Gedanken zum Fortschritt

Was alles noch fehlt:

Eine Metatheorie des gesellschaftlichen Fortschritts;
Eine Metatheorie des wissenschaftlichen Fortschritts;
Eine Metatheorie des Erkenntnisfortschritts des menschlichen Bewusstseins am Ende des Anthropozän

Was zur Zeit als Renaissance aufscheint: die Kritik der politischen Ökonomie des Karl Marx; die Theorie der Ungleichheit; innerhalb des unvollendeten Projektes der Aufklärung: die Metatheorie des aufgeklärten Realismus

Was immer noch eine sachgemäße Erkenntnis ver- und behindert:

(1) Der Missbrauch der Evolutionstheorie durch naturalistische Weltanschauungen;

(2) Metaphysische bzw. theozentrische Weltbilder, wie sie sich z.B. in Schöpfungsmythen oder in der Vorstellung der zwei/drei Welten ausdrücken;

(3) Konstruktivistische Vorstellungen der Wirklichkeit (Ideologie der Vorläufigkeit)

(1) und (3) können als atheistische Weltanschauung verstanden werden; sie sind vom „methodischen Atheismus“ streng zu unterscheiden.

Zugegeben, es fehlt eine sachgemäße Metatheorie des wissenschaftlichen Fortschritts, um die Geschichte der Menschheit auf dem Planeten Erde im Hinblick auf Erkenntnis und Wissen zu begreifen und zu beschreiben, und zwar auf die Weise, dass der entstandene Wissensbestand dauerhaft abrufbar und weiter verarbeitbar bleibt.

Nun behauptet Julia Merlot (in: spiegel.de/wissenschaft vom 14.01.2023) in Auswertung eines „nature“-Berichtes, dass die heutige Naturwissenschaft an Innovationskraft verliere, „weil alle vergleichsweise leicht zu findenden Entdeckungen mit großem Einfluss bereits gemacht wurden“, und verweist dazu auf die (abnehmende) Wortwahl in wissenschaftlichen Zeitschriften. Diese Messmethode ist zwar in der scientific community gebräuchlich, aber ich halte sie nicht für ausreichend, um qualitativen Fortschritt zu messen. Es fehlt eben eine sachgemäße Theorie, Innovationskraft und Fortschritt zu messen und dennoch zu konstatieren, dass sich die Menge der Innovationen pro Zeiteinheit kontinuierlich verlangsamt. Es bedarf einer sachgemäßen Metatheorie, die Qualität von Problemlösungen und ihren „Fortschritt“ zu begreifen und zu vergleichen. Ich frage mich, ob es ausreicht, den Wert einer wissenschaftlichen Problemlösung (im Prozess von R&D) durch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu benennen und mit dieser „Benennungsmethode“ quantitativ zu vergleichen.

Für das Universum wird neuerdings mit einiger Begründung spekuliert, dass, wenn alle Materie in den „Schwarzen Löchern verschluckt“ ist, es keine Raum- und Zeitvorstellung im Universum mehr gibt, und dieser Prozess der Rückkehr unumkehrbar ist.

Ich weiß nicht, was diese Situation für das menschliche Bewusstsein bedeutet, aber für die Zeit des Anthropozän auf dem Planeten Erde ist diese Spekulation bedeutungslos, da die Erde zu diesem Zeitpunkt durch ein Schwarzes Loch (in unserer Milchstraße) aufgesogen und damit verschwunden ist.

Ich kann mir vorstellen, dass es irgendwann möglich ist, menschliches Bewusstsein in Form akkumulierter Potenz (als Problemlösungswissen) in das Weltall „auszulagern“ und den Prozess der Vernichtung der Erde und ihrer Bewohner zu „überleben“. Doch auch diese Vision ist unter heutigen Lebensbedingungen illusionär.

Es bleibt die berechtigte Frage, wie sich der wissenschaftliche Fortschritt unter den Bedingungen der Jetztzeit gestaltet und wie er – gesetzmäßig – gemessen und beschrieben werden kann. Noch sind diese Möglichkeiten rudimentär und fehlerhaft und erlauben – meiner Überzeugung nach – keine zuverlässigen Prognosen.

Hinzu kommt, dass der jeweilige Wissensbestand – meiner Einschätzung nach – kein ausreichend prüfbarer Sachverhalt ist. Vielleicht ist es günstiger, von erfolgreichen Problemlösungen in Gesellschaft und Wissenschaft auszugehen. Dabei sind interpretative und experimentelle Methoden zu unterscheiden. Ich erinnere nur an phantastische Erzählungen oder apokalyptische Vorstellungen einerseits und stochastischen Methoden in der Mikrophysik andererseits.

