Herbstgedanken – scheinbar ungeordnet

  1. Ich erfreue mich an Astern; sie dokumentieren im Garten die Farben des Herbstes.
  2. Ich weiß, eher aus dem literarischen Kontext, um Herbstzeitlose (Colchicum autumnale); Gift- und Heilpflanze zugleich.
  3. Vor mir auf meinem Schreibtisch steht das magische Zahlenquadrat aus Dürers Melencolia I aus dem Jahr 1514; wie ein „Wunder“ ergibt jede Summierung den Wert 34.
  4. Das Efeu am Nachbarschuppen ist zunehmend wein- bis blutrot geworden; mein Blick aus dem Fenster bestätigt mir: es ist Herbst. Ein kurzer intensiver Sonnentag, ein zeitiger Sonnenuntergang, eine kühle Nacht – und ich sehne das winterliche, gemütliche Oberbett herbei.

Die Summe dieser Wahrnehmungen und Empfindungen signalisiert mir: Herbstzeit ist Endzeit – und ermöglicht mir, konsequent über Endlichkeit, Ewigkeit und Tod nachzudenken. Daher sitze ich jetzt an meinem Schreibtisch und formuliere die Ergebnisse meiner Reflexion; Nachdenken und Aufschreiben sind meine Passion im Alter und seit jeher meine Leidenschaft – ich weiß, in der Dämmerung beginnt die Eule der Minerva ihren Flug.

Nur wer Endlichkeit und Tod radikal denkt, kann auch Ewigkeit – ein anderes Wort für Erlösung – radikal, also von der Wurzel her denken. Die Hoffnung auf ein besseres Leben „in einer anderen Welt“ ist irrig; chronologisch gesehen ein Unfug.

Um diese Behauptung zu verstehen (und nicht als Produkt meiner herbstlichen Melancholie zu desavouieren), hole ich im Folgenden weit aus:

Ich habe gehört, Rosen können ohne Stacheln gezüchtet werden; ich nenne diese Praxis pervers.

Denn die Rosen ihres Schutzes zu berauben, ist nicht nur unsachgemäß, sondern nimmt ihnen ihr natürliches Sein, ihre Schönheit. Vorsicht im Umgang mit der Natur gehört zur Verantwortung der Menschen als „sterbliche Schöpfer“ (Hannah Arendt). Ich würde es auch ablehnen, Herbstzeitlose ohne Gift zu züchten, denn das ist keine Problemlösung, sondern eine Problemverdrängung durch Manipulation. Abgesehen davon nützt das produzierte Gift den Menschen; es kommt allein auf die Dosis an; die Herbstzeitlose ist auch eine Heilpflanze: sie repräsentiert nicht nur eine Jahreszeit, sondern nutzt auch uns Menschen. Natürlich sind Menschen als autonome Vernunftwesen in der Lage, die Natur zu manipulieren, aber ich werte diese Fähigkeit in diesem Kontext als Missbrauch und nicht als Problemlösung.

Karl R. Popper sah das Leben als einen andauernden Prozess des Problemlösens an, dessen Erkenntnis der Fehlerhaftigkeit den Lernprozess vorantreibt. Aber meiner Überzeugung nach hat die kritische Analyse menschlicher Lernprozesse mehrere Dimensionen: Es geht nicht nur darum, aus eingestandenen Fehlern zu lernen, sondern auch, Gebrauch von Missbrauch zu unterscheiden, und den Gebrauchswert der Dinge zu erkennen und zu schützen, um den der arbeitsteiligen, kapitalistischen Geldwirtschaft geschuldeten Tauschwert zu relativieren; besser noch: in Schach zu halten. Ob der dem Grundgesetz von 1949 entnommene Begriff der „Sozialpflichtigkeit des Eigentums“ dafür eine ausreichende Bewertungsbasis darstellt, wage ich weiterhin zu bezweifeln. Der radikale Unterschied von Privateigentum und gesellschaftlichem „Eigentum“ an Produktionsmitteln (im weiten Sinn) bleibt eine notwendige Basis für Erkenntnis und Handeln.

Ja, lieber Bertolt Brecht, wir leben in finsteren Zeiten, aber das ist weder Zufall, noch Schicksal, sondern wir tragen die Verantwortung für die Zukunft der Menschen und der Natur in der Gegenwart. Und von dieser Verantwortung können wir uns nicht entlasten, sondern müssen sie jetzt und gemeinsam wahrnehmen.

Daher kritisiere ich verschiedene Entlastungsstrategien und Fluchtphantasien grundsätzlich:

  1. Casus non datur: es gibt keinen Zufall, nur unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten, die wir oft falsch (bewusst oder unbewusst) interpretieren.
  2. Unser heutiges anthropozentrisches Weltverständnis (Weltbild) ist irreversibel, ist unüberholbar; weder durch Träume in die Vergangenheit, noch in die Zukunft. Ich wiederhole die Position von Hannah Arendt: wir Menschen sind sterbliche Schöpfer (nicht Geschöpfe!). Das schützt uns nicht grundsätzlich vor Missbrauch, Entfremdung, Verbrechen und Selbstvernichtung, aber wir sind in der Lage, diese Zustände durch Einsicht und Arbeit zu verändern.
  3. Religion wird trotz allen Missbrauchs, allen Aberglaubens und aller Instrumentalisierungen nicht verschwinden, aber die Marxsche Kritik bleibt gültig: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend.“ Die Konsequenz dieses „Doppelcharakters“ (Marx spricht im Anschluss an Hegel von „Aufhebung“) bedeutet für mich die Notwendigkeit der „Übersetzung“ (des Christentums) in eine Strategie konsequenter Menschenliebe.

