Universalismus statt Tribalismus

Susan Neiman, amerikanische Philosophin und seit 2000 Direktorin des Einstein Forums in Potsdam hat zum 50. Jahrestag der Grundwertekommission der SPD einen Vortrag gehalten, der in verkürzter Form in der Frankfurter Rundschau (FR Nr. 281 vom 2./3. Dezember 2023) veröffentlicht wurde: „Wer die Hoffnung auf Fortschritt aufgibt, ist nicht mehr links“, in dem sie im Sinne der Aufklärung und der jüdischen Tradition in Deutschland den Tribalismus, und damit alle Formen des Rassismus verurteilt. Sie erinnert in diesem Kontext an Moses Mendelsohn, Heinrich Heine, Karl Marx, Eduard Bernstein, Albert Einstein, Walter Benjamin und Hannah Arendt.

Ich stimme der grundsätzlichen Kritik an jeder Form von Tribalismus (inklusive Antisemitismus und Nationalismus) zu und verweise zusätzlich auf Hermann Cohen (aus dem Neukantianismus kommend) und Franz Rosenzweig (Stern der Erlösung) und das aus den Propheten-Erzählungen der jüdisch-christlichen Bibel stammende messianische Denken.

Ich habe in meinen Überlegungen zur Anthropologie der Aufklärung (siehe: Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän, Münster 2023) versucht, das Programm der Aufklärung mit dem Messianischen Denken der Erlösung des Judentums wie des Christentums zu verknüpfen, um so „Stammesdenken“ und Nationalismus wie Rassismus, als auch „Volkstümelei“ zu überwinden.

Erlösung (als konkrete Utopie) weltweit zu denken und zu erhoffen und das religiös geprägte Stammesdenken zu überwinden, verbindet aufgeklärte Christen und Juden mit allen aufgeklärten Menschen, denn der Universalismus hat eine entscheidende Wurzel in den prophetischen Schriften der jüdischen Bibel.

Das messianische Denken widerspricht nicht den Exodus-Erzählungen des „Volkes Gottes“, sondern diese sind der konkrete (geschichtliche) Ausgangspunkt der messianischen Erwartungen. Auch wenn bis heute die Differenz zwischen dem erschienenen und dem zu erwartenden Messias bei Christen und Juden erhalten bleibt, verbindet beide das messianische Denken und Hoffen (wenn auch in unterschiedlichen Vorstellungen) als Utopie der Erlösung für die Menschheit und die Welt.

Schon zur Zeit des Jesus aus Nazaret existierten jüdische Gemeinden in der weltweiten Diaspora, in Distanz zur Tempelfrömmigkeit in Jerusalem.Schon weit vor der „Zeitenwende“ (im christlichen Verständnis) leben jüdische Gemeinden „zerstreut“ im Römischen Reich und auch die Dynamik des Christentums entwickelt sich in Kleinasien; verstärkt durch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch römische Truppen um 70 n.Chr. Die Botschaft der Erlösung im Sinne der Messias-Erwartung ist universal und nicht mehr stammes- oder tempel-gebunden.

Schon im Hebräerbrief – vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels verfasst – wird argumentiert, dass die Hinrichtung des Messias am Kreuz und seine erlösende Wirkung („Auferstehung“) außerhalb des Tempelbezirkes stattgefunden hat.

Das messianische Denken bei Diaspora-Juden wie bei Christen ist nicht mehr tempelgebunden bzw. kultgebunden (Beschneidung). Paulus aus Tarsus in Kleinasien ist ein typischer jüdischer Schriftgelehrter des Diaspora-Judentums, der in griechischer Sprache argumentiert und nach dem Scheitern der Reform der jüdischen Gemeinden zum „Weltapostel“ des Christentums wird.

Seine Erlösungsbotschaft hat sich radikal von kultischen Stammesvorstellungen gelöst. Die jüdisch-christliche Ablehnung des Tribalismus erlaubt und ermöglicht aufgeklärten Menschen, auch im 21. Jahrhundert Jude oder Christ zu sein. Zwischen der Bedeutung von „Volk“. „Raum“ und „Heimat“ muss unterschieden werden.

Nationalistische, rassistische Positionen, religiös begründet, widersprechen dem messianischen Denken der Bibel grundsätzlich. Daher müssen auch die jüdische „Orthodoxie“ wie christlich-dogmatische Kirchenideologien kritisch hinterfragt werden.

Brief an den Genossen Kevin Kühnert als Antwort auf seine Frage, warum ich in die SPD eingetreten bin

An den Generalsekretär der SPD, Kevin Kühnert,

SPD Parteivorstand, Wilhelmstraße 141, 10963 Berlin

Brief an den Genossen Kevin Kühnert als Antwort auf seine Frage, warum ich in die SPD eingetreten bin

Metelen, am 13. Mai 2023

Lieber Kevin,

Du fragst mich, kurz vor der Geburtstagsfeier zum 160-jährigen Bestehen unserer SPD, warum ich in die SPD eingetreten bin, und – nach einigem Zögern und Überlegen – will ich Dir antworten, indem ich meine Geschichte auf meine Art erzähle.

Ich gehöre, 80 Jahre alt, zur abnehmenden Minderheit der sog. Stammwähler unserer Partei, die, seit sie wählen dürfen, stets bei allen Wahlen die SPD und ihre Kandidatinnen und Kandidaten gewählt haben – wenn auch manchmal mit leisem Zweifel.

