Metelen an der Vechtefurt

Erinnerte Geschichten eines Durchgangsortes

Ich sitze auf der grob gezimmerten Holzbank an der neuen Fischtreppe, höre die intensiven Fließgeräusche der geteilten Vechte, die sich einerseits durch Ellings Wiese, andererseits durch ihr altes Bett an der Stiftsmühle vorbei bewegt. In den letzten Tagen hatte es durchgehend und intensiv geregnet, so dass sich genügend Wasser in den Baumbergen gesammelt hatte und der Wasserstand mächtig gestiegen war.

Ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass sich vor Zeiten Richtung Straßenbrücke das Flussbett so verbreiterte, dass Mensch und Pferdewagen ohne Steinbrücke passieren konnten. Solche Furten waren reisenotwendig, denn Holzstege waren zu schwach und vermoderten mit der Zeit, und Steinbrücken – da fehlten oft kostbares Steinmaterial und konstruktives Wissen.

Das Wort „Furt“ hat es mir angetan und so rufe ich gewohnheitsmäßig „meinen“ GRIMM im Internet auf und finde: ein durchgang für gehende, reitende, fahrende durch ein wasser oder gewässer, vadum, am häufigsten und gewöhnlich versteht man das wort von einem solchen durchgangsorte durch einen flusz. Das Wort Durchgangsort speichere ich und wiederhole mehrfach: „Metelen, ein Durchgangsort“ – zur Erinnerung.

Wenn ich meine Augen wieder öffne, sehe und höre ich die zweigeteilte Vechte, das Quaken der Enten und in der Ferne den Durchgangsverkehr, der zwar die neue Umgehungsstraße meidet, aber das Geschäftesterben im Ort nicht verhindern konnte.

Hinter dem Gebäude der Äbtissin, das zur Zeit durch seine neuen Besitzer von Grund auf renoviert wird und ab 1720 in Tuchfühlung zur älteren Abtei und zur Stiftskirche Ss. Cornelius und Cyprianus errichtet wurde, brechen die Strahlen der Mittagssonne hervor und unwillkürlich schließe ich wieder die Augen. Ich denke an die letzte Äbtissin, die Tante „unserer Droste“, und erinnere die Worte der Dichterin zur Angst der Stiftsdamen vor den durchziehenden Truppen des Christian von Braunschweig im Jahre 1623. In ihrem Epos „Die Schlacht im Lohner Bruch“ heißt es:

Noch hat die Flur kein Feind betreten,
Noch zittert nur die fromme Luft

Vom Klang der Glocke, welche ruft
Die Klosterfrauen zu Gebeten,
Wo dort aus dichter Buchen Kranz
Sich Meteln hebt im Abendglanz.

 Die Furt ist ein Durchgangsort für Freund und Feind. Ich phantasiere: schon römische Legionäre haben, hastig und in Auflösung begriffen, diese Furt durch die Vechte, die sie vidrus fluvius nannten, durchschritten, durchwatet ohne rückzublicken, in der Hoffnung, das rettende Militärlager am Niederrhein zu erreichen.

Der Urwald Germaniens hatte es in sich, nur die fünf Flüsse Rhein, Yssel, Vechte, Ems und Weser gaben Orientierung, da sie sich in die Nordsee öffneten und zumindest mit leichten Booten befahrbar waren. Doch die Boote der Römischen Legion auf der Ems, mit denen die Soldaten, vom Rheindelta und der Nordsee kommend, weit stromaufwärts gerudert waren, brannten, angesteckt von Urwaldpartisanen der hier lebenden germanischen Stämme, denen die relativ schwerfälligen Legionärstruppen wenig entgegensetzen konnten.

Samuel, das war der Spitzname des Beornrad, Erzbischof von Sens in Frankreich und Mitglied des Intellektuellenzirkels Karls des Großen. Bis zu seinem Tod im Jahre 797 blieb er auch Abt des Klosters Echternach in Luxemburg. Dieser Samuel kannte nicht nur seinen Tacitus und seinen Ptolemäus, sondern war vermutlich ein Jahrzehnt vor Liudger von Karl dem Großen zur Missionsarbeit in den sächsischen Gauen zwischen Rhein und Ems beauftragt worden. Daher kannte er die alten römischen Wege durch germania magna nicht nur aus der Literatur, sondern aus seiner Arbeit als Missionar. Er konnte also seinem Kaiser wertvolle Tipps geben, wie der in das Herz der sächsischen Stämme rechts des Rheins und nördlich der Lippe militärisch vordringen konnte.

