Rosenmontagerinnerung

oder: Der Niederrheiner in mir

Seit langem lebe ich im Münsterland, bin 80 Jahre alt, die Zeit des Karnevals hat begonnen, wenn man den Zeitungsberichten über Prinzenpaare, Karnevalssitzungen und Tanzformationen glauben darf.

Heute habe ich eine Tüte, gefüllt mit Puderzucker bestreuten Mutzen erhalten, erworben bei der hiesigen Bäckereifiliale.

B. weiß aus Geschichten meiner Kindheit am Niederrhein, dass meine Mutter am Rosenmontag jedes Jahres Mutzen und Mutzenmandeln auftischte, mit Puderzucker bestreut. Dazu gab es am Nachmittag, nach dem obligatorischen Besuch des Krefelder Rosenmontagszuges mit dem Einfangen und Einsammeln zahlloser Karamelbonbons, die ich als Beute mit nach Hause nahm, aber nie lutschte – ein trotz Nachkriegszeit verwöhntes Einzelkind – heiße Schokolade.

Siebzig Jahre später brühe ich mir am späten Nachmittag einen doppelten Espresso und beiße auf die weiß bepuderten Mutzen. Spontan schmecke ich den Unterschied: damals hatte der Teig mehr Blasen, war dünner und die rautenartig geformten Plätzchen schmeckten leicht süß; verstärkt durch den heißen Kakao, der vielleicht aus einem Care-Paket der Engländer stammte. Das war meine Kindheitssehnsucht an jedem Rosenmontag im Jahr.

Ich bin erstaunt, nicht verwundert über mein präzises Erinnerungsvermögen, die Geschmackserinnerung meines Bewusstseins nach so langer Zeit. Man/frau verzeihe mir diese Formulierung; gerade habe ich Hugo Lagercrantz Buch (Berlin 2019, wissenschaftlich komplex) über die Entwicklung des frühkindlichen Gehirns: Die Geburt des Bewusstseins gelesen.

Ich erinnere die damalige Bäckerei an der Ecke Nordstraße in Krefeld und den jährlich wiederkehrenden Genuss dieses Rosenmontagsgebäcks in der sonst so genussarmen Nachkriegszeit.

Ich denke sowohl über die Erinnerungsmöglichkeit und -Leistung meines Bewusstseins nach, als auch die mangelnde Kenntnis des westfälischen Bäckers, rheinische Mutzen herzustellen. Nach einiger Zeit des Grübelns – der Esspresso schmeckt nicht zu den Mutzen und die Mutzenmandeln fehlen – vermute ich eine grundlegende Differenz zwischen niederrheinischem und münsterländer Gebäck und Geschmack.

Und ich verallgemeinere (typisch philosophisch): der westfälische Geschmack ist herber und bissfester als das rheinische, süßere Empfinden. Und ich übertrage meine Erkenntnis auf eine andere Leibspeise: Wurstebrot (westfälisch) und Panhas (rheinisch).

Und ich schließe meine Rosenmontagsanalyse mit der Einsicht: seit über 50 Jahren lebe ich im Münsterland, aber mein Geschmack ist niederrheinisch geblieben; zumindest in der Erinnerung.

p.s. (lt. Wikipedia)

Mutzen, auch Mutze (ich kenne nur den Plural), sind ein rheinisches Siedegebäck (in Rautenform), das traditionell zu Karneval und Silvester hergestellt wird. Neugierig spüre ich im etymologischen Wörterbuch nach und finde: (ital.) mozzare (abschneiden) und zur Sprachfamilie gehörend (im 20. Jahrh.) „aufmotzen“.

Von der Notwendigkeit doppelten Naturschutzes und der Kritik an missverständlichen Katastrophenszenarien

Konsequenzen aus dem Gastkommentar in der nzz.ch vom 1. Januar 2022: Apocalypse now? Die Menschheit ist gross, doch das Klima grösser.

These: Der Naturschutz hat eine doppelte Aufgabe: Die Natur, unsere Umwelt, vor ihrer Ausbeutung und Zerstörung zu schützen; aber auch: die Menschheit vor den Naturgewalten zu schützen.

Diese doppelte Aufgabe verlangt eine differenzierte Balance im menschlichen Verhalten; das Bewusstsein der Menschen im Anthropozän ist notwendigerweise das eines, „sterblichen Schöpfertums“; denn „um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden“. (Hannah Arendt, 1958)

Die heutigen Katastrophenszenarien lassen eine klare Unterscheidung zwischen „Naturgeschichte“ und „Menschengeschichte“ vermissen, bzw. lamentieren mit unsachgemäßen Katastrophenszenarien. Diese Verwirrung beruht auch auf der Verwechslung von kosmischer Naturentwicklung, Evolution auf dem Planeten Erde und den Möglichkeiten bzw. Verfehlungen menschlicher Geschichte. Ich spreche in diesem Zusammenhang von den widersprüchlichen Potenzen der Problemlösung des menschlichen Bewusstseins.

Wir Menschen am Ende des Anthropozäns beherrschen nicht die sog. „Naturgeschichte“, auch wenn uns unser Bewusstsein ermöglicht, sowohl die kosmischen Abläufe der Eiszeiten auf der Erde sowie die Evolution des Lebens auf der Erde zunehmend zu erkennen. Als Naturwesen sind die Menschen in diese Naturprozesse einbezogen, ohne sie entscheidend beeinflussen zu können. Auch wird mit Recht gesagt, dass die „heutige Krisenrhetorik verkennt, dass das Menschsein seit je krisenhaft ist“.

Wir Menschen als Naturwesen sind daher in doppelter Weise sterblich: sowohl unsere individuelle Lebenszeit ist begrenzt; wie alles Leben auf der Erde, wenn auch in unterschiedlichen Zeitdimensionen (man vergl. die mögliche Lebensdauer eines Bakteriums mit der eines Säugetieres). Aber auch die Lebensbedingungen des homo sapiens – als Gattung – sind zeitlich begrenzt, da an die „Naturzustände“ des Planeten Erde in unserem Sonnensystem unwiderruflich gebunden. Eine Flucht des Menschen vom Planeten Erde als Überlebensstrategie der Gattung Mensch ist zwar phantasierbar (und ansatzweise individuell konstruierbar), aber unter den bestehenden Problemlösungsmöglichkeiten nicht realistisch.

Realistisch – im Sinne des Aufgeklärten Realismus – ist sowohl die menschlich verursachte Selbstzerstörung der bewohnbaren Erde (durch bewusste Freisetzung von welterschütternden Kräften wie der Atomenergie), aber auch die „schleichende“ bewusst zu machende Verschlechterung der Lebensbedingungen (wie z.B. durch Luftverschmutzung, Erderwärmung, unkontrolliertes Bevölkerungswachstum – ohne ausreichende Verbesserung der Lebensbedingungen; aber auch durch – durch nichts zu rechtfertigende – Kriege und Hungersituationen; also durch Ausbeutung und Verelendung.

Diese (sicher unzureichende) Zustandsbeschreibung der menschlichen Geschichte – ihrem Mangel und ihren Möglichkeiten an menschengerechten Problemlösungen – verlangt darüber hinaus für eine humane Überlebensstrategie die Organisation und Sicherung einer menschenwürdigen Gesellschaftsstruktur – und einen doppelten Naturschutz: einen nachhaltigen Schutz vor erkennbaren Naturgewalten (wie z.B. den Dammbau in den Niederlanden) und den Schutz der Natur vor menschlicher Zerstörung (z.B. der Ökosysteme) durch Waldvernichtung oder durch kurzfristige „Verbesserung“ der menschlichen Lebensgrundlagen, deren Nachteile langfristig überwiegen.

Menschen sind als bewusste Lebewesen in der Lage, die Probleme im Sinne des doppelten Naturschutzes und auf der Basis, die Menschenwürde universal durchzusetzen, zu lösen, auch wenn alle Problemlösung vorläufig bleibt und immer neuer Anstrengung bedarf. In dieser Perspektive sind die Menschen für ihre Zukunft am Ende des Anthropozäns verantwortlich. Daher spreche ich (in Form eines kategorischen Imperativs) davon, dass der homo sapiens nur überleben kann, wenn er ein homo praestans wird, ein Mensch, der für andere und sich einsteht.

Überleben schafft keine Chancengleichheit

„Nach einer Epidemie sind alle, die noch da sind, Überlebende.“

So formuliert Ivan Krastev in seinem in diesem Jahr in Englisch und Deutsch erschienenen Buch „Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert, Berlin 2020 (Ullstein; Is It Tomorrow, Yet? How The Pandemic Changes Europe) auf Seite 10.

