (schon vor der Geburt) oder in der Wahrnehmung der Umwelt.

Das Bewusstsein des Menschen hat drei zu unterscheidende Denkmöglichkeiten; diese drei Möglichkeiten (Potenzen) sind (zunächst) an der Entwicklung der menschlichen Sprache abzulesen:

  1. Sprachspiele, die logisch aufgebaut und rekonstruierbar sind; Grundlage ist das begreifende Denken.
  2. Sprachspiele, die erzählend/poetisch aufgebaut sind und zwischenmenschliche Erfahrungen zum Ausdruck bringen; ich spreche vom poetischen Denken.
  3. Sprachspiele religiöser Art, die ein theozentrisches Weltbild zur Voraussetzung haben und – gemäß des Projektes der Aufklärung – der Übersetzung auf der Grundlage heutiger anthropozentrischer Weltdeutung bedürfen, um ihre (existenzielle) Bedeutung in aenigmatischer Form zu erkennen.

Entweder sind religiöse Aussagen (auf theozentrischer Basis) Projektionen und/oder steckt in ihnen eine (verborgene) Botschaft in Form einer Utopie. Ich spreche in diesem Fall vom utopischen Denken.

Religiöse Sprachspiele bedürfen der Übersetzung, da sie mehrdeutig oder sinn-los sind. Sinnlos ist ein Sprachspiel, wenn es nicht kommunikativ ist.

Das Bewusstsein projiziert seine Raumerfahrung in eine Mehrzahl von Räumen (z.B. Erde, Himmel, Unterwelt). Es projiziert seine Zeiterfahrung (im chronologischen Sinn) in ein verursachtes oder erwartetes Ende (im Sinne der Apokalypse).

Demgegenüber verweist das utopische Denken – und die entsprechenden Sprachspiele – auf menschliche Erfahrung ausserhalb von Zeit und Raum, aber innerhalb der Denkmöglichkeiten des menschlichen Bewusstseins. Ich spreche daher von kairologischer statt chronologischer Erfahrung. Wenn von „Augenblick“ oder „Ewigkeit“ gesprochen wird, wenn Oxymora benutzt werden (wie z.B „Menschwerdung Gottes“), kann die Utopie der Erlösung gemeint sein. Da die Menschen sterblich sind, kann  „Erlösung“ nur in utopischer Weise gedacht und gesprochen werden (jenseits von Raum und Zeit).

Wie können die Potenzen des sterblichen Bewusstseins einheitlich – ohne Hilfe metaphysischer Konstruktionen – zusammengefasst werden?

Die einheitliche Aktivität des Bewusstseins – bei unterschiedlichen Denkmöglichkeiten – besteht darin, Probleme zu lösen (erfolgreich und wiederholbar). Diese Lösungen sind vorläufig (im doppelten Sinn: provisorisch und antizipativ), da die Schöpferkraft des homo sapiens begrenzt, sterblich ist.

Daher spricht Hannah Arendt davon, dass die Menschen sterbliche Schöpfer sind (1958/2000) (– und keine Geschöpfe).

Erlösung ist die Hoffnung allen Problemlösens; diese Konsequenz kann als (konkrete) Utopie gedacht und bekannt werden (im Sinne von bekennen).

 

p.s.

Problemlösungen (im weiten Sinn) können erinnert, gesammelt und „ausgelagert“ werden (Schrift,Papyrus, Buch, Bibliothek, Internet – AI); das ändert nichts an ihrer Vorläufigkeit und der Verantwortung (der homo sapiens als homo praestans).

Die jüdisch/christliche Bibel  kennt zwei grundlegende Erzählungen: die messianische Perspektive der Erwartung der Erlösung (in der konkreten Utopie des Erlösers/Messias) und die rückblickende Schöpfungsperspektive (Schöpfungsmythen/Paradiesvorstellungen). Für die jüdische Täuferbewegung in der Konsequenz der Prophetenreden ist das messianische Denken (die Erwartung des Messias) primär; der Rückblick auf die Schöpfung der Welt und die Erschaffung des Menschen sind sekundär.

Der Rückblick auf den Anfang setzt ein theozentrisches Weltverständnis voraus; Gott als Schöpfer, der Mensch als Geschöpf. Dieses Verständnis drückt sich in religiösen Sprachspielen aus (religo = Rückbezug).