Vermutlich war Samuel kein Freund der Zwangsmissionierung – und sein Missionsauftrag scheiterte –, aber sicher hat er mehrfach die Vechtefurt durchfahren und vielleicht den Plan geschmiedet, auch hier ein Königsgut mit fränkischen Vasallen anzusiedeln, um diesen Durchgangsort, den schon Ptolemäus von Hörensagen kannte, abzusichern.

Hundert Jahre später wird Arnulf von Kärnten, König des Ostfrankenreiches, ein Ururenkel Karls des Großen und kurzzeitig römischer Kaiser, einer geadelten Frau aus dieser fränkischen Familie mit Pioniergeist mit Namen Friduwi dieses Gut als Frauenkloster zurückschenken und unter seinen Schutz stellen. Damit wird für Jahrhunderte aus dem Durchgangsort eine kaiserliche Freiheit, ein Ort des Gebetes und des Lernens.

Die „Freileins“, wie die Klosterfrauen und späteren Stiftdamen im Wigbold Metelen genannt wurden, konnten nicht nur beten und singen, sie konnten schreiben und lesen – im Gegensatz zu den Männern in ihren Familien –, sie wussten auch ihre Erfahrung und ihr Wissen weiterzugeben; sie gründeten eine Volks- und Lateinschule. So wurden über die Jahrhunderte aus Sachsen gebildete Münsterländer, auch wenn Heinrich Heine im 19. Jahrhundert über die Westfalen – wenn auch mit Sympathie – spottete.

Mein fiktiver Freund Heinrich Krechting, Bürgermeister und Richter in Schöppingen, Kanzler des Täuferreiches in Münster, gewandelter Calvinist und Hafenplaner in der Herrlichkeit Gödens am Schwarzen Brack, ist – wie sein Vater Engelbert – in Metelen zur Schule gegangen und sein Enkel wurde ein gelehrter und berühmter Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen. Dieser Enkel, getauft auf den Vornamen seines Großvaters, hat die Geschichte und Herkunft seiner Familie, auch wenn er sich als calvinistischer Hochschullehrer und republikanischer Bürgermeister als Großstadtmensch zeitgemäß Kreffting nannte, nicht vergessen, sondern dokumentiert.

Auch die katholische Reformbewegung des 17. Jahrhunderts, die nicht ohne Grund „Gegenreformation“ genannt wird, hat Durchgangsreisende geschaffen, die in Metelen zur Schule gingen. Ich denke an den Theologen Hermann Bavinck, der Pfarrer in S. Maria de Anima in Rom und Reiseführer für deutschsprachige Rompilger wurde. Seine Schriften kann man in der Heidelberger Universitätsbibliothek noch heute einsehen, auch wenn er vor Ort vergessen ist.

Noch immer sitze ich an der Fischtreppe der Vechte und denke mir, auch eine Fischtreppe schafft Durchgang, ist eine Furt – und in mir reift der Vorschlag: sollten die gelben Orts- und Hinweisschilder nicht auch ergänzt werden: Metelen an der Vechtefurt?

Grußwort zur Aufstellung einer Gedenksäule zur Erinnerung an die Schöppinger Bürgerinnen und Bürger, die, angeführt von Heinrich Krechting, 1534 als Täufer nach Münster zogen, in das „Neue Jerusalem“, um das endzeitliche Königreich Christi aktiv zu erwarten

(Neufassung vom 08. Oktober 2015)

Meine Damen und Herren,

wie Einige von Ihnen wissen, arbeite ich ehrenamtlich im Archiv des Heimatvereins Metelen und erstelle dort u.a. eine regionalgeschichtliche Bibliothek. Weiterhin bin ich Mitglied im Arbeitskreis „Kulturraum Scopingau“ und habe Anfang dieses Jahres zusammen mit Thomas Flammer das Buch „Beiträge zur Kirchengeschichte des Scopingaus“ herausgegeben. Seit Jahren beschäftige ich mich mit der Gestalt des Hinrich Krechtinck/Heinrich Krechting aus Ihrem Ort Schöppingen und habe sein Leben von ca. 1540 bis 1580 in der Grafschaft Gödens in Ostfriesland in meinem Buch „Die radikale Umkehr des Heinrich Krechting am Schwarzen Brack“ (2013) auch literarisch verarbeitet.