Diese Aussage ist wahr und falsch zugleich. Angenommen, es gibt einen Zeitpunkt a, an dem eine Epidemie oder Pandemie „vorbei“ ist, dann sind zwar alle Menschen, die zu diesem Zeitpunkt (noch) leben, „Überlebende“, aber sie waren weder vor diesem Zeitpunkt „gleich“, noch sind sie es nach diesem Zeitpunkt. Entweder ist diese Aussage banal, oder sie ist unwahr, wenn damit „Chancengleichheit“ gemeint ist. Die Ungleichheit der Lebensverhältnisse bleibt: reich oder arm, gebildet oder ungebildet, in Arbeit oder arbeitslos. Trotz möglicher Verschiebungen oder besserer Wahrnehmung verändern sich die jeweiligen sozialen Unrechtsverhältnisse in Bezug auf die Lebensbedingungen der Menschen nicht. Die Forderung nach gerechter Verteilung des produzierten Reichtums und unterschiedlicher Bewertung von persönlichem Eigentum und Eigentum an Produktionsmitteln (in Weiterführung und Differenzierung der entsprechenden Grundgesetzartikel), wie auch einer gleichwertigen Mitbestimmung (Demokratisierung) bleiben unerfüllt. Vielleicht werden diese Forderungen offensichtlicher – trotz staatlicher Schutzmaßnahmen, die diese Wünsche auch verdecken.

Zwar nimmt in Zeiten der Pandemie die Hilfsbereitschaft zwischen den Menschen – auf der Grundlage der Empathie – zu, aber der „Ausbruch“ an Sympathie setzt gerade die bestehend bleibende Ungleichheit voraus, auch wenn sie als „unmoralisch“ empfunden wird.

Ich wehre mich entschieden gegen die zugrunde liegende naturalistische Ideologie, Naturkatastrophen würden die Menschen in gleicher Weise betreffen und zur Durchsetzung der Chancengleichheit strukturell beitragen. Ob ich als Rentner mit regulärem Einkommen oder als arbeitslos gewordener Familienvater eine Pandemie überlebe, ist ein grundlegender Unterschied; wobei schon Überlebenschancen unterschiedlich sein können. Das Risiko ist ungleich, da ich mich unterschiedlich schützen kann.

Wir alle kennen den Spruch: „Im Tode sind wir alle gleich.“ Doch selbst dieser Spruch ist missverständlich. Zwar müssen alle Menschen (als Individuen) sterben – der menschliche Organismus ist endlich –, aber objektive Bedingung wie subjektive Erfahrung des individuellen Sterbens sind – weltweit gesehen – brutal unterschiedlich. Die Einforderung, die Würde aller Menschen zu achten, ist ein Postulat, ein kategorischer Imperativ, der umgesetzt werden muss (individuell wie strukturell). Insofern bin ich ein aufgeklärter Realist und bestimme – im Sinne von Hannah Arendt – den Menschen als „sterblichen Schöpfer“. (Vgl. die entsprechenden Reflexionen in meinem 2020 erschienen Buch „Aufgeklärter Realismus“.)

Staat und Verwaltung können zwar zur Sicherung des Allgemeinwohls und zum Schutze die häusliche Domestikation anordnen und erzwingen, aber damit wird die Struktur der Lebensverhältnisse nicht grundsätzlich geändert. Zwar werden in Zeiten einer Pandemie Mängel an gesetzlichen Maßnahmen sichtbar oder Ideologien erkennbar und der Druck der Aufklärung kann sich verstärken, aber um es floskelhaft auszudrücken:

Naturgewalt schafft nicht die kapitalistische Produktionsweise ab.

Der Grundwiderspruch der Marktwirtschaft, in der alle Güter in Waren verwandelt werden, bleibt bestehen. Aber ich hoffe, dass dies immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft erkennen und ihre Lebenspraxis verändern.

Dies verlangt auch eine strukturelle Änderung der bestehenden ökonomischen Verhältnisse. Ich empfehle eine kritische Analyse und Aneignung von Paul Mason: Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie (Im Englischen Original: PostCapitalism. A Guide in Our Future, London 2015), Berlin 2018 (Suhrkamp). Mason zeigt auf, wie aus den Trümmern des Neoliberalismus eine gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft errichtet werden kann.

Kontrollverlust bei Pandemien – und die Schwäche der Gewerkschaften

Pandemien unterscheiden sich von Naturkatastrophen „traditioneller“ Art dadurch, dass ihre Dauer langfristig und ihre zeitliche Wirkung (relativ) unbestimmt ist; sodass man von einem Ende – dann beginnt das „Aufräumen“ – kaum sprechen kann. Das erzwingt staatlicherseits längerfristige Schutzmaßnahmen mit ungewissem Ende bzw. in wiederkehrenden Formen.

Pandemien wirken nicht nur schubweise, sondern auch weltweit – und sind kaum regional eingrenzbar, anders als Tornados oder Erdbeben; trotz deren verheerender Wirkung (z.B. bezüglich der Anzahl der Toten und Verletzten). Die längerfristig verwaltungsseitig verordnete und erzwungene Domestikation (auch mit polizeilicher Gewaltausübung) bewirkt eine soziale Verunsicherung, die gerade bei jungen Menschen zu eruptiven Gewaltausbrüchen und zum zeitweiligen Verlust individueller Kontrolle führen kann.

Dieser Kontrollverlust wird dadurch verstärkt, dass die zeitgleiche, intensive Medienberichterstattung es dem Einzelnen nicht mehr erlaubt, das subjektiv wahrgenommene Bedrohungsszenario zu verarbeiten oder zumindest auszublenden.

Eine regionale Konzentration der Personen, die durch das Virus angesteckt wurden, wie z.B. aktuell in Großschlachtereien und im Wohnumfeld der dort arbeitenden, zum Teil ausgebeuteten Arbeiterinnen und Arbeitern, zeigt die relative Unfähigkeit oder den Unwillen der staatlichen Instanzen, solch „Ausbrüche“ zu verhindern, die industrielle Fleischproduktion, also den Kreislauf von Massentierhaltung, Massentierschlachtung und die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft zu verbieten.

Offensichtlich ist auch die Schwäche der Gewerkschaften, die Interessen der ausgebeuteten „Wanderarbeiter“ wirksam zu vertreten und menschenwürdige Arbeits- und Wohnbedingungen zu erzwingen. Ich frage mich, wo der öffentliche und wirksame Protest und Widerstand des DGB und der zuständigen Einzelgewerkschaften bleibt, um solche Unternehmerstrukturen zu zerschlagen, die schon der sozialen Marktwirtschaft in unserer Gesellschaft zuwiderlaufen?

Nun droht die EU-Kommission den betroffenen Staaten mit einer neuen Richtlinie, da die bestehende EU-Entsenderichtlinie möglicherweise nicht ausreicht. Der zuständige EU-Arbeits- und Sozialkommissar Schmit aus Luxemburg formuliert: „Saisonarbeiter müssen gleichberechtigt zu allen anderen Arbeitskräften behandelt werden … Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. Aber ich frage mich: Wo bleibt der lautstarke und zielgerichtete Protest der Gewerkschaften in Europa? Die strukturelle Schwäche der europäischen Gewerkschaftsbewegung verhindert, die Interessen der Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter in Europa wirkungsvoll zu vertreten und die menschenverachtende Ausbeutung zu beenden.

Chaos produzierende „Randalen“ sind auch eine Folge aus der „Unfähigkeit“ der Gewerkschaften, organisierten, wirksamen und zielgerichteten Widerstand gegen diese Unternehmerstruktur der industriellen Fleischproduktion („Schlachtindustrie“) zu entwickeln, um diese Strukturen abzuschaffen. Übrigens trifft diese Kritik nicht nur Einzelunternehmer wie Tönnies, die auch als Fußballfunktionäre das seit römischer Zeit bekannte Spiel „Brot und Spiele“ betreiben, sondern auch genossenschaftliche Unternehmen wie Westfleisch, in denen die Landwirte (mit ihrer Massentierhaltung) das Sagen und den Gewinn haben. Die gesamte Produktionskette ist menschenunwürdig und allein am Eigennutz orientiert.

Kommunikation als Lernprozess? – Telefonieren oder Handeln per Handschlag

ICH gehöre zu den Menschen in Deutschland, die zu Ende des Zweiten Weltkrieges noch während der Nazi-Diktatur geboren wurden und in der sog. Nachkriegszeit ohne Telefon aufgewachsen sind; oder wie wir am Niederrhein zu sagen pflegten: die ohne Telefon groß geworden sind.

WIR kannten nur das Radio, entweder als Volksempfänger für Kriegsstandsmeldungen und Bomberangriffe, eingebettet in politische Propaganda, oder als Begleiter (für meine Mutter in unserer Wohnküche) mit Schlager- und Volksmusik. Daher kannte ich – fast auswendig – Willy Schneiders Lied: „Man müsste nochmals 20 sein und so verliebt wie damals …“ – oder die gleich große (und alte) Conny Froeboes mit ihrem geträllerten: „Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein und dann raus ins Schwimmbad …“ – das Problem: ich hatte und habe keine kleine Schwester.  Ich blieb Einzelkind (overprotected durch meine Mutter) – und musste mit meinem Vater wöchentlich ins städtische Hallenbad.

Nach der Währungsreform stand in unserem Wohnzimmer, das nur an hohen Feiertagen und bei besonderem, seltenen Besuch geheizt wurde, ein großes Blaupunkt-Radiogerät. Dort durfte ich sonntags nach dem Mittagessen – wohlverpackt in Decken im guten Sessel Kinderfunk hören: „Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv“.

Der kleine Radioempfänger in der Wohnküche auf dem Küchenschrank diente sowohl der Unterhaltung wie der Information durch die Nachrichtensendungen des NWDR. Gestalt wie Gebrauch eines Telefonapparates (der hing noch im Flur an der Wand) habe ich erstmals im Haus des Arbeitgebers meiner Mutter, einem umtriebigen und kinderfreundlichen Viehhändler aus dem niederrheinischen Umland, wahrgenommen.