Daher spreche ich – als aufgeklärter Realist – von der Dynamik des Vorläufigen in der Gegenwart. Ich bin ein Tagträumer des Hier und Jetzt. (Zugegeben, der Begriff des „Tagtraumes“ bedarf der Präzision.) Wir Menschen sind fähig (Kant spricht von der Mündigkeit) und verantwortlich (als Vernunftwesen), die Probleme der Welt (Alltag, Wissenschaft, Schutz der Natur) zu lösen. Vorläufigkeit ist kein Schicksal, ist weder endgültig noch führt sie zwangsläufig in die Verzweiflung. Ihre Dynamik ist erfahrbar (und formulierbar) im Kairos der Erlösung als einer konkreten Utopie.

Herbstzeitlose (3) – Herbstzeit ist Endzeit.

Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden.“ (Hannah Arendt, 1958)

Diese Überzeugung der Hannah Arendt kann ich mir zu eigen machen. Und ich warne vor dem naturalistischen Missverständnis, den Jahreskreislauf der Natur auf die menschliche Gesellschaft und das In-der-Welt-Sein zu übertragen: als Naturwesen erwarten wir – auf den Herbst folgend – den Winter; und nach Dunkelheit und Winterskälte den Frühling und den Sommer. Demgegenüber ist für uns als Vernunftwesen die Zeit des Herbstes Endzeit. Denn der Herbst ist bildhafter Ausdruck für die Situation, in der wir Menschen leben. In Erwartung des Endes, unseres Todes, erfahren wir, wenn wir bewusst leben, die Dynamik des Vorläufigen. Sie verpflichtet uns zur Verantwortung für die Welt, die Gesellschaft, die Mitmenschen und für uns selbst.

Diese Verantwortung ist im Prinzip weder delegierbar noch relativierbar; sie ist eine Konsequenz unserer Autonomie, unserer Freiheit. Diese Freiheit schließt den Missbrauch ein: zu Verbrechen gegen andere, zur Welt- und Selbstzerstörung. Diese Freiheit verpflichtet uns Menschen (als Vernunftwesen), sie zur Welt- und Selbsterhaltung zu gebrauchen. Das Ethos der Menschenliebe und die Anerkennung der Menschenwürde sind Basis-Verpflichtungen, die (vernünftigerweise) nicht relativierbar sind.

Aber diese Verpflichtungen sind nicht naturgegeben; sie bedürfen stetiger Überprüfung und Revision. Das ist der vernünftige Grund („die Welt im Sein zu halten“) menschlichen Verhaltens und Handelns als „sterbliche Schöpfer“. Diese Verpflichtung verlangt Disziplin (Arendt spricht vom „Einrenken“) und lebt von der Utopie der Erlösung.

Diese Verpflichtung (dieses Ethos) kann in einem anthropozentrischen Weltverständnis reflektiert und eingeordnet werden. Dieses heutige Weltbild ist – realistisch verstanden – unüberholbar (das ist mit dem Begriff der „Endzeit“ gemeint); es hat Aufklärung, Autonomie und Verantwortung zur Grundlage (Verstandesgebrauch, Selbständigkeit, Ethik). Daher spreche ich von einem aufgeklärten Realismus.

Dieser Realismus mag in der Vorstellung (oder Phantasie) mancher Philosophen oder Theologen in Frage gestellt oder als unzureichend reflektiert gekennzeichnet werden, aber das von mir entwickelte Konzept eines aufgeklärten Realismus ist die notwendige Voraussetzung für erfolgreiches wissenschaftliches Arbeiten (inklusive des methodischen Atheismus) einerseits, und die Voraussetzung für verantwortliches Handeln und Verhalten andererseits.

Dieses Konzept nenne ich aufgeklärt, da sowohl die Wahrheitsfrage wie der ethische Imperativ kritisch geprüft wurden (bezogen auf metaphysische, religiöse und anthropologische wie sprachkritische Postulate) – und das Gebot der Verantwortung sich aus der Autonomie (Selbstbestimmung) des Menschen herleitet.

In diesem Konzept, das ich hier nur angedeutet habe, verschwindet Religion (als Praxis oder Institution) nicht – im Sinne einer (globalen) Säkularisierung. Ich versuche, religiöse Praxis und die sie legitimierende Sprache zu verstehen und zu übersetzen – in Abgrenzung von allen Formen der religiösen Metaphysik, der Esoterik und des Aberglaubens. Meiner Überzeugung nach können sowohl aufgeklärte Christen (oder Muslime), als auch nachdenkende Atheisten in diesem Konzept des aufgeklärten Realismus übereinstimmen und in der Praxis des Alltags wie der Wissenschaft zusammenarbeiten.