Zur Versöhnung von Atheismus und Christentum

oder
Die Ergebnisse der Aufklärung zuende denken

Eine Argumentation im Sinne des Aufgeklärten Realismus; gegen alle Spielarten von Naturalismus und Konstruktivismus sowie Theismus

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus
Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf., Münster 2020 (agenda Verlag, 160 Seiten)

Wer bei dem Wort „Versöhnung“ sofort in eine sog. „Identitätskrise“ verfällt und aus Gründen einer sprachlichen correctness an Wörtern wie „Vertöchterung“ oder „Vergeschwisterung“ bastelt, verkennt nicht nur die etymologische Herkunft des Begriffes, sondern pervertiert auch meine Absicht, über und im Projekt Versöhnung von Atheismus und Christentum nachzudenken, um eine sinnvolle Argumentation präsentieren zu können.

Das Verb „versöhnen“ ist eine Vokalmodulation des älteren Verbs „versühnen“ im Sinne von „Frieden stiften, ausgleichen, vermitteln“ – und eine Vermittlung schlage ich vor: die Position des Atheismus, wenn er streng methodisch verstanden wird, und die Praxis und Lehre des Christentums, wenn es von seinem Ursprung her, den die jüdischen Täufergemeinden (des 1. Jahrhunderts nach Christus) bezeugen, beschrieben wird. Diese Gemeinden, und insbesondere Paulus aus Tarsus, bezeugen, dass der am Kreuz hingerichtete Wanderprediger Jesus aus Nazaret der erwartete Messias/Christus ist.

Die messianische Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft sowie von der erlösenden Funktion der Menschwerdung Gottes (dokumentiert im kenosis-Hymnus des Philipperbriefes) relativieren das theozentrische Weltverständnis (im damaligen Römischen Reich). Denn das jüdisch-messianische Denken greift auf die Exodus-Struktur der Bibel zurück. Und dies führt schon bei manchen Gelehrten im damaligen Römischen Reich zu dem Vorwurf, dass die „Christus-Gläubigen“ Atheisten seien.

Ich übersetze die messianische Botschaft unter den Bedingungen des heutigen, aufgeklärten, anthropozentrischen Weltverständnis als „konkrete Utopie der Erlösung“. Und diese Übersetzung schließt den methodischen Atheismus (zur Lösung von Problemen) nicht aus. Aufgeklärte Christen sind in ihrem Denken und Handeln (zunächst) methodische Atheisten; sie müssen – mit allen Menschen – denken und handeln, als wenn es Gott nicht gäbe (sic deus non datur). Und sie können so denken und handeln, da sie unter dem Vertrauensvorschuss der (konkreten Utopie der) Erlösung befreit sind von religiösem Zwang und gesellschaftlichen Vorurteilen.

Im Gegensatz zum gnostischen Denken (der Selbsterlösung) steht das messianische Denken (im Sinne der kenosis), in dem Erlösung als zu erwartende „Gabe“, als Geschenk gedacht wird, die befreit – aber in einem radikal anderen Sinn als in der Gnosis. Übrigens bleibt Hegel, wenn er in seiner Philosophie des Geistes von Versöhnung spricht, im gnostischen Verständnis.

Für das messianische Denken sind existenzielle Erfahrungen kairologischer Struktur, und damit im strengen Sinn zeitlos, also ewig; während historische oder zukünftige Erwartungen apokalyptischer Art oder als Apokatastasis oder als Weltgericht (am Weltende) in chronologischen Strukturen erzählt werden. Chronologische Rekonstruktionen (z.B. Schöpfungsmythen oder Gerichtsszenarien am Ende der Welt) sind an ein theozentrisches Weltverständnis gebunden.

Schöpfungsmythen wie Paradiesvorstellungen bedürfen daher eines Schöpfers, sind „metaphysisch“ strukturiert. Demgegenüber bestimmt das anthropozentrische Weltbild der Aufklärung (und der heutigen Erfahrungswissenschaften) den Menschen als Schöpfer – und religiöse/metaphysische Sprachspiele als seine Projektionen.