Meine Mutter war als Buchhalterin bei diesem Viehhändler beschäftigt und montags in aller Frühe wurde sie von ihm mit seinem Mercedes abgeholt, um auf dem Düsseldorfer Schlachthof den Viehverkauf finanziell zu regeln. Ab und zu, wenn mein Großvater zum Kinderhüten nicht zur Verfügung stand, durfte ich mitfahren (die ersten Autofahrten in meinem Leben) und nach dem Schlachthofbesuch waren wir noch im Haus des Viehhändlers; dort musste meine Mutter die Buchhaltung so regulieren, dass illegale Transaktionen gegenüber dem Finanzamt nicht auffielen – und ich erlebte das Telefon als Medium des An- und Verkaufs von Kühen und Schweinen.

Schon auf dem Düsseldorfer Schlachthof hatte ich seltsame, mir fremde Formen der Kommunikation zwischen den Viehhändlern und den kaufenden Metzgern erlebt. Der Viehhändler verkaufte im Auftrag der Bauern – in meinem Fall meist aus Friesland und Oldenburg – das Vieh stückweise an die Metzger, die morgens früh in den Schlachthof gekommen waren und vor dem Kauf und der Schlachtung das Vieh begutachteten. Beim Geschäftsgespräch zwischen Viehhändler und Metzger wurde ein Kilopreis für jedes Rindvieh ausgehandelt, in abgekürzten Sprachfetzen und mit wiederholtem gegenseitigen Schlagen der Handflächen, bis durch einen endgültigen Handschlag der Verkauf besiegelt war.

Jetzt begann die vertrauensvolle Arbeit meiner Mutter; sie musste den Kilopreis verbindlich notieren; dann wurden die Tiere gewogen; das Gewicht wurde ebenfalls notiert – und meine Mutter errechnete den Gesamtpreis. So weit, so gut oder schlecht für Käufer oder Verkäufer. Denn zwischen Verkauf und Waage wurden die Tiere, die laut brüllten, mit Wasser getränkt. Die Viehknechte beruhigten mich, indem sie sagten, der Durst der kurz vor der Schlachtung stehenden Kühe und Schweine müsse natürlich gelöscht werden. Schon damals war ich unsicher, ob diese Aussage der Wahrheit entsprach, denn zwischen den Verkäufern, Käufern und Knechten gab es immer wieder Rangeleien; laut und für mich unverständlich. Es ging um das verbindliche Gewicht der Tiere; denn danach richtete sich der Gesamtpreis.

Heute weiß ich, welche Rolle meine Mutter in diesem Geschacher spielte: sie galt in ihrer feinen Kleidung als unangreifbar und ihre Notizen über Preis und Gewicht waren verbindlich. Für den Zwischenhändler war diese Arbeit unschätzbar günstig – und so durfte sie später im Hause des Viehhändlers und seiner Frau sich für den Eigenbedarf Butter stampfen und von Zeit zu Zeit eine Rinderzunge mitnehmen – für meinen Vater und bis heute für mich eine Delikatesse.

Zurück zum Telefon an der Wand. Wenn ich mich recht erinnere, dienten die damaligen Telefongespräche allein dazu, die Viehtransporte zwischen Friesland und dem Schlachthof in Düsseldorf terminlich zu organisieren. Selten rief ein Landwirt vor Ort an, weil er eine Kuh oder ein Schwein verkaufen wollte oder eher musste. Hausschlachtungen waren an der Tagesordnung und der Viehhändler musste schon eine gehörige Überredungskunst einsetzen, wenn eine Kuh vom Niederrhein den Weg ins Schlachthaus antreten sollte. Es war Nachkriegszeit und Fleisch Mangelware.

Am Telefon wurden Gespräche vereinbart, aber Kaufgespräche niemals abgeschlossen. Wie sollte auch der notwendige Handschlag (oder mehrere Handschläge) medial übersetzt werden? Das Telefongespräch (abgesehen von der öfteren Unterbrechung oder mangelnder Qualität der Übertragung) diente – kurz und knapp – der Terminvereinbarung, niemals dem Kaufabschluss. Kaufgespräche geschahen in Augenhöhe, manchmal stimmgewaltig – und ohne schlagende Hände kam kein Deal zustande.

Zugegeben, diese kommunikative Situation führte auch – bewusst oder unbewusst – zu Missverständnissen oder Betrug. Wurden Betrug oder Täuschungsabsicht erkannt, dann war das Kaufgespräch „ein für allemal“ beendet; man war „übers Ohr gehauen“ worden. Übrigens kannte der Viehhändler seine „Pappenheimer“ und arbeitete mit einem Vertrauensvorschuss, der auf Erfahrung beruhte. Natürlich war auch der Kaufvermittler ein Schlitzohr: er konnte vortäuschen, was er nicht war, wenn er sprach und handelte.

Das wussten auch seine Handelspartner. Aber da gab es noch meine Mutter, die ehrenhafte, korrekte Buchhalterin aus katholischem Hause; sie brachte aus der Not, ihre Familie zu ernähren, ihre Tugend, ihre Tadellosigkeit in das Geschäft des (Vieh-)Marktes ein. Hinzu kam, dass sie eine Verbündete hatte: die Ehefrau des Viehhändlers. Beide konnten verhindern, dass er zu oft gerichtlich belangt wurde (und er seinen Gewinn verspielte). Zwar gelang das nicht immer, und die Geschichte fand kein glückliches Ende.

Zurück zur Struktur von Kommunikation: Was lernen wir über die Struktur von Sprachspielen im Medium der Telefonübertragung? Mich zumindest hat diese frühe Erfahrung zu telefonieren – in diesem mir fremden Milieu – bis heute geprägt; telefonieren dient mir (wenn ich nicht schreiben oder mailen kann) der Informationsweitergabe und ersetzt kein Gespräch „auf Augenhöhe“. Ich muss mich anstrengen, wenn ich Erfahrungen und Emotionen übermitteln soll oder will. Am liebsten unterbreche ich und bitte um ein „persönliches“ Gespräch. Wenn das die Situation nicht erlaubt, verharre ich in einer Notsituation.

Doch ich muss, schon wenn ich andere Familienmitglieder beobachte, feststellen, dass der gewohnheitsmäßige Gebrauch des Mediums Telefon die kommunikative Situation verändert hat: Ehefrau und Tochter führen Dauergespräche mit ihren Freundinnen am Telefon, in denen sie auch „ihr Herz ausschütten“ können. Was bedeutet das für das Medium Telefon und die Struktur der Kommunikation?

Es gibt keine „digitale“ Kommunikation, sondern einen digitalen Informationsaustausch (notwendiger- und sinnvollerweise), da die Wahrnehmung der Kommunikationspartner, realer Menschen, eingeschränkt, möglicherweise verzerrt oder gestört oder manipuliert ist. Die Möglichkeit oder Notwendigkeit (um störende Nebengeräusche zu vermeiden) stummzuschalten, zeigt die Verkehrung gegenüber zwischenmenschlicher Kommunikation. Disziplinierung, und nicht Empathie (oder auch Antipathie), wird zum Maßstab des Informationsaustausches.

Das ist für den Austausch von Informationen (z.B. im Straßenverkehr oder in den Wissenschaften) notwendig (Prinzip der Eindeutigkeit), zumindest hinreichend für das gemeinsame Verstehen der Information, aber für zwischenmenschliche Wahrnehmung unzureichend. An menschlicher Wahrnehmung sind Augen, Nase, Ohren, Hautkontakt und Körperhaltung beteiligt und werden im Gehirn verarbeitet.

Natürlich weiß ich, dass auch Zustimmung oder Ablehnung, Empathie der Antipathie symbolisch mitteilbar sind – die Mobile-Aktivitäten zeigen es in zunehmendem Maße  und das Angebot an symbolischen Zeichen wird immer größer, aber der spontane „Austausch von Gefühlen“ geht verloren; bzw. ist manipulierbar. Zwar ist auch der ausgebildete Schauspieler in der Lage, unterschiedlichen Rollen ein ausdruckstarkes „Gesicht“ zu geben, aber in diesem Fall ist das ein Resultat seiner beruflichen Leistung; jedoch im Fall der Handy-Kommunikation reicht ein Tastendruck. Hinzu kommt, dass gezeigte Emotionen von Außenstehenden kontrollierbar werden.

Grundsätzlich stellt sich bei allen Formen menschlicher Kommunikation das Verhältnis von Distanz und Nähe. Mit welchen Mitteln ist z.B. ein „vertrautes Gespräch“ herstellbar, selbst wenn die Gesprächspartner weit voneinander entfernt sind? Das Verhältnis von Distanz und Nähe ist nicht durch die Entfernung der Gesprächspartner voneinander bestimmbar. Dies lässt sich durch ein uraltes Mittel der Kommunikation klären: den Brief. Und die Vertrautheit eines Briefes lebt von der Sprache.

Zum Neuen Jahr und zu Mariä Lichtmess 2020: Erleuchtung bedarf der Aufklärung, sonst zerstreut sich das Licht.