Ich gehöre also zu der Minderheit von Wählern, auf die sich die Wahlforscher mit ihren Prognosen verlassen können; übrigens eine zunehmende Minderheit in allen Parteien.

Dass ich zu dieser aussterbenden Minderheit gehöre, hat eine konkrete Geschichte. Bevor ich meine biografische Herkunft erzähle, erkläre ich meine Absicht, bis zu meinem Lebensende SPD-Mitglied zu bleiben.

Diese Entscheidung kann ich – am Rande bemerkt – mit weiteren „Bekenntnissen“ verbinden, wenn auch aus anderen Gründen und Motiven. Vor 80 Jahren wurde ich als Christ in die römisch-katholische Kirche „hineingetauft“ und seit über 50 Jahren bin ich Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW im DGB), deren Vorsitzender ich von 1994 bis 2004 war.

Zurück zur SPD, deren Mitglied ich seit fast 60 Jahren bin. Ich stamme aus einer SPD-Familie im Norden von Krefeld am Niederrhein. Ich wurde 1943 zur Zeit der Nazi-Diktatur geboren, gerade an dem Tag, an dem mein Vater mit 42 Jahren während des Zweiten Weltkrieges noch Soldat werden musste. Mein Vater war in der Weimarer Republik, als „kleiner“ Beamter (mit Volksschulabschluss) in die SPD und die Eiserne Front eingetreten. 1933 verlor er deswegen zunächst seinen Arbeitsplatz; 1945 aktivierte er seine Mitgliedschaft in der SPD und blieb es bis zu seinem Tod. Sein Vater, mein Großvater, war Frisörmeister im Krefelder Nordbezirk und sympathisierte bereits mit den Vorkriegssozialisten (vor dem I. Weltkrieg).

Mein Großvater mütterlicherseits war Klempnermeister im Krefelder Süden, ehemaliger Maat in der kaiserlichen Marine und ein menschenfreundlicher Katholik. Beide Großväter haben mich in meiner Kindheit je auf ihre Weise geprägt.

Ich vermute, diese Herkunft erklärt, dass ich nach dem Abitur Philosophie und Theologie studierte (in Münster und Freiburg), gefördert durch das Cusanuswerk, in die SPD eintrat (als die NPD in den Landtag von Baden-Württenberg einzog), mich in der Studentenbewegung engagierte und als Berufsschullehrer im Münsterland Gewerkschaftsfunktionär wurde.

Diese biografische Entwicklung hat mich nach der Verrentung  in die Kommunalpolitik (Kreistag und Gemeinderat) gebracht und zum Autor mehrerer Bücher gemacht, u.a. über das Projekt der Aufklärung (von Immanuel Kant bis Hannah Arendt, von Erasmus von Rotterdam bis Dietrich Bonhoeffer, Franz Rosenzweig und Hermann Cohen). Und ich kann ergänzen: von Rosa Luxemburg und August Bebel bis Erich Ollenhauer (während meiner Schulzeit) und Willy Brandt.

Diese Geschichte hat mich geprägt. Ob die SPD das Programm und Projekt der Aufklärung (Mündigkeit, Menschenwürde und Menschenfreundlichkeit (Empathie) sichert und weitertreibt, muss jede und jeder für sich überprüfen. Mich überzeugt es bis heute.

Mit solidarischen Grüßen

Jürgen Schmitter

p.s.

Wer das Projekt der Aufklärung unterstützt und weitertreibt, darf sich und andere auch mit Recht Genossin und Genosse nennen.

 

Literaturhinweise:

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen, Münster (agenda Verlag) 2020

Jürgen Schmitter: Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän. Überlegungen zur Anthropologie der Aufklärung, Münster (agenda Verlag) 2023

Ein Blick in die Zukunft (Analyse, Prognose, Konsequenzen) – kein ärgerlicher und ärgender Rückblick

Ab 31. Oktober 2020 bin ich frei von allen lokal- und regionalpolitischen Funktionen und allein gebetener und ungebetener Ratgeber; wer will, kann das auf meiner Website (schmitter.sifisu.org) lesen.

Auf der Grundlage meiner Analyse der Ergebnisse der Kommunalwahlen in NRW am 13. September 2020 wage ich eine Prognose für die nächsten Jahre und schlage Konsequenzen für die Arbeit der SPD vor Ort, in der Region und auf Bundesebene vor.

Ich weiß, dass ich mich in der Vergangenheit mit meinen Prognosen (auch) geirrt habe, aber ich weiß auch, dass es der SPD auf Landes- wie Bundesebene bis heute nicht gelungen ist, regierungsfähig zu werden. Das schmälert nicht die Leistungen der SPD-Minister in der CDU/SPD-Koalition unter der Bundeskanzlerin Merkel, aber reduziert die Wirkung für die Zweitstimmen der SPD bei der Bundestagswahl.

