Notwendige und Sinn-erschließende Übersetzung der Leistungen des menschlichen Bewusstseins vom theozentrischen ins anthropozentrische Weltbild

In einem Weltbild lassen sich die grundsätzlichen Erkenntnismöglichkeiten des menschlichen Bewusstseins in einer jeweiligen Epoche (Weltverständnis) aufzeigen und zusammenfassen. Ich unterscheide die Vorstellungen, Denkmöglichkeiten (Potenzen) und Sprachformen (Sprachspiele) vor und nach der Aufklärung und kennzeichne sie zusammenfassend als theozentrisches und anthropozentrisches Weltbild.

Die Ablösung der Weltbilder lässt sich sowohl historisch als auch strukturell beschreiben. Der Ablösungsprozess verläuft sowohl chronologisch als auch gleichzeitig – in struktureller Konkurrenz – ab.

Im theozentrischen Weltbild (der zwei Wirklichkeiten) sind Theophanie, Apotheose und Adoptionismus vorstellbar und in religiösen Sprachspielen erzählbar. Die Welt der Götter/des Gottes und die Welt der Menschen auf der Erde stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander und werden in vielfältigen Schöpfungsmythen erzählt. Paradieserzählungen stehen oft am Anfang oder werden zukünftig erwartet.

Im anthropozentrischen Weltbild wird die Trennung von Himmel und Erde (und Unterwelt) als Mythos entziffert. Aufgeklärte Menschen halten auf der Basis dieser Welterkenntnis Paradiesvorstellungen (sowohl im Himmel wie auf der Erde) für eine erklärbare Illusion.

Die Frage ist: Bleibt dem aufgeklärten homo sapiens am Ende des Anthropozän nur der allgemeine Pantheismus oder eine vielfältige Form des Atheismus als mögliche Weltanschauung? Meine Antwort ist: Nein!

Zumindest die hebräische Bibel – als Grunddokument von Judentum und Christentum – und ihre griechische Übersetzung (LXX) kennen das Messianische Denken; die Propheten erwarten den Messias als (konkrete) Utopie in vielfältigen apokalyptischen (und damit chronologisch erzählten) Sprachspielen. Die Zeit/Wiederkehr des Messias/Christus ist nahe (als Naherwartung oder in kairologischer Erfahrung – jenseits von Raum und Zeit. In dieser Utopie ist Erlösung universal denkbar, konkret vorstellbar und überzeugend (als Credo/Glaube) mitteilbar.

Ich behaupte, auch für aufgeklärte Menschen – nicht nur aufgeklärte Juden und Christen – ist Erlösung denkbar. Das bedeutet: Atheismus muss keine Weltanschauung sein, sondern auf die „Gotteshypothese“ (so Bonhoeffer) beim Lösen von Problemen im Alltag, in der Gesellschaft und in der Wissenschaft kann verzichtet werde. Ich spreche daher vom „methodischen Atheismus“.

Da alles Problem-Lösen vorläufig ist (Provisorium und Antizipation zugleich), kann und muss Erlösung im heutigen Bewusstsein der Menschen mitgedacht werden. In das anthropozentrische Weltverständnis übersetzt, bedeutet das: Erlösung (konkret: der Erlöser) kann kairologisch erfahren und mitgeteilt werden: als Befreiung und Umkehr.

Für aufgeklärte Christen ist die Botschaft des Messias Jesus aus Nazaret maßgebend (dokumentiert in den „Evangelien“ des Neuen Testamentes als Explikation der prophetischen Verheißungen) und es gilt der kategorische Imperativ des exil-jüdischen Schriftgelehrten Paulus aus Tarsus: „Euer Leben sei ein ‚vernünftiger Gottesdienst‘“ (eine griech. latreia logiké).

p.s.

Chronologisch erzählte Messias-Erwartungen müssen in kairologisch erfahrene Befreiung übersetzt werden.

Gerade habe ich gelesen:

(1) Daniel Boyarin, Die jüdischen Evangelien. Die Geschichte des jüdischen Christus, Würzburg 2015, Judentum, Christentum, Islam. Interreligiöse Studien, Bd. 12 (übersetzt aus dem Amerikan., New York 2012)

Wann und wo ist ein Buch überholt?

Biografische Episode während der Pandemie mit reflexivem Einschub zum Raum-Begriff

Wann und wo ist ein Buch überholt?

Wer gelernt hat, über lange Zeit in seinem Arbeitszimmer an seinem Schreibtisch zu sitzen und zu schreiben, dem ist – zusätzlich als Bibliophiler – die aktuelle Nötigung zur Häuslichkeit in Zeiten der Pandemie nicht ungewohnt, wenn auch grenzwertig.

