Gegen das Schwarzsehen und gegen die Verfasser von Untergangsszenarien

Wenn ich Zeitungsartikel in der NZZ und anderswo lese, Essays über die Ablösung der Utopie durch „Strategien der Schadensbegrenzung“, ist die Hoffnung auf ein besseres Leben in Ängstlichkeit umgeschlagen. Es entsteht ein gesellschaftlicher Zustand, der nur noch Schadensbegrenzung zulässt, von der die Feuilletonschreiber nicht wissen, ob diese Strategie das Überleben der Menschheit sichert.

Ich plädiere demgegenüber für eine realistische Erkenntnis der gesellschaftlichen Möglichkeiten der Zukunft. Ich unterscheide in meiner Analyse der Gesellschaft zwischen Naturgeschichte und Menschengeschichte. Diese Unterscheidung verlangt, wenn verantwortlich gedacht und gehandelt wird, eine doppelte Form des Naturschutzes; nämlich die Menschen vor den Gefahren der Natur zu schützen und die Natur vor der Zerstörung und Vernichtungswut verantwortungsloser Menschen zu bewahren.

Diese zweifache Verantwortung des homo praestans ist realistisch, notwendig und ergänzt einander. Der verstärkte Deichbau in den Niederlanden der letzten Jahrzehnte, um das Risiko der Landnahme – 80% unter dem Meeresspiegel – zu rechtfertigen und zu minimieren, ist ein sinnvolles Beispiel für Naturschutz und eine verantwortliche Risikominimierung. Nur so wird der Mensch als „sterblicher Schöpfer“ (H. Arendt) seiner Verantwortung gerecht.

Das Projekt der Aufklärung muss zu Ende gedacht und ihre Abbrüche und Verwerfungen müssen überwunden werden, damit der Prozess der Aufklärung weltweit, nachhaltig, risikominimiert und menschenwürdig weitergeführt werden kann.

Unter der Perspektive einer konsequent durchdachten Aufklärung kann der Mensch am Ende des Anthropozän nicht nur „in Würde“ leben, sondern auch Erlösung als existenzielle Zusage erfahren und als Utopie denken.

Diese Perspektive menschenwürdigen und menschenfreundlichen Zusammenlebens gilt sowohl für mündige Christen wie aufgeklärte Atheisten. Ihre Umsetzung als (neuer) kategorische Imperativ ist die Basis für das Konzept einer Anthropologie der Aufklärung.

Geplante Buchveröffentlichung:

Jürgen Schmitter: Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän. Überlegungen zur Anthropologie der Aufklärung, Münster 2022

Missverständnisse bezüglich des utopischen Denkens

Das utopische Denken ist keine Strategie zur Durchsetzung der Demokratisierung der Gesellschaft oder der allgemeinen Anerkennung und Durchsetzung der Menschenwürde. Nur auf der Basis eines aufgeklärten Realismus können Friedensordnungen durchgesetzt werden und Gesellschaften bestehen, die die Menschenrechte achten und die Risiken der Zerstörung und Vernichtung minimieren: vom Gesundheitsschutz über den Naturschutz bis zum Menschenschutz. Risikominimierung in diesem Sinn ist eine ständige Verpflichtung unter dem (kategorischen) Imperativ, die Menschenwürde zu achten.

Paradiesvorstellungen sind demgegenüber eine gefährliche Illusion. Ich nenne zwei Beispiele: ein verrücktes und ein zeitgemäßes. Meine Zielvorstellung für ein menschenwürdiges Leben sind weder die (scheinbare) Selbstverständlichkeit goldener Wasserhähne – wie in der Utopia-Vorstellung des Thomas Morus, die dort eine zivilisationskritische Funktion hat –, noch eine phantasierte Erde ohne Eingriff der Naturgewalt.

Dies klingt verrückt und meine Aussage bedarf der Klärung, um nicht missverstanden zu werden: Ich wünsche mir kein Paradies auf Erden und kein Ende der „natürlichen“ Evolution. Das erstere wollen Menschen nicht, wenn sie „aufgeklärt“ sind (im Sinne des homo praestans); das weitere können sie nicht, wenn sie aufgeklärte Realisten sind. Die mögliche Selbstzerstörung der Erde ist der Grenzfall, der die Evolutionsgesetze des Kosmos unberührt lässt.

Zunächst kläre ich, warum ich irrige Zielvorstellungen ablehne:

(1) Die Geschichte der goldenen Wasserhähne ist in der Utopia des Thomas Morus nachzulesen, geschrieben in England im Jahr 1517.

In diesem erfundenen Inselstaat bestehen die Instrumente der Wasserversorgung aus Gold, weil dieses Metall für die Inselbewohner seinen spezifischen Wert verlieren soll.