Des weiteren sind das Verhältnis von Forschung und Entwicklung (R&D), von Theorie und Praxis sehr unterschiedlich zu beurteilen, inklusive der finanziellen Absicherung durch Staat und Industrie.

Ich schlage vor, ausgehend von den Resultaten der Problemlösung, eine weltweite Hierarchie ungelöster Probleme zu erstellen und von daher die Länge und Schwierigkeitsgrade der Problemlösungswege (und Umwege) abzuschätzen. Bei diesem Verfahren muss von kurzfristigen, mittelfristigen und langfristigen Interessen ausgegangen werden

Auch ist entscheidend, wie präzise der jeweilige Wissensstand gesichert und verarbeitet werden kann. Ich verweise auf die Leistung der stochastischen Methoden (Wahrscheinlichkeitsberechnung) und die Möglichkeiten automatischer Fehlersuche und Korrektur durch artifizielle Intelligenz (KI).

Diese einzelnen Überlegungen zeigen, wie schwierig es ist, objektive Trendaussagen, sowohl für den wissenschaftlichen Fortschritt als auch die gesellschaftliche Entwicklung, zu ermitteln.

Wenn erfolgreiche Problemlösungen einerseits und die Dringlichkeit, ungelöste Probleme zu klären andererseits den Ausgangspunkt für eine Fortschritts-Analyse bzw. Rückschritts-Erfahrung bilden, dann sind die Interessenlagen im Alltag, in der Gesellschaft, in der Produktion und in der Forschung einzukalkulieren.

Metatheoretische Konstruktionen (Wissenschaftstheorien), wie Forschung und Entwicklung funktionieren, oder Gesellschaftstheorien, die vermeintliche Bewegungsgesetze offenlegen sollen, sind oft Interessen bestimmt und ideologisch durchsetzt. Der Fortschritt beim Lösen der Probleme in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit kann weder metaphysisch oder religiös, noch evolutionär (im Sinne der Naturgeschichte), noch konstruktivistisch (im Sinne der sog. Postmoderne) begriffen und „modelliert“ werden; sondern die Leistungen und Potenzen des menschlichen Bewusstseins haben ihre eigenständigen Gesetzmäßigkeiten. Diese sind in einer kritischen Theorie der Gesellschaft, des Wissenschaftsbetriebs und der geschichtlichen Entwicklung des homo sapiens aufzuklären.

In meinem Weltverständnis bildet die Metatheorie des „Aufgeklärten Realismus“ die Basis für diesen notwendigen Aufklärungsprozess. Dieser Denkprozess ist handlungs-orienriert und beginnt mit der Denkleistung des Immanuel Kant, der im nächsten Jahr 2024 vor 300 Jahren geboren wurde. Vorläufer dieses Prozesses sind für mich Humanisten wie Erasmus von Rotterdam oder Theologen der scientia enigmata wie Nikolaus von Kues.

Hannah Arendt hat in der Jetzt-Zeit und nach der Erfahrung der organisierten Menschenvernichtung die Formel geprägt: Die Menschen sind sterbliche Schöpfer und daraus die Konsequenz gezogen: „Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden“.

Die Entwicklung der Menschheit, ihre Geschichte, die Geschichte des Fortschritts, lässt sich weder metaphysisch, noch naturalistisch, noch konstruktivistisch erklären und darstellen, sondern Fortschritt ( im Sinne der Geschichte der Menschheit) hat seine eigene Entwicklung: die Leistung des menschlichen Bewusstseins, die Schöpferkraft des Menschen bleibt gebunden an seine Sterblichkeit als Lebewesen. Daraus ergibt sich die andauernde Verantwortung des homo praestans: Die Welt muss dauernd neu eingerenkt werden.

Missverständnisse bezüglich des utopischen Denkens

Das utopische Denken ist keine Strategie zur Durchsetzung der Demokratisierung der Gesellschaft oder der allgemeinen Anerkennung und Durchsetzung der Menschenwürde. Nur auf der Basis eines aufgeklärten Realismus können Friedensordnungen durchgesetzt werden und Gesellschaften bestehen, die die Menschenrechte achten und die Risiken der Zerstörung und Vernichtung minimieren: vom Gesundheitsschutz über den Naturschutz bis zum Menschenschutz. Risikominimierung in diesem Sinn ist eine ständige Verpflichtung unter dem (kategorischen) Imperativ, die Menschenwürde zu achten.