Ich bin – wie schon früher (auch schriftlich) geäußert – der Auffassung, dass die Praxis der differenzierten, am Kompromiss orientierten Ausarbeitung von Koalitionsverträgen durch die Spitzen der Parteien, die regieren wollen, nicht zwingend grundgesetzkonform ist. Unser Grundgesetz kennt keine „Koalitionsverträge“, sondern in Zukunft kann es ausreichend sein, dass nach einer Wahl die Parteien (inklusive der dann im Bundestag vertretenen Fraktionen dieser Parteien) eine verbindliche Vereinbarung treffen, eine Bundeskanzlerin/einen Bundeskanzler mit der notwendigen Kanzlermehrheit zu wählen. Diese gewählte Person bestimmt dann (natürlich auf Vorschlag der Koalitionsfraktionen) die Minister ihrer Regierung, die dann vom Bundespräsidenten ernannt werden.

Dieser Vorschlag, ich wiederhole es, stärkt die Arbeit und Verantwortung des Parlamentes (Bundestages). Denn dort werden Kompromisse ausgehandelt und Gesetze beschlossen (natürlich mit der im GG vorgeschriebenen Zustimmung des Bundesrates).

Zurück zur Möglichkeit der SPD, den Bundeskanzler/die Bundeskanzlerin vorzuschlagen und mit der notwendigen Kanzlermehrheit im Bundestag zu wählen. Das traditionelle Modell, die größte Fraktion (einer bisherigen „Volkspartei“) sucht sich einen sog. „Juniorpartner“ hat genau so ausgedient wie die „Notlösung“ einer „Großen Koalition“.

Die Parteien, konkret die SPD, sollte versuchen, rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl, mögliche Kooperationen mit anderen Parteien zu diskutieren, diese Kooperationsangebote in den Parteigremien zu entscheiden und dann zu veröffentlichen, damit die Wählerinnen und Wähler wissen, was sie erwartet und welcher Partei sie (auf Grundlage des Programmes und der Personen) die Priorität geben.

Bisher „ziert“ sich die SPD, solche Kooperationen zu veröffentlichen, und hofft, als Einzelpartei eine ausreichende Mehrheit an Stimmen zu erhalten.

Das ist eine folgenschwere Illusion. Die Wählerinnen und Wähler müssen wissen, welche Kooperationen geplant sind.

Hinzu kommt – und das gilt für alle Wahlen –, dass die Zahl der sog. Stammwähler schrumpft (sie sterben aus, auch wenn sie älter werden – meine eigene Erfahrung). Ich schätze die Zahl heutzutage bei unter 10 %.

Weiterhin nimmt die Zahl der sog. Wechselwähler zu. Sie orientieren sich an wenigen aktuellen Problemlagen und den damit (medienmäßig) verbundenen „Leitpersonen“. Das gilt zunehmend auch für örtliche Kommunalwahlen, selbst wenn dort die Parteizugehörigkeit nicht immer entscheidend ist.

Bevor ich zur Analyse der vorvorgestrigen Kommunalwahl im Münsterland komme, will ich zur Situation auf Bundesebene vorweg sagen, dass ich zur Zeit keine Alternative zur Parteidoppelspitze und zum vorbestimmten Kanzlerkandidaten Olaf Scholz sehe. Die SPD muss zur Bundestagswahl 2021 konsequent an ihrem Personalvorschlag und der jetzigen Parteidoppelspitze festhalten und sie bestätigen; nur dann kann es gelingen, eindeutig über 20 % der Zweitstimmen zu erreichen.

Ich beginne meine Analyse so konkret wie möglich auf der untersten Ebene, dem Stimmbezirk 5 der Gemeinderatswahl Metelen. In diesem Stimmbezirk wurde vor Jahren Angelica Schwall-Düren zum ersten Mal direkt in den Gemeinderat gewählt. Das gelang auch mir (wir wohnten/wohnen im Stimmbezirk auf der Neustraße). Erst bei der Gemeinderatswahl 2014 unterlag ich der CDU-Kandidatin mit weniger als 10 Stimmen (bei Stimmverlusten des UWG-Kandidaten, die wahrscheinlich der CDU nutzten).

Am 13. September 2020 ergab sich im Stimmbezirk 5 der Gemeinde Metelen folgende Situation:

Von 567 Wahlberechtigten gaben 352 Wählerinnen und Wähler (ab 16 Jahren) ihre Stimme ab; das sind 62,08 % der Wahlberechtigten. 11 Stimmen waren ungültig; der CDU-Kandidat erhielt 104 Stimmen; die SPD-Genossin Birsen A. erhielt 97 Stimmen und der Grünen-Kandidat 106 Stimmen; der UWG-Kandidat abgeschlagen 34 Stimmen. Damit war der Kandidat der Grünen mit 2 Stimmen Vorsprung vor dem CDU-Bewerber und 9 Stimmen Vorsprung vor der SPD-Bewerberin direkt in den Gemeinderat gewählt. Bei 10 direkt (mit relativer Mehrheit) zu wählenden Mitgliedern blieb dies das einzige Direktmandat der Grünen; die SPD erhielt (im Stimmbezirk 4) ebenfalls ein Direktmandat mit 109 Stimmen; die anderen 8 Direktmandate gingen an die CDU (Stimmenanzahl von 180 Stimmen bis 109 Stimmen). Da nach unserem Kommunalwahlgesetz diese Stimmen doppelt gezählt werden (zur Verteilung der 20 Ratsmandate nach dem Verhältniswahlrecht), ergibt sich für den neuen Gemeinderat folgende Sitzverteilung: CDU 8 Sitze (180 bis 86 Stimmen je Stimmbezirk); SPD 5 Sitze (113 bis 36 Stimmen); Grüne 4 Sitze (107 bis 25 Stimmen); UWG 3 Sitze.