Die Messias-Erzählungen sind zukunftsorientiert (Utopie der Erlösung; konkret: Messias-Utopie). Das messianische Denken kann daher auch in das anthropozentrische Weltbild integriert und übersetzt werden. In diesem Weltverständnis wird „Gott“ zu einer aufzuhebenden „Arbeitshypothese“ (so Dietrich Bonhoeffer); dennoch kann Erlösung (als Utopie) gedacht werden.

Diese Überlegung erlaubt mir einerseits beim Lösen von Problemen einen „methodischen Atheismus“ zu unterstellen, andererseits „Erlösung“ als konkrete Utopie zu denken und zu bekennen. Daher folgere ich: ein aufgeklärter Mensch (am Ende des Anthropozän) kann ein methodischer Atheist und zugleich ein aufgeklärter Christ sein.

Dieses Resultat ergibt sich auch, wenn ich das Programm der Aufklärung konsequent zu Ende denke und nicht mit Immanuel Kant (Was ist Aufklärung? 1783) beginne, sondern mit Erasmus von Rotterdam und seiner Korrektur des Prologs des Johannes-Evangeliums in der Vulgata-Übersetzung des Hieronymus: logos = sermo, nicht verbum; im Anfang war das Gespräch, nicht das Wort (vor 1518). Übrigens: Martin Luther kannte diesen Übersetzungsvorschlag von Erasmus in einigen seiner lateinischen Varianten, hat ihn aber bei seiner Übersetzung ins Deutsche nicht berücksichtigt.

Ich nenne meine vier Grundaussagen des universalen Programms der Aufklärung:

  1. Im Anfang war das Gespräch, die Kommunikation, nicht das isolierte, dogmatische Wort. (Erasmus von Rotterdam)
  2. Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! (Mündigkeit/Autonomie/Verantwortlichkeit; der homo sapiens als homo praestans) (Immanuel Kant)
  3. Die Menschen sind sterbliche Schöpfer (nicht Geschöpfe); deswegen sind sie für den Erhalt der Welt und die Lebensbedingungen der Menschen verantwortlich. (Hannah Arendt)
  4. Die Menschen können und müssen nicht nur Probleme lösen, sie können Erlösung denken (als Umkehr und Befreiung von Zwang, Kult und Tod – in Form der konkreten Utopie). (Paulus aus Tarsus)

Brief an den Genossen Kevin Kühnert als Antwort auf seine Frage, warum ich in die SPD eingetreten bin

An den Generalsekretär der SPD, Kevin Kühnert,

SPD Parteivorstand, Wilhelmstraße 141, 10963 Berlin

Brief an den Genossen Kevin Kühnert als Antwort auf seine Frage, warum ich in die SPD eingetreten bin

Metelen, am 13. Mai 2023

Lieber Kevin,

Du fragst mich, kurz vor der Geburtstagsfeier zum 160-jährigen Bestehen unserer SPD, warum ich in die SPD eingetreten bin, und – nach einigem Zögern und Überlegen – will ich Dir antworten, indem ich meine Geschichte auf meine Art erzähle.

Ich gehöre, 80 Jahre alt, zur abnehmenden Minderheit der sog. Stammwähler unserer Partei, die, seit sie wählen dürfen, stets bei allen Wahlen die SPD und ihre Kandidatinnen und Kandidaten gewählt haben – wenn auch manchmal mit leisem Zweifel.

Ich gehöre also zu der Minderheit von Wählern, auf die sich die Wahlforscher mit ihren Prognosen verlassen können; übrigens eine zunehmende Minderheit in allen Parteien.

Dass ich zu dieser aussterbenden Minderheit gehöre, hat eine konkrete Geschichte. Bevor ich meine biografische Herkunft erzähle, erkläre ich meine Absicht, bis zu meinem Lebensende SPD-Mitglied zu bleiben.

Diese Entscheidung kann ich – am Rande bemerkt – mit weiteren „Bekenntnissen“ verbinden, wenn auch aus anderen Gründen und Motiven. Vor 80 Jahren wurde ich als Christ in die römisch-katholische Kirche „hineingetauft“ und seit über 50 Jahren bin ich Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW im DGB), deren Vorsitzender ich von 1994 bis 2004 war.