Paradiesvorstellungen sind demgegenüber eine gefährliche Illusion. Ich nenne zwei Beispiele: ein verrücktes und ein zeitgemäßes. Meine Zielvorstellung für ein menschenwürdiges Leben sind weder die (scheinbare) Selbstverständlichkeit goldener Wasserhähne – wie in der Utopia-Vorstellung des Thomas Morus, die dort eine zivilisationskritische Funktion hat –, noch eine phantasierte Erde ohne Eingriff der Naturgewalt.

Dies klingt verrückt und meine Aussage bedarf der Klärung, um nicht missverstanden zu werden: Ich wünsche mir kein Paradies auf Erden und kein Ende der „natürlichen“ Evolution. Das erstere wollen Menschen nicht, wenn sie „aufgeklärt“ sind (im Sinne des homo praestans); das weitere können sie nicht, wenn sie aufgeklärte Realisten sind. Die mögliche Selbstzerstörung der Erde ist der Grenzfall, der die Evolutionsgesetze des Kosmos unberührt lässt.

Zunächst kläre ich, warum ich irrige Zielvorstellungen ablehne:

(1) Die Geschichte der goldenen Wasserhähne ist in der Utopia des Thomas Morus nachzulesen, geschrieben in England im Jahr 1517.

In diesem erfundenen Inselstaat bestehen die Instrumente der Wasserversorgung aus Gold, weil dieses Metall für die Inselbewohner seinen spezifischen Wert verlieren soll.

Der Hintergrund dieser Episode wird deutlich: die Faszination des Goldes/des Geldes wird hinterfragt; in diesem fiktiven Paradies ist es wertlos. Die utopische Vorstellung ist eine Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen.

Ich hoffe, es ist einsichtig, dass ich in einem solchen paradiesischen Utopie-Staat nicht leben will. Denn zu einem menschenwürdigen Leben gehört es, ausreichend sauberes Wasser für alle Menschen zu haben. Der Gebrauchswert des Wassers und seine Zufuhr sind entscheidend und nicht der Tauschwert der Ware „Wasser aus goldenen Hähnen“.

(2) In der notwendigen Diskussion um ausreichenden und wirksamen Naturschutz wird oft suggeriert, der Mensch könne die Gewalt und Entwicklung der Naturkräfte in seinem „Wohnraum“, der Erde, abschaffen. Das ist „natürlich“ eine Illusion.

Der Mensch kann sich wirksam vor den Naturkräften auf der Erde schützen und die Natur vor der Zerstörung bzw. vor dem Missbrauch bewahren – mit der möglichen Konsequenz der Selbstzerstörung (z.B. durch selbstverschuldete Erderwärmung).

Das menschliche Bewusstsein kann sehr wohl zwischen durch Menschen erzeugte Katastrophen und kosmischen Veränderungen, die der natürlichen Evolution und ihren Gesetzen entsprechen, unterscheiden und sachgemäß reagieren.

Naturschutz ist aus menschlicher Sicht immer auch Überlebensschutz. Hannah Arendts Aussage, dass der Mensch ein „sterblicher Schöpfer“ sei, bezieht sich meiner Überzeugung nach nicht nur auf die Sterblichkeit der Individuen, sondern auch auf seine Stellung im Universum.

Was bedeutet diese Erkenntnis für das utopische Denken?

Das utopische Denken – als Bewusstseinserweiterung – beendet nicht – im chronologischen Sinne – die Entwicklung des Universums, deren Gesetzmäßigkeiten im Detail noch erforscht werden (z.B. durch die Theorie der „schwarzen Löcher“), und beendet auch nicht die Entwicklung des Lebens auf den Planeten (auch wenn der „homo sapiens“ eine Endform des Lebens auf der Erde darstellen sollte).

Das utopische Denken – so meine begründete Überzeugung – ermöglicht dem menschlichen Bewusstsein – im kairologischen Sinn – Erlösung zu denken und Befreiung – im Sinne der Menschenwürde für alle Menschen durchzusetzen.

Im religiösen Sprachspiel des messianischen Denkens bedeutet diese Möglichkeit – unter den Bedingungen des aufgeklärten Realismus – für menschliches Bewusstsein am Ende des Anthropozän, Erlösung in Form einer konkreten Utopie zu denken und diese existenzielle Erfahrung – kairologisch, nicht chronologisch in Befreiung und Empathie umzusetzen – und davon – im Sprachspiel der Oxymora – zu erzählen.

Von der Notwendigkeit doppelten Naturschutzes und der Kritik an missverständlichen Katastrophenszenarien

Konsequenzen aus dem Gastkommentar in der nzz.ch vom 1. Januar 2022: Apocalypse now? Die Menschheit ist gross, doch das Klima grösser.