Für das Ergebnis im Stimmbezirk 5 ist zu bedenken: SPD-Bewerberin und der Grünen-Bewerber wohnen beide im Stimmbezirk; der Grüne ist „Poalbürger“; der Stimmbezirk wurde vor der Wahl nach dem Urteil des Landesverfassungsgerichtes um ca. 60 Wahlberechtigte vergrößert.

Weiterhin ist festzustellen: seit über 10 Jahren haben die Grünen in diesem Stimmbezirk keinerlei Aktivität mehr entwickelt (das gilt auch für die gesamte Gemeinde Metelen), das gilt auch für die bisherige CDU-Ratsfrau, während die SPD (ich als Sachkundiger Bürger im Schulausschuss und (ehemaliger) Vorsitzender des Fördervereins der Offenen Ganztagsgrundschule) vier- bis fünfmal im Jahr unsere Zeitschrift Kiebitz in alle Haushalte verteilt hat und ich vor der Wahl zweimal mit meiner „Nachfolgerin“ alle Straßen unseres Stimmbezirks (mit ihren Haushalten) „heimgesucht“ habe.

Ich erwähne diese Details, um aus diesem speziellen Wahlergebnis folgende Schlussfolgerungen zu ziehen:

(1) Das Engagement von Birsen und mir hat sich gelohnt, denn mit 10 weiteren Stimmen wäre sie direkt gewählt worden. Und in Bezug auf das Verhältniswahlergebnis (mit 97 Stimmen das drittbeste) hat sie dazu beigetragen, dass die SPD-Fraktion nur einen Sitz verloren hat und die CDU ihre absolute Mehrheit im Gemeinderat verloren hat (dabei muss die CDU-Stimme des Bürgermeisters – es gab keinen Gegenkandidaten – mit beachtet werden).

(2) Bei dem Wahlverhalten in diesem besonderen Stimmbezirk in einem Dorf mit 6.500 Einwohnern hat die traditionelle CDU-Bindung (im katholischen Münsterland) kaum noch wahlentscheidende Bedeutung, aber die Verankerung in der Nachbarschaft ist wichtig (und das gilt in diesem Fall sowohl für SPD und Grüne).

(3) Für junge Wählerinnen und Wähler (unter 20 Jahre) und Neubürgerinnen und Neubürger (so meine Vermutung für das Gebiet um ehemals Lohoffs Mühle) ist nicht so sehr die bisherige Leistung in der Kommunalpolitik entscheidend, sondern überregionale, landesweite (durch die Medien in jedes Haus übertragene) Tendenzen und Stimmungen schlagen (neben dem örtlichen Bekanntheitsgrad der Bewerberinnen und Bewerber) durch und beeinflussen das Wahlverhalten. Sonst ist der Wahlerfolg der Grünen (in diesem Fall mit 2 bis 10 Stimmen Mehrheit) m.E. nicht zu erklären.

Soweit meine Überlegungen vor Ort. Nun zur Kreisebene.

Meine (insgeheime) Prognose, dass bei der Landratswahl die Grünen-Kandidatin in die Stichwahl käme, lag eindeutig falsch; sie blieb bei unter 20 %. Und es ist kein Trost (auch für die Grünen nicht!), dass unser Kandidat Matthias (SPD) 0,22% Stimmen weniger erhielt. Aber ich blicke nicht zurück, sondern addiere 18,70 % und 18,92 % zusammen; das ergibt mehr als 35 %! Ein gemeinsamer Kandidat oder eine gemeinsame Kandidatin von SPD und Grünen (und vielleicht noch UWG; von den Linken ganz zu schweigen) wäre zumindest in die Stichwahl gekommen.

Nun ahne ich, wie meine Genossinnen und Genossen aufschreien: Mit diesen (konkreten) Grünen (oder Linken) war eine Kooperation nicht möglich! Geschenkt! Ich blicke in die Zukunft und wiederhole Ergebnisse meiner Analyse:

(1) Stammwählerverhalten stirbt aus (unter 10 % – trotz Ibbenbüren).

(2) Aktuelle bundesweite Themen und Tendenzen schlagen durch; selbst da, wo die Grünen keine Leistungen vorweisen können oder sich in der konkreten politischen Arbeit widersprüchlich verhalten haben.

(3) Nicht direkt parteigebundene Kandidatinnen und Kandidaten, jung und kompetent, haben eine Chance, wenn sie von einem Mehrparteienbündnis unterstützt werden (siehe Bürgermeisterin in Coesfeld, einer ehemals tiefschwarzen Stadt, in der ich über 30 Jahre gearbeitet habe).

Also ziehe ich eine Konsequenz: sowohl vor Ort, wie regional, wie landesweit prognostiziere ich:

Mehrheiten und Direktmandate wird es in Zukunft nur noch in Kooperation zwischen SPD und Grünen (und gegebenenfalls Linken und UWG) geben.

Um Kooperation zu erreichen, muss zu diesem Ziel in den Fraktionen und in Zusammenarbeit mit anderen interessierten Fraktionen ab sofort intensiv gearbeitet werden. Animositäten sind in ihrer Wirksamkeit abzubauen.