Zurück zur SPD, deren Mitglied ich seit fast 60 Jahren bin. Ich stamme aus einer SPD-Familie im Norden von Krefeld am Niederrhein. Ich wurde 1943 zur Zeit der Nazi-Diktatur geboren, gerade an dem Tag, an dem mein Vater mit 42 Jahren während des Zweiten Weltkrieges noch Soldat werden musste. Mein Vater war in der Weimarer Republik, als „kleiner“ Beamter (mit Volksschulabschluss) in die SPD und die Eiserne Front eingetreten. 1933 verlor er deswegen zunächst seinen Arbeitsplatz; 1945 aktivierte er seine Mitgliedschaft in der SPD und blieb es bis zu seinem Tod. Sein Vater, mein Großvater, war Frisörmeister im Krefelder Nordbezirk und sympathisierte bereits mit den Vorkriegssozialisten (vor dem I. Weltkrieg).

Mein Großvater mütterlicherseits war Klempnermeister im Krefelder Süden, ehemaliger Maat in der kaiserlichen Marine und ein menschenfreundlicher Katholik. Beide Großväter haben mich in meiner Kindheit je auf ihre Weise geprägt.

Ich vermute, diese Herkunft erklärt, dass ich nach dem Abitur Philosophie und Theologie studierte (in Münster und Freiburg), gefördert durch das Cusanuswerk, in die SPD eintrat (als die NPD in den Landtag von Baden-Württenberg einzog), mich in der Studentenbewegung engagierte und als Berufsschullehrer im Münsterland Gewerkschaftsfunktionär wurde.

Diese biografische Entwicklung hat mich nach der Verrentung  in die Kommunalpolitik (Kreistag und Gemeinderat) gebracht und zum Autor mehrerer Bücher gemacht, u.a. über das Projekt der Aufklärung (von Immanuel Kant bis Hannah Arendt, von Erasmus von Rotterdam bis Dietrich Bonhoeffer, Franz Rosenzweig und Hermann Cohen). Und ich kann ergänzen: von Rosa Luxemburg und August Bebel bis Erich Ollenhauer (während meiner Schulzeit) und Willy Brandt.

Diese Geschichte hat mich geprägt. Ob die SPD das Programm und Projekt der Aufklärung (Mündigkeit, Menschenwürde und Menschenfreundlichkeit (Empathie) sichert und weitertreibt, muss jede und jeder für sich überprüfen. Mich überzeugt es bis heute.

Mit solidarischen Grüßen

Jürgen Schmitter

p.s.

Wer das Projekt der Aufklärung unterstützt und weitertreibt, darf sich und andere auch mit Recht Genossin und Genosse nennen.

 

Literaturhinweise:

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen, Münster (agenda Verlag) 2020

Jürgen Schmitter: Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän. Überlegungen zur Anthropologie der Aufklärung, Münster (agenda Verlag) 2023

Der Sprachautomat imitiert und optimiert die Potenzen des menschlichen Bewusstseins durch „Auslagerung“, aber er ersetzt nicht die Sprache der zwischenmenschlichen Erfahrung.

In einem Gastkommentar der NZZ (vom 1. April 2023) spricht Manfred Schneider von der „zermalmenden Macht des KI-Konformismus – Chat-GPT ist eine trojanische Bombe“. Künstlich gesteuerte Sprachautomaten sind „Maschinen, die mit zermalmender Macht die Wahrscheinlichkeit, die ihre Algorithmen steuern, als digital armierten Konformismus über uns verhängen“. Und Schneider kritisiert, dass keine Öffentlichkeit daran beteiligt ist, „die Programme auf Grundsätze der Wahrheit und der politischen Verantwortung zu verpflichten“.

Ich verstehe die Kritik Manfred Schneiders an den neuen Sprachautomaten so, dass sie die  schon seit langem praktizierte Massenpropaganda optimieren. Den Propagandisten kommt es auf die Wirkung an, nicht auf die Wahrheitssuche, um das Verhalten der Menschen gezielt ihren Absichten gemäß zu beeinflussen. Zwischen Wirkung und Wahrheit soll nicht mehr unterschieden werden – und so präsentiert der KI-Sprachautomat sich als „black box“, als, wie ich formuliere, anonymisierter Propagandist. Daher ist Aufklärung über Absicht und Wirkung, also eine ideologiekritische Analyse weiterhin notwendig. Aber was bedeutet in diesem Sinn, die Programme (dieser neuen Sprachautomaten) auf Grundsätze der Wahrheit und der politischen Verantwortung zu verpflichten?