Der Mensch (als Vernunftwesen) versucht, alle Probleme dieser Welt zu lösen (durch Begreifen und Eingreifen), aber diese „Potenz“ (diese Möglichkeit) ist an seine Leiblichkeit und Sterblichkeit gebunden. Der Mensch ist ‚Vernunft- und Naturwesen. Diese Verknüpfung von Natur (Leiblichkeit) und „Geist“ – im Sinne von „Problemlösungspotenzen“ (individuell wie gesellschaftlich, als lebendiger Organismus wie als Gesellschaftsformation) schafft Bewusstsein und Selbstbewusstsein.

In diesem und durch dieses Bewusstsein (in mehrfacher Ausprägung: als Gesprächs-, Reflexions-, Erinnerungs- und Planungsfähigkeit inklusive der Entwicklung von Selbstbewusstsein/Mündigkeit) sind Menschen fähig, ihre Lebensprobleme zu lösen, ihre Natur (Leiblichkeit) und ihre Welt (die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos) zu erkennen und zu gebrauchen.

Für ihre Fähigkeiten („Potenzen“ – Aufbewahrung und Gebrauch) sind die Menschen allein verantwortlich. Diese Verantwortung beim Lösen ihrer Probleme (im Alltag und in der Wissenschaft) und der Sicherung ihrer Erkenntnisse können sie – zusammenfassend – als ihre Autonomie bzw. Mündigkeit reflektieren. In diesem Sinn sind sie notwendigerweise „methodische Atheisten“, die weder auf andere Instanzen oder mythologische Erzählungen zurückgreifen. Sie haben gelernt, von dieser (methodischen) Erkenntnisarbeit Ideologien und deren Wirkung zu unterscheiden. Dies gilt für alle Spielarten von Theismus, Naturalismus, Materialismus und Konstruktivismus.

Menschen sind weiterhin in der Lage, Teile und Ergebnisse ihrer Potenzen „auszulagern“; ich denke z.B. an Bibliotheken. Heutzutage sprechen wir von „künstlicher Intelligenz“. Das menschliche Erinnerungsvermögen ist damit weltweit sicherbar und abrufbar. Dies gilt auch in zunehmendem Maße für die Planungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Die Grundlage dieser Potenzen ist das Bewusstsein. Seine Entstehung und Entwicklung bleibt an den „lebenden, selbstgesteuerten Organismus Mensch“ gebunden, selbst wenn eine funktionsbestimmte Loslösung vom menschlichen Organismus (in „Maschinen“) möglich wird.

Selbst die Bildung des geschlechtlichen Ich-Bewusstseins (geschlechtliche Identität) ist zwar an den individuellen Organismus, die Leiblichkeit, gebunden, setzt aber als Selbstaussage der je eigenen Erfahrung Selbstbewusstsein (im Sinne der Mündigkeit) voraus.

Für die Fortpflanzungsmöglichkeit und die Erziehung der Nachkommen gilt die gemeinsame Verantwortung von Vater und Mutter. Gesprächskompetenz ist mehr als Sprachkompetenz und Rechtsbewusstsein ist nicht einfach die Summe individuellen Selbstbewusstseins, sondern ein Lernprozess der Konsensbildung, der sich auf der Basis der Gleichheit an Freiheit und Gerechtigkeit orientiert.

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus
Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf., Münster 2020 (agenda Verlag, 160 Seiten)

Bewusstsein entsteht (bildlich vorgestellt) als Schnittmenge von Natur und Kultur (als Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklung) bei Zeugung und Geburt und endet für das einzelne Individuum durch seinen Tod. Leiblichkeit wie Sterblichkeit sind für das Bewusstsein eines jeden Menschen konstitutiv. Mit Hannah Arendt fasse ich diese Erkenntnis in die Aussage zusammen: Menschen sind sterbliche Schöpfer.

Diese Erkenntnis korrigiert ideologisch geprägte und/oder durch das vorherrschende Weltbild bestimmte Vorstellungen davon, was der Mensch und seine Welt seien. Daher postuliere ich: der Prozess der Aufklärung (als Antwort auf die Frage, was der Mensch sei) muss konsequent zuende gedacht werden. Das Ziel dieses Projektes – als Resultat metatheoretischer Reflexion – fasse ich unter dem Titel „Aufgeklärter Realismus“ zusammen. Erste Ergebnisse dieser Metareflexion (im Sinne einer aufgeklärten Anthropologie) habe ich in meinem gleichnamigen Buch (Münster 2020) veröffentlicht.