Ich arbeite, informiere mich online und schreibe in meinem Gehäus; so nennt und zeichnet Albrecht Dürer die Studierstube des Hieronymus. Ich empfinde diesen Zustand als gewohnt, wenn auch nicht gesundheitsfördernd. Kein Engel über mir und kein Löwe vor mir schützen mich; obwohl: auch ein dämmernder Löwe ist wachsam und ein schwebender Engel stiftet himmlischen Duft.

Statt Löwe und Engel schützen mich – wie Barrikaden – Bücherreihen, Bücher- und Manuskriptstapel (wenn auch auf fragile Weise) und Bücherregale voller Bücher. Ein explizierter Bibliophiler ist eben ein implizierter Biblioman.

Meine Bücher verströmen nicht nur einen unterscheidbaren Geruch (ich kann Bücher riechen und dieses Phänomen druck- und klebetechnisch erklären), sondern sie haben eine unterschiedliche visuelle Gestalt; selbst Paperbacks und Taschenbücher sind (u.a. dank der edition suhrkamp) individuell unterscheid- und erkennbar.

Seit meiner Jugend – und den regelmäßigen Besuchen in der Stadtbücherei – habe ich die Fähigkeit, Bücher an Gestalt und Farbe wiederzuerkennen, auch wenn die Reihenfolge in den Bücherregalen eher chaotisch ist. Das alles ist eine Frage der Geduld.

Von Zeit zu Zeit frische ich meine visuelle Fähigkeit auf, indem ich ein Buch aus dem Regal nehme, es (insgeheim) berieche und mich schnell wieder an Autor und Inhalt erinnere; selbst wenn ich das Buch nur flüchtig gelesen oder durchblättert habe.

Soweit die Hinweise zu meinem praktischen Alltag. Grenzwertig ist dieser durch Pandemie erzwungene Alltag, weil die wöchentliche Flucht vom Dorf in die Stadt, in ihre Buchgeschäfte und Cafés unmöglich und verboten ist, so dass nur Routinegang mit Ausweis und Gesichtsmaske in die Universitätsbibliothek bleibt. Das ist schon frustrierend; beinahe hätte ich „kastrierend“ geschrieben.

Eine Universitätsstadt voller Bücher ist ohne geöffnete Cafés und Bistros und ohne Kommunikation halbtot; auch die geschlossenen Museen (wie die menschenleeren Kirchen) verlieren ihre Attraktion. Doch zurück in mein Gehäus.

Gestern griff ich, um meine Wahrnehmung zu prüfen und die Fähigkeit wiederzuerkennen zu stärken, zu einem kleinen, gebundenen Buch des Kölner DuMont Bücherverlages aus dem Jahr 2010: Alexander Marguier: Das Lexikon der Gefahren. Marguier, westdeutscher Journalist, hat in diesem Buch Anekdoten zur Gefährdung von A wie Alkohol bis Z wie Zusatzstoffe in Lebensmitteln gesammelt und Gottfried Müller hat sie jeweils präzise illustriert.

Bevor ich anhand dieses in Leinen gebundenen Taschenbuches „für die Hosentasche“ die Frage beantworte, ob es „überholte“ Erzählungen in „veralteten“ Büchern gibt, muss ich klären, ob und was es bedeutet, im Gehäus zu sitzen und zu schreiben; in der Tradition von Hieronymus (in der Phantasie Dürers), von Luther (auf der Wartburg) oder Hans Blumenberg (in seiner Münsteraner Wohnung in literarischer Verarbeitung durch Sibylle Lewitscharoff). Wie beeinflusst der Raum des Erzählers, Übersetzers, des Aufschreibers die Erzählung und die Geschichte ihrer Überlieferung – auch ohne Engel oder Löwe?

Der Raumbegriff ist ein Konstruktion des menschlichen Bewusstseins. Räume prägen unsere alltäglich Wahrnehmung, wie auch unser Erzählen im Gespräch. Naturwissenschaftlich gesehen ist der Raumbegriff sekundär, also abgeleitet. Grundlegend ist heute nicht mehr der physikalische Raum (der sog. Klassischen Physik), primär ist der Feldbegriff. Durch seine

Differenzierung können verschiedene Räume (bis hin zum Schwarzen Loch) eindeutig begriffen und beschrieben werden.

Erfahrungswissenschaftlich (raumsoziologisch) ist der Raumbegriff sekundär, da er ohne Zeit nicht gedacht, nur in der Zeit (chronologisch) wahrgenommen und beschrieben werden kann. Erfahrungen werden also verstanden, indem sie sprachlich (in Sprachspielen) ausgedrückt/verfasst werden. Dies gilt in einem ursprünglichen Sinn: nur in einer sprachlichen Verfassung können sie verstanden und (natürlich) erzählt werden.