In der Reproduktion konformistischer Sprache wird der Automat konsequenter sein als das menschliche Bewusstsein – in ideologischer Absicht mit Lüge und Vorurteil. Denn den Menschen soll die Fähigkeit, zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden, genommen werden. Die Menschen durch Propaganda zu verführen, ist keine Erfindung der KI, sondern eine missbräuchliche Leistung des menschlichen Bewusstseins. Meine Frage ist, wie können Missbrauch, Verführung und Lüge durchschaut und wirksam erkannt werden?

Ich beginne meine Antwort mit der kurzen Beschreibung zweier Gedankenexperimente:

(1) Ich stelle mir einen Sprachautomaten vor, der die Wirkung einer Rede Adolf Hitlers auf dem Reichsparteitag während der Naziherrschaft noch verbessern soll.

(2) Angesichts zunehmenden Pfarrermangels entwickeln die Kirchen „Predigtautomaten“; die Aussagen in der Form religiöser Sprachspiele werden „ausgelagert“: der Automat wiederholt nicht nur ein Glaubensbekenntnis, sondern versucht eine Interpretation. Auch diese Methode gibt es bereits im Ansatz (wenn auch mit Personen) im Rundfunk und im TV.

Zu (1) In der Kommunikation zwischen Menschen Argumentation durch Manipulation zu ersetzen, um das Denken und Handeln eines Menschen oder einer Gruppe bzw. der Mehrheit einer Gesellschaft im Eigeninteresse oder im Interesse einer Institution oder Ideologie zu beeinflussen, ist nicht neu und sowohl methodisch wie ideologiekritisch untersucht. Daher kann ein Sprachautomat mit dem Ziel der Manipulation programmiert werden.

Nun wissen wir aus der Analyse der Werbung, wie bedeutend der mediale Kontext ist, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen. Sprache und Bild und die Einschätzung des Sprechers (Glaubwürdigkeit und  Vorurteil) mitsamt der jeweiligen Situation bestimmen die Wirkung. Auch lassen sich ein bestimmter Wortgebrauch auf zugehörige Vorstellungen und Ideologien zurückführen.

Aber da es die kritische Überprüfung und Offenlegung von Propaganda gibt, kann auch der imitierende Sprachcomputer mit einem kritischen Prüfprogramm programmiert werden, der die Propagandastrategien erkennt, offenlegt und gegebenenfalls blockiert. Die Frage ist, ob eine kritische Prüfung gewollt ist, denn auch sie ist mit zusätzlicher Arbeitszeit, mit weiterer Energie und damit mit hohen Kosten verbunden. Die Frage der Verantwortung (Gebrauch oder Missbrauch) muss vor der Installation von Sprachautomaten geklärt und programmatisch abgesichert werden.

Nun wird behauptet, eine kritische Prüfung entwickelter Sprachautomaten sei nicht mehr möglich. Das bezweifele ich. Aber die Entwicklung von Prüfungsprogrammen ist zeit-, energie- und kostenintensiv. Und sie muss verbindlich eingefordert werden; so wie wir von jeder Schülerin und jedem Schüler fordern, den Unterschied von Argumentation und Propaganda zu erlernen. Denn das ist eine Grundvoraussetzung für die Mündigkeit des homo sapiens (als homo praestans).

Die Behauptung, meine Voraussetzung sei ein moralisches Postulat und könne technisch/programmatisch nicht durchgesetzt werden, ist eine Schutzbehauptung derer, die den Missbrauch planen. Ich beginne die Erläuterung meiner Überzeugung mit einem Beispiel aus dem Alltag unserer Gesellschaft: dem Backautomaten. Schon heute ersetzen Backautomaten die Arbeit des Bäckers, wenn es um „Normal-Brot“ und Brötchen geht. In einer großen Brotfabrik beginnt die Herstellung eines Brotes (besser: einer Masse von Broten) mit der Planung der gewünschten Sorte, der Herstellung der gewünschten Teigmischung bis zum gebackenen Brot (wenn notwendig: mit Verpackung). Dieser Prozess läuft KI-gesteuert ab; dies schließt eine KI-gesteuerte Prüfung, um Fehler zu vermeiden, in jedem Abschnitt des Herstellungsprozesses ein. Wie präzise diese Fehlerprüfung ist, hängt von der technischen Komplexität der „Backstraße“ ab. So kann es ökonomisch günstiger sein, abschnittsweise einen Menschen (ehemaligen Bäcker) als Prüfer einzusetzen, oder – im Gegenteil – die einzelnen Fehlerprüfungen (und die jeweilige Korrektur) durch den Automaten selbst vornehmen zu lassen; bis zu dem hoffentlich seltenen Fall, dass die Backstraße gestoppt werden muss (und ein Mensch eingreifen bzw. der Entstehungsprozess neu beginnen muss).