Kritische Überlegungen zur LWL-Aktion „finde dein Licht“ 2020 in der Klosterlandschaft Westfalen-Lippe

Das Licht strahlt nicht nur in der Finsternis, sondern – gezielt eingesetzt – erhellt es die Dunkelheit voller Chaos, Vernichtung und Verbrechen. Die Aufklärung von Versagen, Verbrechen, Vertreibung, Krieg und mutwilliger Vernichtung ist notwendige Voraussetzung der Verantwortung, die wir Menschen für uns, für unsere Mitmenschen, für die Natur, für die Welt haben.

Diese Verantwortung der Menschen als „sterbliche Schöpfer“ (so Hannah Arendt 1958) ist nicht abschiebbar, nicht delegierbar auf eine „höhere Macht“ oder „die Natur“, sondern die Menschen sind eigenverantwortlich für das, was sie tun und ob und wie sie Probleme lösen.

Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden“, so formuliert Hannah Arendt bereits 1958 in ihrem Aufsatz „Die Krise in der Erziehung“. Nicht von ungefähr, sondern bewusst steht diese Aussage innerhalb ihrer Konzeption aufgeklärten Lernens für das Problemfeld Gesellschaft; ausgehend von der Erziehungskrise der Nachkriegszeit in den USA.

Der Anspruch, verantwortlich für Gesellschaft und Welt zu sein, wäre eine Überforderung, würde sie den Menschen als bloßes Individuum betreffen. Verantwortung kann nur wirksam sein, wenn sie auch gesellschaftlich strukturiert und organisiert ist. Mitbestimmung, Gewaltenteilung, Minderheitenschutz, demokratische Verfassung und Rechtsstaatlichkeit sind keine Zugaben, sondern für das friedliche und gerechte Zusammenleben der Menschen konstitutiv, denn, um Hannah Arendt noch einmal zu zitieren, die Welt muss „dauernd neu eingerenkt werden“.

Hannah Arendt (1906-1975) hat in ihrer publizistischen Tätigkeit immer wieder auf die Notwendigkeit und das Risiko des Denkens und Lernens „ohne Geländer“ hingewiesen. Ich verweise zum Lektüreeinstieg auf die Text- und Briefsammlung „Denken ohne Geländer“, hrsg. v. H. Bohnet und K. Stadler, im Piper-Verlag, München/Zürich 2005.

Des weiteren erinnere ich an Pablo Picassos berühmtes Bild „Guernica“, das 1937 als Reaktion auf die Zerstörung der Stadt Guernica im spanischen Bürgerkrieg durch den Luftangriff der deutschen Legion Condor entstand und heute im Museum in Madrid zu sehen ist. Die Fackelträgerin – in diesem Bild – erhellt die Vernichtung von Mensch und Tier durch faschistische Gewalt.

Ich wünsche mir, dass die Veranstaltungen in den 31 Klöstern und Kirchen der Klosterlandschaft Westfalen-Lippe „finde dein Licht“ zu Beginn des Neuen Jahres 2020 diese – weiterhin weltweit aktuelle – Aufklärung mit bedenken und zur Sprache bringen. Denn die Lichtmetapher ist mehrdeutig: sie zielt nicht nur auf die Erleuchtung nach innen, sondern verlangt Aufklärung in die Gesellschaft und die Welt.

Ich sehe darin eine dauernde Verpflichtung für die Arbeit in meinem Projekt des „Aufgeklärten Realismus“ und verweise auf mein im Februar 2020 erscheinendes Buch: „Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf“. Das Buch erscheint im agenda-Verlag in Münster, umfasst etwa 240 Seiten, und kostet 17,90 EUR.

Inkonsequente Perversion

Spontane Anmerkung zum Adorno-Denkmal
auf dem Theodor-W.-Adorno-Platz in Frankfurt am Main

Ich weiß, es gibt keinen Zufall. Aber der Frankfurt-Tourismus macht das Unwahrscheinliche möglich: Bei der Wikipedia-Lektüre im Internet – ich bereitete unter dem Stichwort: neue Altstadt Frankfurt einen vorösterlichen Besuch vor – fand ich einen Hinweis auf das Adorno-Denkmal von Vadim Zaktarov, seit 2003 auf dem Theodor-W.-Adorno-Platz in Frankfurt am Main aufgestellt.

Da ich seit längerem nicht mehr in der Krönungsstadt der deutschen Kaiser und des Bankenkapitals war, wußte ich nichts von diesem Glaskubus, „frei zugänglich und immer geöffnet“, wie die Touristen-Information behauptet; gerne – und unreflektiert – würde ich mich an Adornos Schreibtisch setzen und den stupiden Takt seines Metronoms auslösen.

Aber nein, mir gingen beim Anschauen der Fotografie andere Phantasien perverser Art durch meinen Kopf:

(1) Perversion eins: Hätte nicht auch Adorno gleich Lenin oder Pater Pio einbalsamiert werden können und, an seinem Schreibtisch sitzend, für die Ewigkeit ausgestellt?

Ich gebe zu, diese perverse Phantasie übersteigt seine von mir unterstellte Eitelkeit und widerspricht meinem Wissen und meiner Sympathie für die negative Dialektik einerseits, und seinen hochaktuellen „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ andererseits; Reflexionen, in denen sich der Begriff Erlösung – um der Erkenntnis willen – nicht vermeiden lässt.

(2) Perversion zwei: Ich stelle mir vor, mein Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer in M. wäre öffentlich zur Schau gestellt. Der Berliner Zeichner Matthias Beckmann hat ihn in meinem „überfüllten“ Zimmer gezeichnet und mein Chaos dokumentiert. Abgesehen davon, ob es überhaupt möglich wäre, diese Unordnung – so die äußere Wahrnehmung – post mortem nachzukonstruieren, B. hätte gegen diese Perversion ihr Veto eingelegt; denn diese Zur-Schau-stellung hätte die Vergeblichkeit ihrer Mahnung, endlich einmal aufzuräumen und Ordnung zu schaffen, „in Ewigkeit“ dokumentiert.

(3) Perversion drei: Meiner Überzeugung nach ist die einzig sachgemäße Lösung eines Denk-mals für einen toten Philosophen und Musiktheoretiker: ein leerer Glaskubus; mit der Unterschrift versehen: Über die Vergeblichkeit, die Dialektik von kairos und chronos aufzuheben.

Dann wären alle geehrt, die mit Leidenschaft nachdenken. Aber ich vermute, nicht nur die Berufsphilosophen würden dieses Artefaktum ebenfalls als inkonsequente Perversion verdammen.

Herbstgedanken – scheinbar ungeordnet

  1. Ich erfreue mich an Astern; sie dokumentieren im Garten die Farben des Herbstes.
  2. Ich weiß, eher aus dem literarischen Kontext, um Herbstzeitlose (Colchicum autumnale); Gift- und Heilpflanze zugleich.
  3. Vor mir auf meinem Schreibtisch steht das magische Zahlenquadrat aus Dürers Melencolia I aus dem Jahr 1514; wie ein „Wunder“ ergibt jede Summierung den Wert 34.
  4. Das Efeu am Nachbarschuppen ist zunehmend wein- bis blutrot geworden; mein Blick aus dem Fenster bestätigt mir: es ist Herbst. Ein kurzer intensiver Sonnentag, ein zeitiger Sonnenuntergang, eine kühle Nacht – und ich sehne das winterliche, gemütliche Oberbett herbei.

Die Summe dieser Wahrnehmungen und Empfindungen signalisiert mir: Herbstzeit ist Endzeit – und ermöglicht mir, konsequent über Endlichkeit, Ewigkeit und Tod nachzudenken. Daher sitze ich jetzt an meinem Schreibtisch und formuliere die Ergebnisse meiner Reflexion; Nachdenken und Aufschreiben sind meine Passion im Alter und seit jeher meine Leidenschaft – ich weiß, in der Dämmerung beginnt die Eule der Minerva ihren Flug.

Nur wer Endlichkeit und Tod radikal denkt, kann auch Ewigkeit – ein anderes Wort für Erlösung – radikal, also von der Wurzel her denken. Die Hoffnung auf ein besseres Leben „in einer anderen Welt“ ist irrig; chronologisch gesehen ein Unfug.

Um diese Behauptung zu verstehen (und nicht als Produkt meiner herbstlichen Melancholie zu desavouieren), hole ich im Folgenden weit aus:

Ich habe gehört, Rosen können ohne Stacheln gezüchtet werden; ich nenne diese Praxis pervers.

Denn die Rosen ihres Schutzes zu berauben, ist nicht nur unsachgemäß, sondern nimmt ihnen ihr natürliches Sein, ihre Schönheit. Vorsicht im Umgang mit der Natur gehört zur Verantwortung der Menschen als „sterbliche Schöpfer“ (Hannah Arendt). Ich würde es auch ablehnen, Herbstzeitlose ohne Gift zu züchten, denn das ist keine Problemlösung, sondern eine Problemverdrängung durch Manipulation. Abgesehen davon nützt das produzierte Gift den Menschen; es kommt allein auf die Dosis an; die Herbstzeitlose ist auch eine Heilpflanze: sie repräsentiert nicht nur eine Jahreszeit, sondern nutzt auch uns Menschen. Natürlich sind Menschen als autonome Vernunftwesen in der Lage, die Natur zu manipulieren, aber ich werte diese Fähigkeit in diesem Kontext als Missbrauch und nicht als Problemlösung.