These: Der Naturschutz hat eine doppelte Aufgabe: Die Natur, unsere Umwelt, vor ihrer Ausbeutung und Zerstörung zu schützen; aber auch: die Menschheit vor den Naturgewalten zu schützen.

Diese doppelte Aufgabe verlangt eine differenzierte Balance im menschlichen Verhalten; das Bewusstsein der Menschen im Anthropozän ist notwendigerweise das eines, „sterblichen Schöpfertums“; denn „um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden“. (Hannah Arendt, 1958)

Die heutigen Katastrophenszenarien lassen eine klare Unterscheidung zwischen „Naturgeschichte“ und „Menschengeschichte“ vermissen, bzw. lamentieren mit unsachgemäßen Katastrophenszenarien. Diese Verwirrung beruht auch auf der Verwechslung von kosmischer Naturentwicklung, Evolution auf dem Planeten Erde und den Möglichkeiten bzw. Verfehlungen menschlicher Geschichte. Ich spreche in diesem Zusammenhang von den widersprüchlichen Potenzen der Problemlösung des menschlichen Bewusstseins.

Wir Menschen am Ende des Anthropozäns beherrschen nicht die sog. „Naturgeschichte“, auch wenn uns unser Bewusstsein ermöglicht, sowohl die kosmischen Abläufe der Eiszeiten auf der Erde sowie die Evolution des Lebens auf der Erde zunehmend zu erkennen. Als Naturwesen sind die Menschen in diese Naturprozesse einbezogen, ohne sie entscheidend beeinflussen zu können. Auch wird mit Recht gesagt, dass die „heutige Krisenrhetorik verkennt, dass das Menschsein seit je krisenhaft ist“.

Wir Menschen als Naturwesen sind daher in doppelter Weise sterblich: sowohl unsere individuelle Lebenszeit ist begrenzt; wie alles Leben auf der Erde, wenn auch in unterschiedlichen Zeitdimensionen (man vergl. die mögliche Lebensdauer eines Bakteriums mit der eines Säugetieres). Aber auch die Lebensbedingungen des homo sapiens – als Gattung – sind zeitlich begrenzt, da an die „Naturzustände“ des Planeten Erde in unserem Sonnensystem unwiderruflich gebunden. Eine Flucht des Menschen vom Planeten Erde als Überlebensstrategie der Gattung Mensch ist zwar phantasierbar (und ansatzweise individuell konstruierbar), aber unter den bestehenden Problemlösungsmöglichkeiten nicht realistisch.

Realistisch – im Sinne des Aufgeklärten Realismus – ist sowohl die menschlich verursachte Selbstzerstörung der bewohnbaren Erde (durch bewusste Freisetzung von welterschütternden Kräften wie der Atomenergie), aber auch die „schleichende“ bewusst zu machende Verschlechterung der Lebensbedingungen (wie z.B. durch Luftverschmutzung, Erderwärmung, unkontrolliertes Bevölkerungswachstum – ohne ausreichende Verbesserung der Lebensbedingungen; aber auch durch – durch nichts zu rechtfertigende – Kriege und Hungersituationen; also durch Ausbeutung und Verelendung.

Diese (sicher unzureichende) Zustandsbeschreibung der menschlichen Geschichte – ihrem Mangel und ihren Möglichkeiten an menschengerechten Problemlösungen – verlangt darüber hinaus für eine humane Überlebensstrategie die Organisation und Sicherung einer menschenwürdigen Gesellschaftsstruktur – und einen doppelten Naturschutz: einen nachhaltigen Schutz vor erkennbaren Naturgewalten (wie z.B. den Dammbau in den Niederlanden) und den Schutz der Natur vor menschlicher Zerstörung (z.B. der Ökosysteme) durch Waldvernichtung oder durch kurzfristige „Verbesserung“ der menschlichen Lebensgrundlagen, deren Nachteile langfristig überwiegen.

Menschen sind als bewusste Lebewesen in der Lage, die Probleme im Sinne des doppelten Naturschutzes und auf der Basis, die Menschenwürde universal durchzusetzen, zu lösen, auch wenn alle Problemlösung vorläufig bleibt und immer neuer Anstrengung bedarf. In dieser Perspektive sind die Menschen für ihre Zukunft am Ende des Anthropozäns verantwortlich. Daher spreche ich (in Form eines kategorischen Imperativs) davon, dass der homo sapiens nur überleben kann, wenn er ein homo praestans wird, ein Mensch, der für andere und sich einsteht.