Ich habe versucht zu verdeutlichen, dass die 100%ige Selbststeuerung des Backautomaten eine Frage von Konstruktion, Zeit, Energie und Kosten ist; die KI ist keineswegs überfordert, sondern ihr Einsatz optimiert den möglichen Eingriff eines Bäckers (besser: eines auf Backwaren geschulten Technikers, der sich mit KI auskennt).

Allgemeiner formuliert: bei der Herstellung von Produkten (hier für den Gebrauch/Konsum) ist eine vollständige automatisierte Problemlösung (von der Planung bis zum Vertrieb) mit optimierter Fehlerprüfung und Korrektur möglich (wenn gewünscht). Dieser Automat optimiert die beschränkten Fähigkeiten eines menschlichen Bewusstseins (selbst mit handwerklicher Qualifikation).

Natürlich setzt die Planung und Herstellung eines solchen Automaten (und auch die Wartung) fachliche Qualifikation voraus – und auch Missbrauch ist möglich; aber gelten diese Bedingungen bzw. Möglichkeiten nicht auch für entsprechend geplante und konstruierte Sprachautomaten?

Zu (2):  Bevor ich Unterscheidungskriterien (des menschlichen Bewusstseins) aufzeige, die auch einem Sprachautomaten ermöglichen, zwischen Argumentation und Manipulation zu unterscheiden und Propaganda-Texte wie sinnlose Wortreihungen zu erkennen und gegebenenfalls zu blockieren, diskutiere ich die Problematik eines Predigtautomaten, also eines Automaten, der religiöse Sprachspiele, inklusive moralischer Imperative, reproduziert.

Zwischendurch entkräfte ich eine zur Zeit in den Medien diskutierte Problematik des Verhältnisses von Eigentum, Kunstanspruch und Sprachspielereien; Stichwort: Dadaismus. Meine Position: die sinnlose Verknüpfung von Wörtern ist sowohl dem sprachmächtigen menschlichen Bewusstsein, wie dem so programmierten Sprachautomaten möglich. In beiden Fällen können die jeweils Verfügungsberechtigten (der dadaistische Schriftsteller oder der dadaistische Programmierer eines Sprachautomaten den Anspruch erheben, ein „Kunstwerk“ zu produzieren. Problematisch wird es erst für den Kunstkritiker: nicht weil wir unterschiedliche Akteure haben (Mensch bzw. Automat), sondern weil der Automat massenweise „Kunstwerke“ produzieren kann und damit den Kunstmarkt überschwemmt und die Kunstkritiker überfordert. Es sei denn, diese Kritiker unterstellen einen höchst problematischen Kunstbegriff: Kunst kann nur sein, wenn das Werk von einem Menschen hergestellt wurde. Damit werden aber die Kriterien der Ästhetik auf die Arbeit der jeweiligen Produzenten reduziert – und ergeben sich nicht aus der Wahrnehmung des Artefaktes. Übrigens ist dieses Missverständnis nicht neu; ich erinnere an die Frage, ob Menschenaffen Bilder malen können. Die Antwort ergibt sich erst aus dem gemalten Bild, nicht aus dem Maler. Zugegeben ist das Missverständnis im Alltag virulent: wer als „Künstler“ anerkannt ist (wie immer diese gesellschaftliche Anerkennung zustande kommt), produziert „Kunst“. (Da ich mich – für das Finanzamt bzw. für eine anonyme Öffentlichkeit als „Schriftsteller“ bezeichne, sind meine Texte/Erzählungen noch keine Kunst, auch wenn mir – und hoffentlich anderen –  das Ausdenken/Schreiben/Lesen dieser Texte Vergnügen bereitet. Übrigens veröffentliche ich zumeist „Sachtexte“ und dafür gibt es Kriterien – siehe den Anspruch der Argumentation, die mehr und anders ist als eine Meinung.)