Karl R. Popper sah das Leben als einen andauernden Prozess des Problemlösens an, dessen Erkenntnis der Fehlerhaftigkeit den Lernprozess vorantreibt. Aber meiner Überzeugung nach hat die kritische Analyse menschlicher Lernprozesse mehrere Dimensionen: Es geht nicht nur darum, aus eingestandenen Fehlern zu lernen, sondern auch, Gebrauch von Missbrauch zu unterscheiden, und den Gebrauchswert der Dinge zu erkennen und zu schützen, um den der arbeitsteiligen, kapitalistischen Geldwirtschaft geschuldeten Tauschwert zu relativieren; besser noch: in Schach zu halten. Ob der dem Grundgesetz von 1949 entnommene Begriff der „Sozialpflichtigkeit des Eigentums“ dafür eine ausreichende Bewertungsbasis darstellt, wage ich weiterhin zu bezweifeln. Der radikale Unterschied von Privateigentum und gesellschaftlichem „Eigentum“ an Produktionsmitteln (im weiten Sinn) bleibt eine notwendige Basis für Erkenntnis und Handeln.

Ja, lieber Bertolt Brecht, wir leben in finsteren Zeiten, aber das ist weder Zufall, noch Schicksal, sondern wir tragen die Verantwortung für die Zukunft der Menschen und der Natur in der Gegenwart. Und von dieser Verantwortung können wir uns nicht entlasten, sondern müssen sie jetzt und gemeinsam wahrnehmen.

Daher kritisiere ich verschiedene Entlastungsstrategien und Fluchtphantasien grundsätzlich:

  1. Casus non datur: es gibt keinen Zufall, nur unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten, die wir oft falsch (bewusst oder unbewusst) interpretieren.
  2. Unser heutiges anthropozentrisches Weltverständnis (Weltbild) ist irreversibel, ist unüberholbar; weder durch Träume in die Vergangenheit, noch in die Zukunft. Ich wiederhole die Position von Hannah Arendt: wir Menschen sind sterbliche Schöpfer (nicht Geschöpfe!). Das schützt uns nicht grundsätzlich vor Missbrauch, Entfremdung, Verbrechen und Selbstvernichtung, aber wir sind in der Lage, diese Zustände durch Einsicht und Arbeit zu verändern.
  3. Religion wird trotz allen Missbrauchs, allen Aberglaubens und aller Instrumentalisierungen nicht verschwinden, aber die Marxsche Kritik bleibt gültig: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend.“ Die Konsequenz dieses „Doppelcharakters“ (Marx spricht im Anschluss an Hegel von „Aufhebung“) bedeutet für mich die Notwendigkeit der „Übersetzung“ (des Christentums) in eine Strategie konsequenter Menschenliebe.

Daher spreche ich – als aufgeklärter Realist – von der Dynamik des Vorläufigen in der Gegenwart. Ich bin ein Tagträumer des Hier und Jetzt. (Zugegeben, der Begriff des „Tagtraumes“ bedarf der Präzision.) Wir Menschen sind fähig (Kant spricht von der Mündigkeit) und verantwortlich (als Vernunftwesen), die Probleme der Welt (Alltag, Wissenschaft, Schutz der Natur) zu lösen. Vorläufigkeit ist kein Schicksal, ist weder endgültig noch führt sie zwangsläufig in die Verzweiflung. Ihre Dynamik ist erfahrbar (und formulierbar) im Kairos der Erlösung als einer konkreten Utopie.

Reflexionen in Erinnerung an die Ostseekreuzfahrt im August 2018

Der Sturm auf den Winterpalast – zweifach

Hegel, so wird Karl Marx zitiert, bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Ich vermute, die Wirklichkeit kann komplizierter und komplexer sein.

Als Beispiel nenne ich die Geschichte des zaristischen Winterpalais in St. Petersburg: 1917 wurde es innerhalb der Russischen Revolution von den Bolschewiki übernommen; später hochstilisiert als „Sturm auf den Winterpalast“. Im August 2018 erlebte ich die Eroberung der Eremitage durch den Massentourismus; denn heute ist der Winterpalast – in all seiner goldenen Pracht – Teil der Eremitage, des größten Kunstmuseums – weltweit. War das Geschehen 1917 eine „Tragödie“ und der heutige – mehr oder weniger gesteuerte Massenansturm von Touristen und Touristengruppen – in ihren zahllosen Bussen – eine „Farce“?

Die Entmachtung der Kerenski-Regierung verlief relativ problemlos, auch wenn der Kreuzer „Aurora“ im Hafen einige ungezielte Schüsse abgab; sprachlich „aufgeputscht“ in Anlehnung an den „Sturm auf die Bastille“ zu Beginn der Französischen Revolution. Und das heutige „Durchschleusen“ von zahllosen Touristen hat mit Kunstbetrachtung und Museumspädagogik nichts zu tun, sondern erlaubt bestenfalls ein Dauerstaunen über die Prachtentfaltung und ängstliche Blicke, um die eigene Gruppe (Nr. 6 rot oder Nr. 76 weiß) nicht aus den Augen zu verlieren.

Auch ich werde mein Verhalten später rechtfertigen: Das muss man gesehen haben. Der Zweck heiligt die touristischen Zwangsmittel. Und wie bemerkte der ältere, perfekt deutsch sprechende Reiseführer, als er die Namensänderungen dieser wunderschönen Stadt auf satirische Weise kommentierte: in einigen Jahren sehen wir uns in „Putingrad“ wieder.

Mister Bitter Lemon, der schlafende Zieten

Ich liebe nachmittags an Bord den kleinen Beobachterstatus: Eckplatz, rückenfrei, Blick aufs Meer, Blick auf die wenigen, vorbeigehenden Mitreisenden und den eilfertigen, überfreundlichen Steward. Das war für mehrere Tage mein Aufschreiberplatz in der Galerie neben dem Captains-Club auf dem Promenadendeck. Der Blick aufs Meer wirkte sich sich beruhigend aus; meine Gehirnzellen konnten konzentriert arbeiten, während die Augen sich zeitweilig schlossen – soweit meine Selbstwahrnehmung.

Der Steward schreckte mich auf: „Hallo, Mister Bitter Lemon“, denn er wusste, was ich am Nachmittag trinke, um meine Konzentration zu festigen. Am Horizont sah ich einige Schiffe und einen dünnen Streifen Land; wir durchquerten den finnischen Meerbusen Richtung Stockholm.

Beim Abendessen wurde mir vorgehalten, auf dem Promenadendeck eingeschlafen zu sein; und als Beweis zeigte I. ein Foto, das sie mit ihrem Handy aufgenommen hatte – ohne dass ich irgendetwas bemerkt hatte.

Ich erinnerte mich an den schlafenden Zieten in der Tabakrunde Friedrich II. und unterstelle, dass er als erfolgreicher General an der Seite des Großen Friedrich auch im Schlaf, also in seinem inneren Bewusstsein seine Strategien und Taktiken nachzeichnete, während er für den äußeren Beobachter schlief. Vielleicht war das der innere Grund, warum Friedrich den Schlaf seines väterlichen Freundes duldete.

Ich rechtfertige mein inneres, elitäres Bewusstsein mit der Notwendigkeit des Beobachter-Status als Phänomenologe; Stichwort: Epochè. Ich verbinde die äußere wie innere Beobachter-Rolle mit der kritischen Einschätzung voreiligen politischen Engagements. Der Beobachter-Status – als Grundlage der Analyse der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse – zeigt sich in einer präzisen Urteilsenthaltung, die ein vorschnelles, noch so gut gemeintes Engagement verbietet; dies geht gerade engagierten Politikerinnen und Politikern, die meine Sympathie haben, ab.

Einerseits macht das Engagement sympathisch und auch solidarisch, andererseits führt dieses Verhalten zu vorschnellen Urteilen bzw. Entscheidungen. Ein während der Kreuzfahrt kontrovers diskutiertes Beispiel ist A‘s Traum von einer „Europäischen Republik“. Der Begriff „Republik“ kann zu Kontroversen mit „konstitutionellen Monarchien“ in Europa führen, deren demokratische Struktur unzweifelhaft ist. Daher bleibe ich bei dem Projekt „Vereinigte Staaten von Europa“ und unterscheide mich in der Sache nicht; es geht darum, supranationale Strukturen weiter zu entwickeln, die zu mehr Demokratie, Mitbestimmung und Chancengleichheit führen. Dieser notwendige kurzfristige, mittelfristige und langfristige Prozess darf nicht durch Kontroversen „am Rande“ verzögert bzw. ausgebremst werden.

In einer konsequenten Strategie zur quantitativen wie qualitativen Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse in ganz Europa muss nicht nur – taktisch klug – zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Lösungen unterschieden werden (die sich nicht behindern oder sogar ausschließen dürfen), sondern auch ablenkende Vorschläge und Kontroversen müssen vermieden werden, die das Ziel von Demokratisierung, Gewaltenteilung und Chancengleichheit in allen Ländern und Regionen Europas ausbremsen.