Es ist doch ein Witz, dass in der Bundesrepublik zunehmend CDU/CSU und Grüne kooperieren, aber die SPD an der Illusion festhält, die einzige Volkspartei (links von der CDU/CSU) zu sein.

Hinzu kommt, dass wir endlich aus den Veränderungen in unserer Gesellschaft (Zerfall der sog. Mittelschichten, Veränderungen der Arbeitsgesellschaft, Klimaveränderung, weltweite Migrationsbewegungen,

Verschärfung des Gegensatzes von Armut und Reichtum, Gefährdung der Mitbestimmung, der Kompromissfähigkeit und der Sicherung der Grundrechte, auch für Minderheiten in den und durch die parlamentarischen Demokratien, Mangel an Aufklärung und Selbstbestimmung in den bisher relevanten Institutionen wie z.B. Kirchen und Gewerkschaften) lernen und nachhaltige Konsequenzen ziehen.

Habermas diagnostiziert in Bezug auf die Europapolitik die Mönchskrankheit (acedia) und ich wende seine Diagnose auf den Zustand der SPD an.

Man muss schon das Greisenalter erreicht haben – oder sich ihm nähern –, um mit einer der Grundversuchungen des Mönchtums argumentieren zu können, und nicht nur ausreichende Erfahrungen mit dem Mittagsdämon der Schläfrigkeit, sondern auch mittelalterliches Wissen sind notwendig, um mit der Versuchung der (geistlichen) Trägheit auf soziologisch-analytische Weise operieren zu können. Jürgen Habermas kann das in seiner Preisrede zum Deutsch-Französischen Medienpreis, der ihm am 4. Juli 2018 in Berlin verliehen wurde (veröffentlicht in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2018 unter der Überschrift: „Unsere große Selbsttäuschung. Ein Plädoyer gegen den Rückzug hinter nationale Grenzen“). Habermas beschreibt und kritisiert das durch „Schwermut“ geprägte Selbstbild der „Deutschen als gute Europäer“ (als Grenze zur Verantwortungslosigkeit) und erwartet und fordert, die „Schwelle zu supranationalen Formen einer politischen Integration“ zu überschreiten. Notwendig seien konkrete Schritte zu einer „politisch handlungsfähigen Euro-Union“, die von den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land verlangt, „auch über nationale Grenzen hinweg gegenseitig die Perspektive der jeweils anderen (zu) übernehmen“.

Ich stimme dieser Analyse und den daraus sich ergebenen Folgerungen für eine aktive Europa-Politik zu und beziehe die Diagnose von Habermas konkret auf den Zustand der SPD. Die „Schläfrigkeit“ der SPD-Funktionäre, ihren (auch durch die Ideologie des Etatismus geprägten) Rückzug „hinter nationale Grenzen“ und ihr zögerliches Verhalten z.B. in der Durchsetzung eines dringend notwendigen Einwanderungsgesetzes kann und will ich (als Mitglied und Funktionär der SPD seit über 50 Jahren) nicht mehr hinnehmen.

Meine Kritik kann ich am Umgang mit einem geplanten Einwanderungsgesetz verdeutlichen: zwar ist dieses Gesetz geplant (bis Ende dieses Jahres) und ist im Koalitionsvertrag vereinbart, aber die SPD verhält sich zögerlich, obwohl dieses Gesetz, das legale Einwanderung ermöglichen soll (und sicher auch regulieren kann), dringend notwendig ist, um auch Flüchtlingen, deren Aufenthalt nach der Genfer Flüchtlingskonvention nur geduldet wird, eine reale Chance der Einwanderung und Eingliederung zu geben. Warum fordert die SPD nicht offensiv und sofort ein solches Gesetz in Ergänzung der Regeln der Genfer Konvention? Selbst wenn Teile der CDU/CSU desinteressiert sind und schon den Begriff „Einwanderung“ ablehnen.

Ich vermute, dass manche SPD-Funktionäre immer noch nationalstaatlichen Vorstellungen anhängen und einer Einwanderungsregelung keine hohe Priorität einräumen, obwohl sogar ein europäisches Einwanderungsgesetz notwendig wäre. Aber die Angst vor europäischen Regelungen, durch die auch nationale Interessen relativiert werden können, ist groß bzw. die Angst, mögliche Wählerinnen und Wähler zu „verprellen“. Ich erwarte eine klare öffentliche Positionsbildung und nicht die diffuse Hoffnung, es allen recht zu machen.

Aber klare Positionsbildung, die gemeinsam und offensiv vertreten wird – gerade in Wahlkämpfen – ist zur Zeit nicht die Stärke der SPD. Dies gilt auch für eine offensive Europapolitik. Ich erinnere an Willy Brandt und seinen Einsatz für ein demokratisches Portugal – innerhalb der sozialistischen Internationale. Letztere ist faktisch tot und eine Politik zugunsten schwächerer EU-Mitglieder wie z.B. Griechenland kaum zu erkennen.