Der Hintergrund dieser Episode wird deutlich: die Faszination des Goldes/des Geldes wird hinterfragt; in diesem fiktiven Paradies ist es wertlos. Die utopische Vorstellung ist eine Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen.

Ich hoffe, es ist einsichtig, dass ich in einem solchen paradiesischen Utopie-Staat nicht leben will. Denn zu einem menschenwürdigen Leben gehört es, ausreichend sauberes Wasser für alle Menschen zu haben. Der Gebrauchswert des Wassers und seine Zufuhr sind entscheidend und nicht der Tauschwert der Ware „Wasser aus goldenen Hähnen“.

(2) In der notwendigen Diskussion um ausreichenden und wirksamen Naturschutz wird oft suggeriert, der Mensch könne die Gewalt und Entwicklung der Naturkräfte in seinem „Wohnraum“, der Erde, abschaffen. Das ist „natürlich“ eine Illusion.

Der Mensch kann sich wirksam vor den Naturkräften auf der Erde schützen und die Natur vor der Zerstörung bzw. vor dem Missbrauch bewahren – mit der möglichen Konsequenz der Selbstzerstörung (z.B. durch selbstverschuldete Erderwärmung).

Das menschliche Bewusstsein kann sehr wohl zwischen durch Menschen erzeugte Katastrophen und kosmischen Veränderungen, die der natürlichen Evolution und ihren Gesetzen entsprechen, unterscheiden und sachgemäß reagieren.

Naturschutz ist aus menschlicher Sicht immer auch Überlebensschutz. Hannah Arendts Aussage, dass der Mensch ein „sterblicher Schöpfer“ sei, bezieht sich meiner Überzeugung nach nicht nur auf die Sterblichkeit der Individuen, sondern auch auf seine Stellung im Universum.

Was bedeutet diese Erkenntnis für das utopische Denken?

Das utopische Denken – als Bewusstseinserweiterung – beendet nicht – im chronologischen Sinne – die Entwicklung des Universums, deren Gesetzmäßigkeiten im Detail noch erforscht werden (z.B. durch die Theorie der „schwarzen Löcher“), und beendet auch nicht die Entwicklung des Lebens auf den Planeten (auch wenn der „homo sapiens“ eine Endform des Lebens auf der Erde darstellen sollte).

Das utopische Denken – so meine begründete Überzeugung – ermöglicht dem menschlichen Bewusstsein – im kairologischen Sinn – Erlösung zu denken und Befreiung – im Sinne der Menschenwürde für alle Menschen durchzusetzen.

Im religiösen Sprachspiel des messianischen Denkens bedeutet diese Möglichkeit – unter den Bedingungen des aufgeklärten Realismus – für menschliches Bewusstsein am Ende des Anthropozän, Erlösung in Form einer konkreten Utopie zu denken und diese existenzielle Erfahrung – kairologisch, nicht chronologisch in Befreiung und Empathie umzusetzen – und davon – im Sprachspiel der Oxymora – zu erzählen.

Gespräch zwischen Philosoph und Revolutionärin

Der Philosoph erläutert: Ich lebe gern am Rand des Geschehens,
um meinen Beobachter-Status nicht zu gefährden.

Die Revolutionärin entgegnet: Nur im Zentrum ist Bewegung.
Nur dort ist Veränderung der Gesellschaft möglich.

Der Philosoph reagiert: Nur mit Abstand kann ich
der Veränderung ein Ziel geben.

Die Revolutionärin überlegt: Auch im Auge des Orkans
gibt es den Raum der Stille, um sich zu orientieren.

Der Philosoph antwortet: Im Chaos des Zentrums wie im Trubel
der Metropolen ist es fast unmöglich, Räume des Nachdenkens
zu schaffen und darin zu verweilen.

Die Revolutionärin protestiert: Wer im Zentrum lebt und handelt,
muss mit anderen den Raum der Orientierung schaffen,
um nicht im Strudel des Chaos zu versinken.

Der Philosoph überlegt: Zugegeben, jeder von uns,
gleich ob er im Zentrum oder in der Peripherie lebt,
ist für die Orientierung verantwortlich.
Aber wie ist das Problem zu lösen,
dass der Hahn in der Morgenröte aus Leibeskräften krähen kann,
aber nur mühselig fliegen, eher flattern,
während die Eule am Abend in der Dämmerung in lautlosem Flug
und mit scharfem Blick das gesamte Feld überschaut?

Die Revolutionärin schweigt zunächst und
der Philosoph fährt fort:
Ich suche ein Lebewesen, das Engagement und Orientierung
verbindet, den Tag nutzt und nicht die Dämmerung
abwartet. So ein Lebewesen suche ich; weder trompetender
Elefant, noch hoch kreisender Habicht.

Der Philosoph lächelt. Beide schweigen
und ahnen die Lösung: der Mensch.