Daher ist in meiner Zielvorstellung, in meiner „Utopie“ die Methode der Epochè ein notwendiges Element, Problemlösungen voranzutreiben, ohne unüberlegt zu handeln. Symbol dieser Methode ist die Eule der Minerva, die in der Dämmerung ihren Flug beginnt und gerade in dieser Zwischenzeit Blick und Überblick bewahrt. Sie steht nicht im Widerspruch zum Gallischen Hahn, der in der Morgenröte seinen Schrei und seine Aktion beginnt. Zwar ist er wachsam und agil, aber er kann nicht (oder kaum) fliegen.

Wie kehre ich von meiner impliziten Kritik der revolutionären Ungeduld zurück zum Schlafenden Zieten? Nun weiß ich es dank der Sprachspiele: aus dem schlafenden Zieten wird der Zieten aus dem Busch. Wir schlafen nicht, wir konzentrieren uns auf unseren Tagtraum und vergessen den Hahnenschrei nicht – manchmal mit Hilfe einer Flasche Bitter Lemon.

Von Zieten aus dem Busch

 Auf dem Promenadendeck
der MS Astor ostseewärts
saß täglich ein alter Mann,
der trank in der Captain‘s Lounge
Bitter Lemon.

Er erinnerte (sich) an
den schlafenden von Zieten
in der Tabakrunde
des alten Friedrich 2.

Zieten aus dem Busch.
Preußens Gloria,
Preußens Untergang.

Transzendentale Apperzeption

Ich saß auf einem Stein am Fuß des Denkmals für den Markgrafen Albrecht von Brandenburg und blickte auf das Grabmal Immanuel Kants an der Außenmauer des Königsberger Doms, eingerahmt durch eine russische Säulenhalle. Was ging mir durch den Kopf (nicht durch den Magen)? Kant, komplizierter Aufklärer, kein hitziger Franzose; preußisch diszipliniert, 1804 in Königsberg (heute Kaliningrad) gestorben. Hier hat er sein Leben lang gelebt, gedacht und gearbeitet.

Dennoch schon in seiner Zeit weltberühmt, aber er war kein Säulenheiliger. Sowjetische Heiligenverehrung hätte er zutiefst abgelehnt. Der Markgraf Albert von Brandenburg hatte 1544 die Universität gegründet. Er konnte nicht ahnen, dass ein Professor seiner Albertina die Metaphysik aus den Angeln heben würde; und dieser Kant seine drei schwer verdaulichen Kritiken (der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft) aufschriebe, um die Philosophie zu revolutionieren.

Marx, Freud, Husserl und Wittgenstein sind ohne seine Leistung nicht denkbar. Ich verzichte darauf, in dieser Reihung Hegel zu nennen, denn es ist schwer genug, ihn vom Kopf auf die Füße zu stellen (oder umgekehrt?).

Hastig verlasse ich Grab- und Denkmal, da die Abfahrt des Busses bevorsteht und verwerfe den elitären und unnützen Gedanken, im Bus meine Mitreisenden zu fragen, was „transzendentale Apperzeption“ bei Kant bedeutet. Nein, es bleibt die bescheidene Quizfrage, wie Kants langjähriger Kammerdiener mit Namen hieß. Da müsste uns ein Licht aufgehen! Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten.

p.s. Kants Diener hieß „Lampe“.

Schein und Sein im Kapitalismus der Gründerjahre

Ich liebe den Bauhausstil des 20. Jahrhunderts: die Funktion der Häuser und Wohnungen und der Gebrauchswert der Dinge des Alltags zeigen Stringenz und schlichte Eleganz. Ich weiß, die ästhetische Einheit von Tausch- und Gebrauchswert bleibt in der kapitalistischen Produktionsweise eine (schöne) Illusion.

Demgegenüber demonstriert der Jugendstil – zumindest an den Fassaden der Häuser – für den, der „dahinter“ blickt, den Gegensatz von Schein (der Fassaden) und Sein (Wohnquantität und -qualität).

Dies erkannte ich in Riga, der Stadt des Jugendstils: eine straßenweite Stuck-Explosion und Expansion; für mich ein (schön anzuschauender) „Rückfall“ in Manierismus und Rokoko.

Die Reiseführerin erzählte, dass die Architekten des Jugendstils zunächst das Dekor und die Pracht der Außenfassaden ihrer Häuser planten und in Konkurrenz zueinander realisierten, während die Innen- und Hinterhöfe sowie die Wohnungen bestenfalls funktional, aber ohne jede „Verzierung“ hergestellt wurden. Zwar wurden keine potemkinschen Dörfer entworfen (wie einem Liebhaber der Zarin Katharina unterstellt wird), aber der Gegensatz von Schein (zur Schaustellung) und Sein (Wohnraumbeschaffung angesichts boomender Industrie und überregionalen Handels) ist belegbar.

Ich erinnerte mich an die Handelshäuser in Leipzig – mit ihren goldenen Fassaden und kunstvoll dekorierten Innenhöfen und denke über die Entwicklungsphasen des Kapitalismus nach: vom frühneuzeitlichen Handelskapital der Hanse (und ihren Bauten) bis zum Industrie-Kapitalismus und der heutigen Rekonstruktion vergangener Zeiten für die Selbstdarstellung und den Massentourismus.

Ästhetische Erfahrung bedarf immer der Aufklärung über das Verhältnis von Sein und Schein in der jeweiligen Produktionsweise einer Gesellschaft. Aber ich bleibe dabei: es gibt heutzutage elegantere Darstellungsformen dieses Verhältnisses von Tausch- und Gebrauchswert – und unweigerlich der Einbruch der Realität durch Zerstörung oder Zerfall.

Verweisen statt wahrnehmen

Die Kunst der Aenigmatik des Gerhard Richter

Beobachtungen und Reflexionen zum installierten Kunstwerk
mit dem Foucaultschen Pendel im Innenraum
der Dominikanerkirche in Münster/Westfalen

Meine Neugierde trieb mich in der letzten Woche bei meinen regelmäßigen Besuchen der Landeshauptstadt Münster in Westfalen in die Dominikanerkirche, mitten ins Zentrum der Innenstadt, um die Installation von Gerhard Richter „Zwei Graue Doppelspiegel für ein Pendel“ kennenzulernen. In der Bekanntmachung der Stadt Münster heißt es vollmundig: „Für die Betrachter wird der Besuch der profanierten Kirche zur Begegnung mit der Zeit und mit ihrer Vorstellung von Wirklichkeit“. Ich frage mich, ob sich das „ihrer“ auf Zeit oder Kirche bezieht und erfahre – in fast allen Veröffentlichungen –, dass es sich um eine entweihte Barockkirche handelt (im Eigentum der Stadt). Soll ich rückschließen, dass die Einrichtung eines Kunstwerkes dem Kirchenbau eine erneute Weihe verleiht oder soll ich – im Sinne Gerhard Richters – vermuten, dass der Künstler einen idealen Ort gefunden hat, ein Foucaultsches Pendel aufzuhängen und in Schwingung zu versetzen: eine 48 Kilogramm schwere Metallkugel an einem 28,75 Meter langen Edelstahlseil über einer kreisrunden, äquivalent zur Bewegung des Pendels gewölbten Platte aus Grauwacke, einem 380 Millionen Jahre alten Sedimentgestein? Und weiter heißt es in der städtischen Information: „Ein Magnetfeldantrieb im Zentrum der Bodenplatte sorgt für die ununterbrochen gleichmäßige Bewegung des Pendels. Im Verlauf einer Stunde dreht sich die Ebene unter dem Pendel um 12 Grad nach Osten. Entsprechend dem „Sterntag“, an dem sich die Erde einmal um die eigene Achse dreht und der in Münster etwa 30 Stunden zählt. Damit wird die erstmals im Jahre 1851 von dem französischen Physiker Léon Foucault in einem Pendelversuch nachgewiesene Erdrotation sichtbar“ (kursiv von mir).

Die Behauptung der „Sichtbarkeit“ stelle ich in Frage und unterstelle, dass dies nicht die Absicht des Künstlers ist. Fast eine Stunde habe ich mich im Kirchenraum aufgehalten und die Menschen beobachtet, die unablässig und zahlreich in den Raum (bei offenen Türen) strömten und, wenn ich ihre Gesichter richtig deute, eher ratlos oder andächtig verweilten. Denn alle wussten aus den Medien, dass ein weltberühmter Maler, dessen Werke auf Auktionen für zig Millionen Dollar verkauft werden, der Stadt Münster ein Geschenk auf Dauer vermacht hat.

Ich hätte mir spontan eine Umfrage gewünscht: was nehmen die Menschen wahr, was erwarten sie, die sie die Pendelbewegung beobachten? Und wie ordnen sie die an den zwei Wandflächen der Vierung paarweise gruppierten verspiegelten Glasbahnen (mit den Maßen 6 Meter mal 1,34 Meter) dem Pendel in seiner steten Bewegung und ihrem jeweils eigenen Standort zu? Mir bleibt die Beschreibung zweier Menschen in ihrem jeweiligen Verhalten: der alte Mann mit seinem Regenschirm und der kluge Mitmensch, der aus dem Physikunterricht seiner Schulzeit zitiert.