Das utopische Denken. Zur Dynamik des Vorläufigen

Die Vorläufigkeit des konstruktivistischen Denkens für endgültig zu erklären, ist eine resignative Form der Metaphysik. Vorläufiges Denken und Handeln hat eine Dynamik, die durch utopisches Denken – im heutigen anthropozentrischen Weltverständnis – gekennzeichnet werden kann.

Menschliches Denken und Handeln im Prozess der Aufklärung ist – zusammenfassend – als Problemlösen strukturiert. Diese Struktur als endlich zu analysieren, eröffnet die Utopie der Erlösung, die existenziell erfahren und konkret erzählt werden kann, aber nicht begriffen.

Das Vorläufige ist nicht das Endgültige. Die Endlichkeit alles Menschlichen enthält (verbirgt und eröffnet) eine Dynamik: Provisorium und Antizipation zugleich; Erkenntniszuwachs wie Erkenntnisfortschritt. Der entscheidende Impuls für alles Problemlösen ist die Utopie der Erlösung (als Erwartung: zeit- und ortlos).

Religion, wie sie sich heute präsentiert, ist der Rückzugs-Ort des Heiligen in einer profanen Welt. Demgegenüber umfasst das Utopische Denken den Welt-Raum. Dieses Denken benötigt weder Tempel noch Heiligtümer; es wirkt mitten unter den Menschen, mitten in unserer verdinglichten, entfremdeten Welt. Historisch wie biografisch gesehen hat das Utopische Denken konkret einen Namen: gebunden in der – und übersetzt aus der jüdisch-christlichen Täufer-Tradition: das messianische Denken.

Utopisches Denken wird im Alltag der Menschen erfahrbar und erzählbar, aber bleibt unbegreifbar. Der „Ort“ der Utopie, der einzige Ort des Ortlosen (ein Oxymoron) ist das Gespräch; in ihm kann erzählt und gehört werden, was Erlösung bedeutet (in der Struktur der Antizipation). Die Differenz von chronos und kairos ist erkennbar, erfahrbar, erzählbar, aber nicht aufhebbar.

Das Gespräch dient sowohl der gemeinsamen Rückerinnerung, als auch der gemeinsamen Entwicklung von Perspektiven und Aktionen; es ist der Raum der Umkehr (Revision) und Verantwortung. Entscheidend ist die dialogische Struktur des Gespräches, selbst da, wo der Einzelne sich mit sich selbst verständigt (verständigen muss). Verantwortung ist nicht delegierbar, Selbstkritik und Umkehr befreien.

Überlegungen zu KAIROS oder der AUGENBLICK (nach Kierkegaard)

Søren Kierkegaard brachte die Zeitschrift „Augenblick“ (dänisch Ojeblikket) 1855 in Kopenhagen heraus; er war ihr Redakteur und einziger Beitragsschreiber. Neun Nummern erschienen in diesem Jahr 1855; die zehnte erst 26 Jahre nach dem Tode Kierkegaards (im November 1855). 1988 ist diese „Zeitschrift“ DER AUGENBLICK auf Deutsch in Nördlingen erschienen; hrsg. Von H.M. Enzensberger in seiner Reihe „Die andere Bibliothek“.

Ich wurde durch einen Vortrag in der letzten Woche, in dem ein Bogen von Hegel und Marx zu Kierkegaard geschlagen wurde, an diesen exzentrischen dänischen Theologen und Existenzphilosophen erinnert und hoffte, dass der von mir gebrauchte Begriff „kairos“ (im Gegensatz zu chronos) bei Kierkegaard eine spezielle Auslegung fände. Zunächst fand ich die mir bekannte (und im Alter gesteigerte) Polemik Kierkegaards gegen das verwaltete Christentum und dessen Repräsentanten: die dänisch-lutherische Staatskirche und ihre Bischöfe und Pfarrer. Diese ätzende Kritik ist der „rote Faden“ aller Beiträge dieser fiktiven Zeitschrift.