Neben dem uneingestandenen Etatismus (der in der SPD eine lange Tradition hat) gibt es bei den führenden Funktionären die fatale Lust an der Selbstdarstellung. Hier muss die Entstehung von Parteikarrieren kritisch hinterfragt werden. Das unkontrollierte Profilierungsinteresse mancher Funktionäre darf nicht mit der notwendigen Profilbildung der SPD verwechselt oder vermischt werden. Zwar ist in unserer Demokratie Medienpräsenz notwendig, aber sie bedarf kontrollierter Absprachen und Verhaltensweisen – und argumentativer Kompetenz, um nicht dem Populismus zu „fröhnen“; in der irrigen Meinung, bei den Bürgerinnen und Bürgern zu punkten.

Oft wird dieses Verhalten mit den Erwartungen an eine „Volkspartei“ gerechtfertigt. Hier ist meiner Überzeugung nach ein parteiinterner Prozess der Desillusionierung notwendig. Wir sollten uns realistischerweise von der Illusion lösen, wieder eine Volkspartei mit über 30 % Wählerzustimmung werden zu können. Die Veränderungen der sozialen Milieus in unserer Gesellschaft – und das gilt auch für andere Gesellschaften in Europa – geben eine solche Erwartung nicht mehr her. Und hinzu kommt, dass die sog. Stammwählerschaft immer geringer wird und unter 10 % gesunken ist. Das muss Konsequenzen für die Parteiarbeit haben.

In einem im Juni 2018 veröffentlichten Analysepapier („Aus Fehlern lernen“ der Arbeitsgruppe Faus/Knaup/Rüter/Schroth/Stauss, Berlin, 106 Seiten) wird gefordert, dass die SPD wieder Bündnisse und neue Bündnispartner suchen muss; aber konkrete Vorschläge fehlen. Zunächst einmal: Bündnispartner sind immer auch Interessenvertreter gesellschaftlicher Gruppen; das muss bei jeder Kooperation bedacht werden. Aber Tabuisierungen – aus vermeintlicher Angst vor dem Verlust von Wählerstimmen oder aus Unfähigkeit, die eigene Position argumentativ zu vertreten und Vereinbarungen sachgemäß abzuschließen, helfen nicht weiter. Konkret: wann beginnt die SPD-Bundestagsfraktion – sofort und rechtzeitig vor weiteren Wahlen – Kooperationsgespräche mit den Fraktionen „links“ von der CDU/CSU zu führen? Diese notwendigen Kooperationsgespräche setzen natürlich eine sorgfältig begleitende Medienarbeit voraus. Oder schließlich: wo ist der Arbeitskreis in Partei und Fraktion, der Strategien zur Bildung von Minderheitsregierungen in Zukunft – bei ausreichenden Stimmen einer Kanzlermehrheit und bei einem möglichen Stabilitätspakt – diskutiert und prüft? Das Ungetüm eines umfassenden Koalitionsvertrages – den unser Grundgesetz nicht kennt – könnte bald der Vergangenheit angehören, insbesondere wenn manche sich daran weder halten wollen noch können.

Parteienforscher Franz Walter hat in einem SPIEGEL-ONLINE-Text vom 9. Juli 2018 mit dem Titel: „Der Grund für die Misere der Sozialdemokraten“ festgestellt, dass die SPD einmal die „Massenbewegung der kleinen Leute“ war. „Doch seitdem sich die Industriegesellschaft verflüchtigt, hat sie sich in eine Honoratiorenpartei verwandelt.“ Und Walter fragt am Schluss seiner kritischen Analyse: wenn die SPD nicht mehr Partei der Industriearbeiter in der Industriegesellschaft ist, „besitzt sie dann überhaupt noch einen historischen Antrieb, ein soziales Subjekt, die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Organisation und Aktion?“ Und er antwortet: „Und, wenn ja: Was sollte das sein? Dies ist endlich zu klären, auch das lehrt die SPD-Historie: Denn Parteien der demokratischen Linken blühen nur so lange, wie sie Ankerplätze von Hoffnungen, von Verlässlichkeiten und Perspektiven sind.“

Ich schlage vor, dass die Parteien der demokratischen Linken, dass die SPD eine aktive Europapolitik betreibt und konkret und öffentlich propagiert. Nur so kann sie die von Habermas konstatierte „Mönchskrankheit“ der Zögerlichkeit und Schläfrigkeit überwinden. Die Angst, von den rechten Populisten als „vaterlandslose Gesellen“ gebrandmarkt zu werden (ein historisches Trauma) ist zwar gegenstandslos, wirkt aber vielleicht als unbewusst lähmend nach. Habermas hat recht, wenn er fordert, die Schwellenangst vor supranationalen Formen einer politischen Integration Europas zu überwinden. Diesen Lernprozess muss die SPD unbedingt und unverzüglich leisten.

Mangel an Differenzierung und Übermaß an Emotionalität in der politischen Kontroverse

Mein Plädoyer für mehr Nüchternheit und die Prüfung sowie Anerkennung von Kompromissen

Von Zeit zu Zeit besuche ich Diskussionsveranstaltungen der SPD in unserer Region; sowohl aus traditioneller Verbundenheit (immerhin kann ich damit kokettieren, über 50 Jahre Mitglied dieser Partei zu sein und aus einer sozialdemokratischen Familie in Krefeld am Niederrhein zu stammen), als auch aus Selbstverpflichtung eines homo politicus, trotz altersbedingten Rückzugs aus der regionalen wie lokalen Politik (ein wenig) weiter „mitzumischen“.