Der alte Mann nimmt seinen geschlossenen Regenschirm und stellt ihn nahe der Skala der Bodenplatte – jenseits der Absperrung – und schaut konzentriert minutenlang auf die Skala und hofft, anders kann ich sein Verhalten nicht interpretieren, dass die Bodenplatte sich für ein paar Grad gegenüber dem Standort seines Schirmes bewegt hat. Nach einiger Zeit schüttelt er den Kopf, da er keine Drehung wahrnimmt, und zieht seinen Schirm leicht verunsichert wieder hinter die Absperrung zurück. Ich erkenne nicht nur seine Verunsicherung, die vermeintliche Drehung der gewölbten Platte aus Sedimentgestein nicht wahrgenommen zu haben, obwohl er doch seinen Schirm fest auf den Boden gedrückt hatte, sondern ich fühle auch seine Verlegenheit, das Verbot der Absperrung missachtet zu haben. Und ich frage mich: weiß er nicht, dass wir mit dem gesamten Kirchenboden – und damit mit der gesamten Erdoberfläche – rotieren, ohne diese Erdrotation wahrzunehmen?

Mein Nachbar im Kirchenrund, ein kluger Mitmensch, hat diese Situation auch beobachtet und flüstert mir zu, der Herr habe wohl in der Schule nicht aufgepasst; er habe im Physikunterricht gelernt, dass die Erde sich in 24 Stunden um ihre Achse drehe. Ich will nicht belehrend wirken und ihm erläutern, dass auf unserem Breitengrad die Rotationszeit etwa 30 Stunden dauert. Ich nicke lächelnd mit dem Kopf und überlege für mich, dass die Schattenbildung der Metallkugel auf der Platte von Grauwacke durch das einströmende Sonnenlicht die konkrete Gradbestimmung der Drehbewegung der Ebene unter dem schwingenden Pendel verkompliziert – denn auch die Sonne bewegt sich, obwohl wir in der Schule gelernt haben, dass die Erde, auf der wir Menschen leben, nicht nur rotiert, sondern sich auch auf einer elliptischen Bahn um die Sonne dreht. Doch was ist, wenn die Sonne nicht durch die Fenster der Dominikanerkirche scheint? Das Pendel schwingt und die Erde rotiert und einen archimedischen Punkt haben wir Menschen, die wir auf der Erdoberfläche leben, nicht.

Weder die Philosophen noch die Künstler verfügen über den archimedischen Punkt, von dem aus sie alles, was in der Welt der Fall ist, überblicken oder sogar steuern könnten. Was bleibt, wenn die Sprache versagt, nicht aus Mangel, sondern durch strukturelle Begrenzung? Was bleibt, wenn ein Bild universale Erfahrungen des In-der-Welt-Seins nicht abbilden kann? Auch hier frage ich nach den strukturellen Grenzen, nicht nach der individuellen Kompetenz. Dabei geht es nicht nur um die jeweilige Thematik (Ist die Menschenvernichtung in ihrer grenzenlosen Brutalität abbildbar? Oder: Ist „Erlösung“, die mehr und anderes sein will als „Probleme-lösen“ darstellbar?), sondern auch um die Bedingungen der Möglichkeit von menschlicher Wahrnehmung. Ich vermute, Gerhard Richter, der um diese Problematik weiß, will mit seiner Kunst (bei ihm immer auch ein präzises Kunst-Handwerk) auf universale Erfahrungen hinweisen, die die Menschen nicht – zumindest nicht problemlos – wahrnehmen können.

Die Erdrotation betrifft alles und alle, die auf der Erdoberfläche leben, aber sie kann von uns Menschen zwar nicht wahrgenommen werden, aber durch das Foucaultsche Pendel wird auf sie verwiesen – und ihre Geschwindigkeit kann gemessen werden. Dieses Verweisen auf die Drehung des Bodens – und einen skalierten Kreis – über eine gleichmäßige Pendelschwingung, die eine gleichbleibende Ebene bildet, kann optisch verdeutlicht werden; wie beim Foucaultschen Pendel im Deutschen Museum in München – durch im Kreis angeordnete umkippende Klötzchen. In Münster hat Gerhard Richter darauf verzichtet.

Was beabsichtigt der Künstler mit dieser Installation; was ist sein Interesse und was fasziniert ihn?

Ich verzichte auf die Wiedergabe der wenigen veröffentlichten und kargen Aussagen des Künstlers; denn sie mögen für den Eigentümer des Kirchenraumes, die Stadt Münster, wichtig und für den finanziellen Vertragsabschluss (beziehungsweise die Bedingungen der Schenkung) bedeutsam sein; für die Analyse der Aussage und Wirkung eines Kunstwerkes sind sie nicht maßgebend. Ich erinnere mich an die Diskussion einer Schülergruppe mit einem mir befreundeten Maler in seiner Ausstellung: die Schüler wollten wissen, was er mit seinen (abstrakten) Bildern aussagen wolle – und er verweigerte sich. Denn seine Aussagen seien seine Bilder und ihre Bedeutung müssten sie durch ihre eigene Wahrnehmung herausfinden. Auch die Unterschriften seien beliebig und dienten allein der Identifizierung und Katalogisierung (und einem möglichen Verkauf) der einzelnen Bilder.

Damit kehre ich zu der Frage zurück, was die Menschen, die ich in der Dominikanerkirche beobachtet habe, möglicherweise erwarten und wahrnehmen. Nun sollen meine Reflexionen nicht auf ein Psychogramm der Museumsbesucherinnen und -besucher hinauslaufen (z.B. meines „alten Mannes mit Regenschirm“ und meines Nachbarn, der sich, wenn auch unpräzise, an seinen Physikunterricht erinnerte), sondern ich beschreibe im Folgenden meine Erwartung, also meine Kontext-Überlegungen, und meine Wahr-nehmung dieser Installation von Gerhard Richter.

Wenn ich die Bilder von Gerhard Richter – in seine aktuellen Schaffensperiode – mir anschaue (und ich hatte Gelegenheit, seine letzte umfassende Ausstellung im Kölner Museum Ludwig und auch seinen Birkenau-Zyklus im Burda-Museum in Baden-Baden sowie (mehrmals zu unterschiedlichen Tageszeiten) sein Kölner Domfenster zu besuchen), dann nehme ich seine Absicht wahr, Phänomene darzustellen, die grundsätzlich nicht abgebildet werden können, weil ihre „Totalität“ in einem „Bild“ (in einem Abbild) nicht fassbar ist; auf das, was diese Phänomene bedeuten, kann der Künstler nur verweisen. Verweisen statt abbilden, das ist die Vorerwartung, wenn ich mich den Bildern dieses Künstlers annähere. Welche „Phänomene“ meine ich?

Die Praxis des Übermalens und Verwischens, die Richter präzise und konsequent ausübt, stellt die Wahrnehmung des Abzubildenden in Frage, problematisiert die Möglichkeit des Abbildens – in Bezug auf die gewünschte Aussage des jeweiligen Phänomens. Es bleibt die Möglichkeit des Verweisens auf Phänomene, die grundsätzlich unabbildbar sind. Denn das Abbild löscht das Wesentliche des jeweiligen Phänomens; es bleibt der Verweis, um das Individuelle oder das Totale oder das Unfassbare, eben das Unbegreifbare auszudrücken; es als Künstler im (nicht mehr traditionellen) Bild oder in einer Installation darzustellen. (Das Wort „Verweis“ ist zumindest in der deutschen Sprache doppeldeutig: Hinweis/Verbot.)

Ich nenne diese Form der bildlichen Darstellung aenigmatisch und erkläre die Herkunft dieses von mir gewählten Kunstwortes an späterer Stelle. In dieser Form dokumentiert sich das Besondere des jeweiligen Phänomens: z.B. die Individualität, auch Würde eines Menschen, die im Bild (Abbild) möglicherweise verloren geht; oder der helle Schein einer Kerze (ihr jeweiliges Licht oder ihr Glanz), der in ihrer fotografischen Abbildung verschwindet; oder die Totalität des Verbrechens der systematischen und bürokratischen Menschenvernichtung im Holocaust (vgl. Richters Birkenau-Serie) oder die Fülle (das Pleroma) der Erlösung im Kontext der messianischen Utopie der jüdisch-christlichen Tradition (vgl. Richters Kölner Domfenster mit seinen 11500 Quadraten aus mundgeblasenem Echt-Antik-Glas in 72 unterschiedlichen Farbkombinationen, gewonnen durch einen Zufallsgenerator; Südquerhausfassade 2006).

Phänomene dieser Art können ihren Glanz, auch ihre Individualität oder Brutalität verlieren, wenn sie fotografisch abgebildet werden. Auf Phänomene dieser Art kann nur durch eine spezielle Abmal- oder Übermaltechnik, die Gerhard Richter beherrscht, „verwiesen“ werden.

Im Bereich der menschlichen Sprache drücken sich solche Grenzerfahrungen, die nicht begreifbar sind, in Oxymora aus. Religiöse Sprachspiele wie die Sprache der Utopien leben von solchen Oxymora; sie sind Ausdrucksformen der Sprache der Poesie und Mystik. (Vgl. die Stichworte meines Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten, Münster 2017, und meinen Aufsatz zum „Messianischen Denken in einer Welt ohne Gott“, 2018, auf meiner Homepage.)