Ich kehre zu meiner Argumentation bezüglich der Risiken von neuen KI-gesteuerten Sprachautomaten zurück und analysiere – als Gedankenexperiment – den Predigtautomaten.  Die Nutzlosigkeit wie auch der Missbrauch liegen auf der Hand. Der (angedachte) Predigtautomat reproduziert und optimiert das von mir so beschriebene und anderswo skizzierte „Gottesgeplapper“, aber er übersetzt und interpretiert das jeweilige religiöse Sprachspiel nicht – in sinnvolle Aussagen im anthropozentrischen Weltverständnis.

Die Frage ist: wie verhält sich der Predigtautomat mit den zahlreichen Oxymora in der religiösen Sprache? Entweder, so meine Antwort, er reproduziert und „verfeinert“ die logisch widersprüchlichen Aussagen, dann produziert er sinn-lose Predigten, oder er erkennt als algorithmisch geschulter Automat die (formalen) Fehler – und streikt. Es wäre die verantwortungsvolle Aufgabe der Programmierer, den Automaten so zu programmieren, dass er die Fehler auf- und anzeigt.

Wahrscheinlicher ist der Missbrauch, da auch religiöse Sprachspiele Wirkung zeigen, weil entweder am theozentrischen Weltbild festgehalten wird, bzw. die Struktur der Projektion (im Sinne der Religionskritik des aufgeklärten Denkens) nicht erkannt wird. Die Wirkung von Oxymora ist dann Manipulation (Konsequenz: naive Frömmigkeit – und Aberglaube -statt aufgeklärter Religiosität).

An anderer Stelle habe ich versucht aufzuzeigen, dass das menschliche Bewusstsein in der Form aenigmatischer Erkenntnis (inklusive bewussten Schweigens) Erlösung denken kann: als konkrete Utopie. Ich sehe keine Möglichkeit, wie ein Automat (Kurzform: KI) diese spezielle Denkform des menschlichen Bewusstseins übernehmen kann. Schon bei erzählenden Sprachspielen (Poesie) gerät der Sprachautomat an seine Grenze, auch wenn der Zuhörer oder die Leserin den Unterschied zwischen (geschickter) Imitation – verursacht durch eine entsprechende Programmierung – und menschlicher Erfahrung (ausgedrückt durch entsprechende „poetische“, zwischenmenschliche Sprachspiele) nicht mehr erkennt.

Meiner Überzeugung nach gehört es zu einer verantwortungsvollen Programmierung eines Sprachautomaten, dass er den Unterschied zwischen Imitation und zwischenmenschlicher Sprache aus konkreter Erfahrung den Hörerinnen und Lesern selbst und unverzüglich mitteilt. Ist der Automat dazu nicht in der Lage (obwohl er es kann), handelt der Programmierer (der programmierende Konzern) verantwortungslos und kriminell. Diese Unklarheit entbindet die Benutzer eines Sprachautomaten nicht vom kritischen Umgang – und die Gesellschaft nicht, möglichen Missbrauch offenzulegen und zu ahnden.

Anhand des Gedankenexperiementes eines Predigtautomaten  habe ich zu zeigen versucht, welche Konsequenzen sich aus dem Unterschied zwischen Imitation von Sprache und zwischenmenschlicher Kommunikation aus gemeinsamer Erfahrung (durch erzählende Sprachspiele) ergeben. Selbst zwischenmenschliche Erfahrungen und die konkrete Utopie der Erlösung sind erzählbar und aenigmatisch erkennbar. Sie überschreiten die Möglichkeiten eines Sprachautomaten, auch wenn das – auf den ersten Blick – nicht wahrnehmbar ist. Aber der Missbrauch kann und muss angezeigt werden.

Ich fasse zusammen: Der von mir ausgedachte KI-gesteuerte Predigtautomat produziert religiöse Sprachspiele durch programmierte Imitation, optimiert dieses „Gottesgeplapper“ und fördert den Aberglauben. Daher ist Aufklärung und verantwortlicher Umgang mit der Programmierung von Sprachautomaten auch im Christentum weiterhin dringend notwendig.