Ich muss mein Verhalten als homo politicus noch weiter präzisieren. Ich gehöre zu der radikalen Minderheit (von heute unter 10 %), die sich nicht nur in der Schulzeit schon politisch engagiert haben (ich hatte damals den Spitznamen „Ollenhauer“), sondern von der ersten Möglichkeit an in allen Wahlen SPD gewählt haben; selbst in der Zeit der „Studentenbewegung“ mit ihrer/meiner Sympathie für linke studentische Sektierergruppen oder später als Gewerkschaftsvorsitzender der GEW in NRW (von 1994 bis 2004). Ich bin also ein sog. „Stammwähler“ und weiß, dass heutzutage Wahlen nicht mehr durch diese Wählergruppe entschieden werden. Die „Wechselwähler“ entscheiden – und ihr Verhalten ist schwer vorherzusagen.

Dennoch schätze ich mich, als Wissenschaftler methodisch geschult, als selbstkritischen Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklung ein und frage mich daher, ob meine aktuelle Wahrnehmung des menschlichen Verhaltens in unserer Gesellschaft sich erfahrungs- und altersbedingt verändert hat (ein subjektiver Faktor), oder ob meine aktuellen Beobachtungen objektivierbar sind; der Phänomenologe in mir weiter wirksam ist.

Unter der Prämisse, dass letztere Wahrnehmung weiter wirksam ist und ich mich als Theoretiker der Aufklärung und der Epoché (nach Husserl) zurecht verstehe, stelle ich fest, dass Leidenschaft und Emotion in Bezug auf die medienpräsenten Akteure zunehmen und eine nüchterne, interessenbezogene Einschätzung politischen Verhaltens (und ihrer Rechtfertigungsgründe) kaum noch möglich ist.

Ich erläutere diese Feststellung durch eine Analyse der aktuellen Kontroverse über die sog. GroKo.