An der sprachlichen Verfassung von Erfahrung lässt sich ablesen, ob sie begriffen werden kann oder (als Utopie bei religiösen Sprachspielen) erzählt werden muss. Bestimmte Erfahrungen (z.B. Märchen) sind nicht an Ort und Zeit gebunden, auch und da sie in fiktiven Orten und zu fiktiven Zeiten spielen. Diese Erfahrungen können von der erzählten Zeit und den erzählten Orten gelöst werden; in diesem Sinn sind sie ort- und zeitlos, aber Weltbild-abhängig.

Ich nenne begreifbare Erfahrungen hinsichtlich ihrer Dimension „chronologisch“; erzählbare Erfahrungen „kairologisch“. Im (heutigen) anthropozentrischen Weltbild sind chronologische Erfahrungen begreifbar, in bestimmten Rahmen reproduzierbar und verbindlich mitteilbar. Kairologische Erfahrungen sind existenziell erfahrbar und nach einer Pause des Schweigens auf „aenigmatische Weise“ erzählbar (wie in einem Spiegel).

Um die Bedeutung von Sprachspielen aus dem theozentrischen Weltverständnis zu erkennen, müssen diese (überkommenen) Sprachspiele übersetzt werden. Dieser Prozess der Übersetzung schließt kritische Prüfung (auf Sinn oder Sinnlosigkeit) ein. Die mögliche Bedeutung überkommener Sprachspiele (z.B. in religiöser Sprache) kann im Gespräch in Form konkreter Utopie vermittelt werden.

Religiöse Sprachspiele sind rückgebunden an das theozentrische Weltbild. Diese Rückbindung zeigt sich in den zahlreichen Schöpfungtsmythen. Für das aufgeklärte Denken bleibt zu prüfen, ob in den tradierten Botschaften utopische Strukturen konkret erkennbar und erzählbar sind.

Mein (vorläufiges) Ergebnis der Prüfung und Übersetzung der jüdisch-christlichen Tradition und ihrer Sprachspiele ist die konkrete Utopie der messianischen Botschaft. Ihr kann unter den Bedingungen des anthropozentrischen Weltverständnisses vertraut werden und diese Botschaft kann als konkrete Utopie der Erlösung weiter erzählt werden. Auf andere Weise formuliert: Aufgeklärtes Denken und messianisches Denken sind dem Grunde nach kongruent.

Eine Konsequenz messianischen Denkens ist die Raum- und Zeitlosigkeit kairologischer Erfahrung, auch wenn ort- und zeitbedingt erzählt wird. Das bedeutet zugleich die Profanisierung von Raum und Zeit. Es gibt keine heiligen Orte und keine heiligen Zeiten. Arbeitszimmer und Studierstuben dienen der Konzentration menschlichen Bewusstseins; Kirchenräume und Museen dienen der Ruhe und Entspannung, aber auch der gemeinsamen Erinnerung und Danksagung, wie der bewussten Wahrnehmung künstlerisch geschaffener Artefakte.

Zu den Konzentrationsübungen des menschlichen Bewusstseins gehört der abschätzende und verantwortungsvolle Umgang mit den Risiken des Alltags und der Arbeit, im Sinne der Einsicht von Hannah Arendt, dass wir Menschen sterbliche Schöpfer sind. Hier unterstützt – auf launig-satirische Weise das oben genannte Lexikon der Gefahren.

Ich schlage unter dem Stichwort „Pandemien“ nach (Seite 163-168) und erfahre zunächst, dass der Begriff „Pandemie“ „mittlerweile zum Wortschatz der Globalisierung“ gehört. Ich gestehe, bis vor einem Jahr kannte ich dieses Wort nicht und begnügte mich, von „Epidemien“ zu sprechen. Ich lese weiter:

Die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland einer pandemischen Infektionskrankheit zu erliegen, ist heutzutage wegen der enormen medizinischen Fortschritte und aufgrund besserer Hygiene so gering wie nie zuvor. Noch zwischen den Jahren 1918 und 1920 fielen allein im Deutschen Reich schätzungsweise 300 000 Menschen der Spanischen Grippe zum Opfer, gegen die es keinen Impfstoff gab.“ (S. 167)

Dieses Buch erschien im Jahr 2010 auf dem Büchermarkt und die Aussage zur Pandemie ist 2021 überholt. Nun weiß ich nicht, ob Autor und Verlag eine korrigierte Neuauflage planen. Interessant ist die Fehleinschätzung der Risiken vor mehr als 10 Jahren. Zweifellos ist dieses Buch mit dieser Aussage veraltet. Bemerkenswert bleibt, wie wir mit Risikoeinschätzungen in gedruckten Büchern umgehen sollten. Bücherfreunde seien gewarnt.