In dem Beitrag vom 29. Mai 1855 beantwortet Kierkegaard die Frage: Wann ist der „Augenblick“?

„Denn der Augenblick ist eben das, was nicht in den Umständen liegt, das Neue, der Einschlag der Ewigkeit (Hervorhebung von mir) – aber im selben Nu beherrscht es die Umstände in dem Grade, dass es trügerischerweise (darauf berechnet, weltliche Klugheit und Mittelmäßigkeit zum Narren zu halten) so aussieht, als ginge der Augenblick aus den Umständen hervor.“

Im weiteren nennt Kierkegaard den Augenblick das „Geschenk des Himmels“ und schließt seine Antwort mit der für ihn typischen überspitzten Aussage:

„Weltliche Klugheit ist ewig ausgeschlossen, im Himmel mehr verachtet und verabscheut als alle Laster und Verbrechen, wie sie ist; denn sie gehört ihrem Wesen nach von allem am meisten dieser elenden Welt an und ist am meisten von allen davon entfernt, mit dem Himmel und dem Ewigen zu tun zu haben.“ (a.a.O. S. 254)

Hier wird das „Lob der Torheit“ in der Kierkegaardschen Fassung besungen; anders als bei Erasmus von Rotterdam, obwohl sich beide auch auf Paulus aus Tarsus beziehen. Kierkegaard verweist in seinen Beiträgen zum „Augenblick“ auf die Tradition: er beginnt mit seinem „Kronzeugen“ Sokrates (ich weiß, dass ich nichts weiß) und kulminiert in der Demontage der Klugheit jüdischer Schriftgelehrter durch Jesus aus Nazaret.

Ich ergänze die Tradition dieser Denkschule und ihrer Lebenspraxis mit Hinweis auf Diogenes und die Kyniker aus hellenistisch-jüdisch-römischer Zeit. Heutzutage formuliert Bernhard Lang (2015):

„Wir können Jesus als eine Diogenesgestalt sehen. Er verdient einen Platz unter den Philosophen der antiken Welt“. (S. 46, B. Lang: Jesus, der Philosoph, Gütersloh 2015; vgl. Bernhard Lang: Jesus, der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, München 2010) Und auch die Vision und Botschaft des Paulus aus Tarsus in Kleinasien – in seiner Kenntnis und Auseinandersetzung mit der Stoa und den Kynikern seiner Zeit gehören in diesen Kontext.

Ich kehre zu der Auffassung von Kierkegaard zurück, Ewigkeit (oder Erlösung) nicht als chronologischen Wende- oder Endpunkt zu deuten, oder – aus der jüdisch-christlich-apokalyptischer Tradition heraus – als Wiederkunft Christi am Ende der Zeit chronologisch misszuverstehen. Kierkegaard spricht vom „Einschlag der Ewigkeit“, der nicht aus den „Umständen“ der Geschichte erklärt werden kann, sondern ein Ereignis sui generis ist.

Aber anders als Kierkegaard ziehe ich aus diesem Ereignis eine entgegengesetzte Konsequenz: dieser „Einschlag“ bedeutet nicht Abschied oder Trennung von der „elenden Welt“, sondern metanoia, Metamorphose. Entweltlichung ist keine Weltflucht, sondern im Sinne Jesu und seines Botschafters Paulus Befreiung – im Sinne der Nachfolge Jesu, unkonventionell, als radikale Menschenliebe. Ich erkenne im Neuen Testament, in der Botschaft wie im Verhalten Jesu, als auch in Theorie und Praxis seines Botschafters Paulus keine dualistische Tendenz (wie z.B. in Teilen der Gnosis oder des Manichäismus).

Menschen, die das Ereignis vom Einschlag der Ewigkeit erfahren und bekennen, sind befreit, passen sich dem herrschenden Äon dieser Welt nicht an, sondern schaffen eine neue Welt in der bestehenden. Paulus nennt dieses Verhalten in Theorie und Praxis im Römerbrief einen vernünftigen Gottesdienst (latreia logiké): „Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt, sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr zu prüfen vermögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“ (Röm 12,2)

Kierkegaard ist meiner Überzeugung nach in der Gefahr, dieses Ereignis – ich spreche in anderem Zusammenhang von konkreter Utopie – gnostisch/manichäistisch misszuverstehen. Daher führt seine Position der Entweltlichung in den Rückzug aus der (bösen) Welt und zur Verdammung der Institutionen – nicht zu ihrer Reform.