Für eine bildende Künstlerin oder einen bildenden Künstler, die an den oben beschriebenen Phänomenen interessiert und von ihnen fasziniert sind, bleibt die Methode der Aenigmatik.

Diese Methode – so das Resultat meiner Überlegungen – praktiziert Gerhard Richter; ich fasse seine Arbeitsweise und ihre Resultate unter dem Slogan zusammen:
Verweisen statt Abbilden.

Den Begriff „Aenigmatik“ – ein Kunstwort, das der Duden nicht kennt – habe ich in Anlehnung an das 13. Kapitel des ersten Korintherbriefes gewählt; verfasst vom jüdisch-christlichen Gelehrten Paulus, um die Methode des messianischen Denkens aus der Messias-Erfahrung heraus unter den Bedingungen der Jetzt-Zeit zu kennzeichnen:

Denn Stückwerk ist unser Erkennen und Stückwerk unser prophetisches Reden. Wenn aber das Vollkommene kommt, dann wird zunichte werden, was Stückwerk ist. Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, überlegte wie ein Kind. Als ich aber erwachsen war, hatte ich das Wesen des Kindes abgelegt. Denn jetzt sehen wir alles in einem Spiegel, in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich ganz erkennen, wie auch ich ganz erkannt worden bin.“ (so die Übersetzung der Zürcher Bibel 2007).

Martin Luther übersetzt die entscheidende Passage: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem tunckeln Wort.“ Und in der lateinischen Vulgata-Übersetzung heißt es: „per speculum in aenigmate“. Schon für die Sprachspiele in Utopie und Mystik habe ich 2017 formuliert: „Die Sprache der Oxymora ist aenigmatisch, kann existenziell wirksam sein, aber bleibt unbegreifbar, und im Medium des Bildes: nicht abbildbar, da nicht wahr-nehmbar.“ (S. 214, Nachwort: Mit der Torheit leben und sterben? Aus: Vademecum, Münster 2017)

In der aenigmatischen Produktionsweise – in Sprache und Bild – wird auf rätselhaft widersprüchliche Weise („in einem tunckeln Wort“, Martin Luther) gedacht und gestaltet: im Bereich der Sprachkunst (Dichtung) soll das „beredte Schweigen“ ausgedrückt werden. Die Sprachspiele der Utopie sind die Sprachspiele der Mystik, nicht der heute verbreiteten, oberflächlichen Esoterik. Mystik aber beginnt und endet mit dem Schweigen. Abbilden wie Begreifen sind Formen des rationalen Denkens, sowohl im theozentrischen Weltbild (von Himmel und Erde), als auch im anthropologischen Weltverständnis: Probleme werden mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden gelöst und mithilfe der einzig erfolgreichen, da eindeutigen Sprache: der Sprache der Mathematik kommuniziert.

Der Gebrauch (wie Missbrauch) religiöser Sprachspiele stellt einen Sonderfall dar, der eingehender Kritik und notwendiger Übersetzung bedarf. Dies gilt auch und vor allem für die sog. Religiöse Kunst. Wenn versucht wird, existenzielle Erfahrungen in religiöser Sprache begreifbar zu machen, so ist das im theozentrischen oder metaphysischen Weltverständnis sehr wohl möglich, bedarf aber der Aufklärung, denn im Kontext eines anthropozentrischen Weltbildes und des für wissenschaftliche Problemlösung notwendigen „methodischen Atheismus“ (zunächst) sinn-los.

Jenseits aller Formen des idealisierten Begreifens und Problemlösens bleibt die Möglichkeit und Notwendigkeit der Kunst, auf das Unbegreifbare zu verweisen. Doch die Methoden der Aenigmatik sind gefährdet: sie können umschlagen in Beliebigkeit. Denn ohne Kontextwissen und Hintergrunderfahrung können die Artefakte aenigmatischer Produktion – im wörtlichen Sinn – oberflächlich – an der Oberfläche – bleiben.

Richters Bilder und Installationen verlangen, um sie zu verstehen, im Zuschauer bzw. Beobachter einen konkreten Denk- und Erinnerungsprozess: bei den Menschenbildern, die auf die Individualität verweisen, ist biografisches Hintergrundwissen notwendig; beim Kerzenbild das Wissen um die Funktion einer Kerze. (Hier wäre ein Vergleich mit den Bildern von Georges de la Tour, dasselbe Sujet betreffend, interessant.) Beim Kölner Domfenster ist die spezifische Aura des Kirchenraumes (soweit noch erfahrbar) ein notwendiger Hintergrund.

Bei dem Birkenau-Zyklus zeigt sich das Problem des Umschlags auf besondere Weise: es ist fraglich, ob die Totalität des Verbrechens der Menschenvernichtung abbildbar ist; aber gibt es nicht andere, mehr beeindruckende Formen des Verweisens, wenn ich an die Bilder von Felix Nussbaum in seinem eigens errichteten Museum in Osnabrück (von Daniel Libeskind gestaltet) denke? Was bleibt von der Wirkung der Birkenau-Bilder, wenn das Wissen um die Konzentrations- und Vernichtungslager verblasst?

Sicher ist auch die aenigmatische Darstellungsweise begrenzt; ohne Denkleistung bleibt das Wahrnehmungsinteresse der Beobachterinnen und Beobachter oberflächlich. Ich kehre zurück zum Foucaultschen Pendel und seiner Installation zwischen zwei grauen Doppelspiegeln in der Dominikanerkirche in Münster. Die physikalisch-technische Innovation bestand 1851 und später darin, gegen die ablehnende Haltung der Kirche, die das Phänomen der Erdrotation vorab aus einer für uns heute überholten, ideologisch bestimmten Weltsicht leugnete, ein „Messinstrument“ zu konstruieren, das das Phänomen der Erdrotation nachweisen und ihre jeweilige Zeitdauer bestimmen konnte.

Gerhard Richter interessiert und fasziniert dieses Phänomen (und sein Nachweis) – so unterstelle ich –, weil es alle Menschen, die auf der Erdoberfläche leben, betrifft, aber von niemandem wahrgenommen werden kann. Das Foucaultsche Pendel symbolisiert die Methode der Aenigmatik, in der Richter seine Arbeitsweise als Künstler erkennt, reflektiert (daher die Wandspiegel) und mitteilt. Er installiert das Pendel in einem (länger gesuchten) spezifischen Raum, der keiner weiteren Nutzung unterliegt; an dessen gegenüberliegenden Wänden sich die gleichbleibende Pendelbewegung in den je zwei grauen Spiegelflächen eigentümlich reflektiert. So wird der Innenraum der Dominikanerkirche zu einem Gesamtkunstwerk, das die Besucher in seiner rätselhaften Wirkung einbezieht.

Diese aenigmatische Wirkung wird verstärkt, da kontrastiert, wenn der in der Kirche vorhandene und zur Zeit verdeckte Hochaltar, ein prachtvoll geschnitzter Barockaltar aus einer Paderborner Kirche, der 1976 restauriert und rekonstruiert wurde, nicht nur (auf Wunsch des Künstlers und gegen den anfänglichen Willen der Stadt) im Kirchenraum erhalten bleibt und wieder sichtbar wird.

Spezifikum dieses Altars ist in seinem Hauptfeld ein Gemälde von Georg Christian Brüll, das die Himmelfahrt Mariens darstellt. Diese Abbildung ist die Phantasievorstellung frommer Menschen auf der Grundlage eines heute überholten (theozentrischen) Weltbildes. Diese Vorstellung resultiert aus einer Legendenbildung des 6. nachchristlichen Jahrhunderts, die schon vor der Zeit der „Gegenreformation“ (vgl. Tizians Gemälde „Mariä Himmelfahrt“ um 1516) immer wieder künstlerisch umgesetzt wurde und sogar 1950 (!) zu einer dogmatischen Engführung in der römisch-katholischen Kirche führte (die leibliche Aufnahme Mariens, der Mutter Jesu, in den Himmel – Assumptio Beatae Mariae Virginis – während die Ostkirchen bis heute von der „Entschlafung“ – dormitio – sprechen).

Auch das christliche Kreuz, das im Kirchenraum anzutreffen ist (ob mit oder ohne Korpus), hat Verweischarakter. Abgebildet wird nicht „Gott“, das wäre sinn-los, oder im christlichen Verständnis Götzendienst und fiele unter das strenge Abbildungsverbot der jüdisch-christlichen Tradition.
Stärker kann der Gegensatz in diesem ehemaligen Kirchenraum nicht sein (wenn dem Wunsch des Künstlers mit Recht – wie ich meine – entsprochen wird): einerseits ehemaliger Ort kultischer Verehrung mit Hilfe eines Bildes religiöser Phantasie, andererseits Ort technisch-wissenschaftlicher Beweisführung in einem aufgeklärten, wissenschaftlichen Weltverständnis. Und ich ergänze – als Beobachter der zahlreichen Besucherinnen und Besucher: Ratlosigkeit bleibt zurück bzw. wird zurückbleiben. Ich wünsche mir, dass das Gesamtkunstwerk „Innenraum der Dominikanerkirche“, gestaltet von Gerhard Richter, Wirkung bei den Besuchern erzeugt: nachzudenken über die Alternative: Verweisen statt Abbilden.