 

Literaturhinweise:

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen, Münster 2020

Jürgen Schmitter: Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän, Münster 2023

Missverhältnisse in der Einschätzung von Artifizieller Intelligenz (AI/KI)

In der aktuellen Medienlandschaft wird die neue Dimension der Herstellung und des Gebrauchs Künstlicher Intelligenz (KI/AI) als Kampf und Gefahr problematisiert. Ich verweise auf zwei Spiegel-Artikel: „Wie der Hype um KI einen globalen Machtkampf ausgelöst hat“ (Der Spiegel 10/2023) und „Diese sechs Dinge braucht man, um eine KI zu bauen“ (ebd. www.spiegel.de/netzwelt). Die Autoren sprechen in diesen Artikeln vom „Weltgeist aus der Maschine“ und ich zitiere: „Doch KI ist alles andere als Spielerei. Es geht um Macht und Milliarden. Ein globaler Kampf ist entbrannt.“

Es geht also (auch) um die Durchsetzung ökonomischer Interessen bei der Herstellung und beim Verkauf „handlicher“ Instrumente zum präzisen Erkennen und zur Kontrolle menschlichen Verhaltens. Wiedererkennungs-, Täuschungs-, Simulations- und Imitationsverfahren sind heute so präzise und zeitgleich, dass der einzelne Mensch – wie auch Institutionen – nicht mehr unterscheiden können, ob Bewusstseinsleistungen oder Computerleistungen vorliegen. Totale Kontrolle wie kaum überprüfbarer Missbrauch – bei hohem Energieverbrauch und Einsatz krimineller Energie – sind gegeben.

Das ist unstrittig. Dennoch frage ich mich, wieso ein als menschlicher Kopf modellierter Roboter, der seine Umwelt weit präziser wahrmimmt, als das die menschlichen Sinnesorgane je können, und der mit seiner Umwelt kommuniziert, solche Erregung und solchen Schrecken auslöst?

Ich vermute, weil wir Menschen vor der Wirkung eines Kleincomputers in der Gestalt eines menschlichen Kopfes (inklusive Gehirn) erschrecken. Diese Wirkung ist verständlich und lächerlich zugleich; verständlich, weil wir einen „homunculus“ erblicken – und die Wirkungsgeschichte des künstlich konstruierten Menschen wie auch des gestorbenen „Wiedergängers“ ist eine alte Geschichte, eine „Gruselgeschichte“; diese Wirkung ist zugleich lächerlich, weil ein Roboter ein auf menschliches Aussehen und Verhalten zugeschnittener Automat ist, der auf Basis wissenschatlicher Forschung und Erkenntnis bestimmte Möglichkeiten des menschlichen Bewusstseins – seiner Sinnesorgane und seiner Fähigkeit zu Sprache und Kommunikation – übertrifft. Über das Verhältnis von Automat (als intelligenter Maschine) und menschlichen Bewusstsein ist Endgültiges nicht ausgesagt, außer, dass einerseits Automaten bestimmte Möglichkeiten des Menschen (sein Erinnerungsvermögen, sein begreifendes und reprouzierbares Erkennen und Wissen) um ein Vielfaches präziser und – bei ausreichender Energiezufuhr – schneller kombinieren und reproduzieren können;und dass andererseits – unter den Bedingungen der KI im Anthropozän – der homo sapiens ein homo praestans ist; anders formuliert: am Ende des Anthropozän sind die Menschen für ihr Denken und Handeln allein verantwortlich. Dies schließt nicht aus, dass sie selbstverschuldet unmündig bleiben und schließt ein, dass sie. ihre Mündigkeit, ihre Verantwortung missbrauchen; also verantwortungslos, verbrecherisch denken und handeln.

Ich unterstelle dass die mediale Diskussion über künstliche Intelligenz anhand von Robotern im Sinne von homunculi eine ablenkende, auch Angst (oder Zuneigung) auslösende, wenn auch gefährliche Spielerei ist. Sie lenkt von den entscheidenden Leistungen wie Gefahren heutiger Problem-Lösungs-Automaten ab.

Heute, am Ende des Anthropozän, ist es möglich und vielfach realisiert, unterschiedliche Produkte von der Planung bis zum Endprodukt „fehlerfrei und automatisch“ herzustellen. Ich nenne als Beispiele den Backautomaten, den PKW oder Waffen aller Art. Die automatisierte Herstellung von Produkten aller Art stellt eine neue Form der industriellen Produktionsweise dar, die ohne den Gebrauch der Künstlichen Intelligenz nicht möglich wäre. Diese Produktionsweise übertrifft in Qualität, Fehlerkontrolle und Quantität alle bisherigen handwerklichen Arbeitsweisen. Sie stellt eine (in meinem Sprachgebrauch) gelungene „Auslagerung“ der Möglichkeiten (Potenzen) des menschlichen Bewusstseins dar.