Kosmos, Chronos, Kairos

In-der-Welt-Sein ist immer auch In-der-Zeit-Sein. Kosmos (mundus) und Chronos entsprechen einander.

Ob die Welt einen Anfang oder ein Ende hat, ist als chronologische Frage bis heute nicht eindeutig gelöst und vielleicht nicht zu lösen. Ich unterstelle, der Kosmos ist endlos und hat deswegen auch keinen Anfang; also der kosmos ist anfangslos und endlos – chronologisch gesehen. Demgegenüber ist unser Planet Erde in unserem Sonnensystem mit allem organischen Leben endlich; hat also – in dieser Form – einen Anfang und ein Ende.

Alle Lebewesen auf dieser Erde sind sterblich, aber in der Lage, sich (ihre Art) zu reproduzieren. Der Mensch ist ebenfalls in der Lage, sich (seine Art) zu reproduzieren, sowohl genetisch, wie auch durch Entwicklung künstlicher Intelligenz. Der Mensch ist als Individuum nicht nur sterblich, er ist sich seines Sterbens bewusst. Zugleich weiß er, dass seine Gattung weiterlebt und unter bestimmten Bedingungen selbst gesteuert weiterleben kann. Er weiß um seine Geschichte, seine Herkunft und Zukunft. Und der Mensch hat die Möglichkeit, Ewigkeit zu denken (nicht missverständlicherweise als Endlosigkeit), sondern als Kairos, als Erfahrung des geglückten/glücklichen Augenblick (in Mystik, als Schweigen), jenseits chronologischer Erwartungen.

Diese Erfahrungen bleiben im endlichen Leben immer vorläufig; die Erlösung als Aufhebung von individuellem Tod und Vergänglichkeit ist eine Utopie. In einem nachmetaphysischen Weltverständnis (in einer „Welt ohne Gott“) ist die Hoffnung auf Erlösung nicht sinnlos, sondern als Utopie denkbar und in konkreten Utopien erzählbar (wenn auch grundsätzlich in der Form von Oxymora).

Daher bedarf es für ein aufgeklärtes Weltverständnis der Übersetzung religiöser Sprache und Sprachspiele. Wenn wir heutigen Menschen, zumindest in unserer Gesellschaftsformation, denken und handeln – in Wissenschaft wie im Alltag – „als wenn es Gott oder Götter nicht gäbe“, also wenn wir in Theorie und Praxis „methodische Atheisten“ sind, dann darf die notwendige Übersetzung religiöser Sprache (und Weltbilder) kein Rückfall in theozentrische Weltvorstellungen (und entsprechende Sprache) sein.

Religion verschwindet nicht aus der Gesellschaft; insofern ist die Behauptung (im Sinne einer geschichtsphilosophischen Konzeption), dass Religion (auf Dauer) verschwindet, gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der wir leben, inadäquat. Hans Joas kritisiert daher zu Recht die zugrunde liegende geschichtsphilosophische (ins soziologische gewendete) Vorstellung der „Entzauberung“ in der modernen Welt, wie sie von Max Weber konzipiert wurde.

Religion verschwindet nicht, wie eine vulgäre Vorstellung geschichtlicher Entwicklung moderner Gesellschaften unterstellt und oftmals prophezeit hat, aber das entbindet eine kritische Theorie der Gesellschaft nicht, die Funktion der Religion im allgemeinen und des Christentums im besonderen zu analysieren, denn die Grundsätze der Aufklärung, ihre Metaphysik- und Religionskritik, sowie die moderne Sprachkritik sind nicht überholt.

p.s.

Zum Kontext dieser Überlegung verweise ich auf meinen Aufsatz: „Was bedeutet strukturell Erlösung in einer Welt ohne Gott?“ in der Abteilung Religion meiner Homepage: schmitter.sifisu.org – und als Ergänzung auf mein Lehrgedicht: Metamorphose (1) – (4), Mai 2018