Die Einladung und die Absicht, hier am historischen Rathaus eine Gedenksäule für die Beteiligung Schöppinger Bürger am Täuferreich in Münster aufzustellen, hat mich überrascht und auch verstört. Überrascht bin ich, dass sich heute (2015) politische Gemeinde und Heimatverein auf diese Weise an das Münsteraner Täuferreich erinnern, einer radikalen Variante der Reformation, von Martin Luther bekämpft, mit zahlreichen Vorurteilen belastet und 1535 durch die Söldnertruppen des damaligen Fürstbischofs gewaltsam zerstört. Bis heute erinnern die drei Käfige am Lamberti-Kirchturm in Münster an dieses Ende – als Warnung vor radikaler Reform, vor Aufruhr gegen die Obrigkeit, vor Revolution.

Verstört hat mich diese Einladung, da ich Sorge habe, dass dieses Mahnmal der Erinnerung an „500 Jahre Reformation“ – im übernächsten Jahr – nicht gerecht wird. Ich füge hinzu, diese Sorge hat mir Pfarrer Böcker in einer Vorabklärung unserer Manuskripte zum größten Teil genommen, auch wenn wir im Detail unterschiedliche Einschätzungen des Täuferreiches in Münster haben.

Dabei stören mich nicht kleinere historische Ungenauigkeiten im Einladungstext, sondern ich will der Täuferbewegung als einer radikalen Form der Reformation zu Beginn der Neuzeit gerecht werden und auch der (mennonitischen) Täuferbewegung, die es bis heute weltweit gibt – und die ich zu den christlichen Kirchen zähle.

Dass Sie hier in Schöppingen Heinrich Krechting und seine Familie ins Zentrum der Erinnerung stellen, kann und muss auch bedeuten, dass Sie seine gesamte Lebensgeschichte und die seiner Kinder erinnern: Heinrich Krechting hat sich in einen konsequenten Calvinisten gewandelt, hat 40 Jahre lang bis zu seinem Tod 1580 zwar geschwiegen, aber wurde Kirchenvorsteher der reformierten Kirche in Dykhausen, Landwirt, Stadt- und Hafenplaner in der Grafschaft Gödens – und sein Enkel setzte diese Tradition als Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen fort, ohne seinen Großvater zu verleugnen.

Daher gebe ich zu bedenken;

dass die Zerstörung des Täuferreiches in Münster und die zahlreichen Hinrichtungen der Täuferinnen und Täufer im 16. und 17. Jahrhundert nicht das Ende der radikalen Erneuerung des Christentums und ihrer Kirchen bedeuten. Heinrich Krechting aus Schöppingen, Bruder des hingerichteten Pfarrers Bernd Krechting, hat weitergewirkt und als radikaler Reformator die Neue Stadt Gödens in Ostfriesland am Schwarzen Brack geplant und erbaut – für alle Konfessionen und Religionen, weltoffen und mit Deichen geschützt vor den Stürmen der Nordsee und den Reaktionen der Herrschenden.

Selbstkritisch gegenüber seiner früheren Praxis als Kanzler des Täuferreiches und menschenfreundlich für alle Glaubensflüchtlinge aus dem Reich Karls V., blieb er bis zu seinem Tod am 28. Juni 1580 stumm, aber nicht wirkungslos.

Um nicht missverstanden zu werden, will ich zum Abschluss meines Grußwortes bewertend aus heutiger Sicht verdeutlichen:

Heinrich Krechting war Täter in einer fanatischen Bewegung und als ausgebildeter Jurist ihr Vollstrecker; er erwartete aktiv und gewaltsam das endzeitliche Gottesreich. Er lebte als Täufer in einem Land, in dem auf der Grundlage eines Reichsgesetzes auf den Empfang und das Bekenntnis zur Erwachsenentaufe die Todesstrafe stand.

Krechting überlebte, anders als sein Bruder Bernd, die Eroberung Münsters und löste sich nur langsam von seinen apokalyptischen Hoffnungen, die Wiederkehr Christi stehe bevor.

Zuletzt floh er in die Grafschaft Gödens am Schwarzen Brack (im heutigen Ostfriesland) und wandelte sich in einen gewaltfreien Calvinisten; wahrscheinlich nach intensiven Gesprächen mit Gräfin Hebrich von Gödens und seinem Freund, dem polnischen Reformator Johannes a Lasco aus Emden.

Ich meine, diese Entwicklung, diese Umkehr des Heinrich Krechting aus Schöppingen und seiner Familie, dieses Modell einer Hafenstadt wie Neustadtgödens, in der alle Flüchtlinge frei und gemeinsam leben und arbeiten konnten, sollte beim Nachdenken über dieses Mahnmal nicht vergessen werden.

Auch seine Enkel und Urenkel, Heinrich Krefting und Hermann Wachmann, anerkannte Bürgermeister der freien Hansestadt Bremen, haben diese Erinnerung an ihren Großvater in einer schriftlichen „Nachricht“ festgehalten.