Weiterhin stellt die Auslagerung der Erkenntnis- und Erinnerungsfähigkeit des menschlichen Bewusstseins einen entscheidenden Maßstab für den wissenschaftlichen Fortschritt der Menschheit dar. Dieser geschichtliche Prozess – nicht zu verwechseln mit der Naturgeschichte des homo sapiens – beginnt mit der Kommunikation (Sprache) und der Sicherung des Wissens durch das Buch und endet mit den Möglichkeiten des Rückgriffs und der Verarbeitung in weltweiten Informationssystemen. Der heutige wissenschaftliche Fortschritt ist ohne die Möglichkeiten der KI nicht mehr denkbar und praktisch umsetzbar (research & development). Die Menschheit hat gelernt – wenn auch in unterschiedlichem Maße in entstandenen wie vergangenen Gesellschaftsformationen und Produktionsweisen –, die Summe des erkannten Wissens zu reproduzieren und in Problemlösungen umzusetzen.

Diese Entwicklung entmachtet den Menschen nicht, wenn er seine Verantwortung und Kontrolle sachgemäß umsetzt. Das Problem der gelingenden Machtkontrolle – beim erfolgreichen Lösen von Problemen – ist bis heute nur unzureichend gelöst. Beispielhaft nenne ich, dass nur 30% der derzeitigen Weltbevölkerung in Demokratien leben, also zumindest durch freie Wahlen politische Machtkontrolle ausüben können.

Der homo sapiens im Anthropozän ist zum homo praestans geworden. Für mich ist diese Aussage eine notwendige Konsequenz aus dem in Europa im 18. Jahrhundert begonnenen Prozess der Aufklärung, der seine Wurzeln schon in der Renaissance und noch früher im jüdisch-christlichen Messianismus hat.

Der Prozess der Aufklärung ist – so mein heutiger Befund –, bedingt durch so unterschiedliche Bewegungen wie die Romantik, den Naturalismus und den „postmodernen“ Konstruktivismus abgebrochen worden. Hinzu kamen antiaufklärerische, dogmatische Positionen des römischen Katholizismus. Mein Vorschlag ist, unter den Bedingungen der anthropozentrischen Weltauffassung (im Sinne der Hannah Arendt, dass die Menschen die „sterblichen Schöpfer ihrer Umwelt“ sind), ausgehend von einer aufgeklärten, realistischen Wissenschaftstheorie, eine verbindliche, universale Ethik zu entwickeln, deren Grundkategorien Mündigkeit, Menschenwürde und Empathie sind.

Auf dieser kategorialen Grundlage können und müssen die Menschen für ihr Denken und Handeln „einstehen“ (homo praestans). Ihre, unsere Verantwortung ist universal, aber bleibt an ihre Natur als sterbliche Lebewesen auf dem Planeten Erde rückgebunden. Aus dieser Einsicht folgert Hannah Arendt, dass die Welt „im Sein gehalten“ werden muss; daher muss die Welt kontinuierlich „eingerenkt“ werden. Das ist keine apokalyptische Endzeitprognose, sondern eine realistische Verpflichtung. Die Menschen stehen vor der (grundsätzlichen, da kategorialen) Aufgabe, sich vor Verantwortungslosigkeit und Verbrechen gegen Mitmenschen und Umwelt zu schützen und eine mögliche Selbstzerstörung zu verhindern (denn eine „atomare“ oder „biologische“ Vernichtung der Menschheit ist möglich).

Ich kehre zu meiner Anfangsüberlegung zurück: angesichts des „radikalen Universalismus“ als Konsequenz eines weltweiten Aufklärungsprozesses (ich benutze einen Begriff von Omri Boehm aus seinem gleichnamigen Buch, Berlin 2022/Original auf Englisch) sind die Ängste oder die Bewunderung vor dem Homunkulus-Roboter eine lächerliche Spielerei, durch die die Notwendigkeit der Kontrolle der heutigen Computer-Systeme überdeckt, überspielt wird.

Was die Intelligenz eines Roboters bestenfalls und unstrittig dokumentiert, ist, dass die Wahrnehmung des menschlichen Bewusstseins (durch seine Sinnesorgane) und seine Steuerungsfunktion künstlich optimierbar werden. Aber die Frage, das Problem der Verantwortung wie auch die Umsetzung der Kreativität (der schöpferischen Kräfte) für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde bleiben erhalten. Diese universale Verpflichtung spiegelt sich in der zeit- und ortlos erfahrbaren Utopie der Erlösung.