  • In der vorletzten Woche nahm ich an einer SPD-Mitgliederversammlung des Unterbezirks Steinfurt teil, in der das weitere Vorgehen in Bezug auf mögliche Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und CDU/CSU auf der Basis des „Sondierungspapiers“ diskutiert wurde. Im vollbesetzten Saal waren über 120 Mitglieder anwesend, nicht nur Funktionäre, sondern auch mir nicht bekannte Mitglieder aus den Ortsvereinen. Es fand eine korrekt geführte Diskussion statt; am Ende wurde eine Probeabstimmung mit klarem Ergebnis durchgeführt: 2/3 der Anwesenden sprachen sich gegen eine Aufnahme von Koalitionsverhandlungen auf der Basis des vorliegenden Sondierungspapieres aus. Im Gegensatz dazu hat sich der Bundesparteitag am darauf folgenden Samstag nach leidenschaftlicher, aber fairer Diskussion mit klarer Mehrheit (aber unter 60%) für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen ausgesprochen.
  • Ich habe auf der Mitgliederversammlung des Unterbezirks Steinfurt den Ausdruck „Große Koalition“ kritisiert. Er stellt eine Selbsttäuschung dar; es geht allein um eine mögliche Koalition mit ausreichender „Kanzlermehrheit“, in der die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag mit Recht ihren Vorschlag für einen neuen Bundeskanzler/eine neue (alte) Bundeskanzlerin dem Bundespräsidenten präsentiert. Weiterhin habe ich noch kurz meine mir bewusste Minderheitenposition (Stichwort: Stabilitätspakt; veröffentlicht in der Lokalzeitung) erwähnt; aber es war offensichtlich, dass an dieser Möglichkeit unseres Grundgesetzes weder Interesse bestand, noch die Möglichkeit gesehen wurde, eine Bundeskanzlerin in einem ersten Wahlgang mit ausreichender Mehrheit (auf Vorschlag des Bundespräsidenten) zu wählen, ohne einen Koalitionsvertrag (der alle Politikbereiche betrifft) zuvor zu vereinbaren. Die jahrzehntelange Praxis von Koalitionsverhandlungen und einem zu vereinbarenden Koalitionsvertrag hat die Möglichkeiten des Grundgesetzes, das keinen Koalitionsvertrag kennt, völlig überlagert – und bei allen Akteuren, auch den engagierten Wählerinnen und Wählern – wurde diese Praxis verinnerlicht.
  • Wenn ich das Verhalten der SPD-Mitglieder in dieser Versammlung richtig beobachte und einschätze, dann fand bei den allermeisten keine Interessenabwägung auf der Grundlage des Sondierungspapiers statt – ich vermute, die meisten hatten das Papier nicht gelesen –, sondern eine emotionale Polarisierung gegenüber der geschäftsführenden Bundeskanzlerin Merkel und eine immer wieder geäußerte Hoffnung, die SPD könne nur in der Opposition wieder „zu alter Kraft und Stärke“ zurückfinden.
  • Der innerparteilich verständliche Wunsch, dass wieder 30% (und mehr) Wählerinnen und Wähler bei Wahlen die SPD wählen, wird sowohl mit der Notwendigkeit, konsequent und ohne Folgenabschätzung in die Opposition zu gehen, begründet, als auch mit der Gegenposition, die SPD bleibe oder werde nur glaubwürdig, wenn sie Verantwortung übernehme und ihre Fraktion auf der Basis eines Koalitionsvertrages mit der CDU/CSU Frau Merkel im ersten Wahlgang (auf Vorschlag des Bundespräsidenten und mit der sog. „Kanzlermehrheit“) zur Bundeskanzlerin wähle. Ich habe große Zweifel, ob die eine oder andere Position das Wahlverhalten zugunsten der SPD beeinflusst. Zumindest kenne ich keine empirisch abgesicherte Untersuchung, die den innerparteilichen Wunsch nach besseren Wahlergebnissen durch das eine oder andere Verhalten stützt. Eher sehe ich einerseits eine europaweite Tendenz, dass sog. „Volksparteien“ an Einfluss verlieren (und das gilt nicht nur für die Sozialdemokratie), andererseits das Verhältnis zwischen Parteien und den wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern sich langfristig ändert – und das hat Konsequenzen für die parteimäßige Zusammensetzung der Parlamente und die mögliche Bildung von Regierungen. Daher ist die Behauptung, sog. „Minderheitsregierungen“ seien von vorne herein instabil, unbegründet. Darüber hinaus ist zu prüfen, durch welche strukturellen Maßnahmen unser parlamentarisches System effektiver und demokratischer gestaltet werden kann, um die Aktivität und die Einflussmöglichkeiten z.B. des Bundestages gegenüber Ministerialbürokratie, Verwaltung und Parteienhierarchie zu stärken. Es kann in einer lebendigen Demokratie nicht sein, dass die gewählten Abgeordneten wochenlang auf die sog. Sondierungsgespräche der Parteien starren, fast „bewegungslos“, und ihre Aufgabe der Gesetzgebung nicht ausreichend oder nur zögerlich wahrnehmen.
  • Aber diese Überlegungen sind längerfristig notwendig, ändern aber nichts an der jetzigen Situation. Das bestehende Grundgesetz erlaubt schon jetzt Zwischenlösungen zwischen ausreichenden Koalitionen zur Bildung einer Regierung, die auf der Basis eines umfassenden Koalitionsvertrages zwischen den jeweiligen beteiligen Parteien (nicht den Fraktionen) geschlossen werden, und einer unsicheren Minderheitsregierung, deren Kanzler oder Kanzlerin (in einem letzten Wahlgang) nur mit relativer Mehrheit gewählt wurde und möglicherweise vom Bundespräsidenten ernannt wurde, falls dieser nicht zum Mittel der Neuwahl greift. Diese Minderheitsregierung ist nicht nur durch Abstimmungsniederlagen bedroht und durch ein konstruktives Misstrauensvotum – das sind auch alle Mehrheitsregierungen, denn unsere Verfassung kennt kein imperatives Mandat unserer gewählten Abgeordneten –, sondern sie sieht sich möglicherweise einer Mehrheit an Abgeordneten gegenüber, die die Durchsetzung ihres politischen Programmes systematisch durchkreuzen und verunmöglichen. Ich behaupte, dass dies nicht so sein muss, denn die Verantwortung für politisches Handeln liegt dann zunehmend bei den im Bundestag vorhandenen Fraktionen und ihrer Kompromissfähigkeit, aber ich sehe ein, der bisherigen Praxis des Verhältnisses von Regierung und Parlament mangelt es an solcher Erfahrung, und ohne strukturelle Änderungen unseres GG ist eine Minderheitenregierung kaum sinnvoll realisierbar. Und der Bundespräsident wird sich im Zweifelsfall eher für die Auflösung des Bundestages und Neuwahlen entscheiden.
  • Aber ich bleibe dabei: es gibt eine „stabile“ Zwischenlösung: der Stabilitätspakt, um eine eindeutige Kanzlerwahl mit ausreichender Kanzlermehrheit (im ersten Wahlgang) zu erreichen.
  • Die „Realität“ hat meinen Vorschlag überholt; aber das ändert nichts an meiner Analyse.

Metelen, 21. Januar/01. Mai 2018

Gegen GroKo oder Neuwahlen – für einen Stabilitätspakt zwischen CDU/CSU und SPD, gegen einen Koalitionsvertrag der SPD mit der CDU/CSU (sog. Große Koalition) und gegen baldige Neuwahlen

Nach dem Scheitern der Gespräche zwischen CDU/CSU, den GRÜNEN und der FDP und dem faktischen Ausschluss einer formal möglichen Koalition mit den LINKEN und der AfD haben wir in Deutschland eine spezielle Situation, die unser Grundgesetz klar regelt, also keinerlei „Notstand“. Nach Gesprächen mit den im Bundestag vertretenen Parteien und in der Erkenntnis, dass es eine verbindliche Vereinbarung gibt (zwischen CDU/CSU und SPD), eine Kandidatin oder einen Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers/der Bundeskanzlerin mit der ausreichenden Mehrheit der gewählten Abgeordneten zu wählen (der sog. „Kanzlermehrheit“), hat allein der Bundespräsident das Recht, diese Kandidatin/diesen Kandidaten dem Bundestag zur Wahl vorzuschlagen. Gewählt ist diese Person, wenn sie im ersten Wahlgang – ohne jede Aussprache – die sog. Kanzlermehrheit auf sich vereinigt. Diese gewählte Person muss der Bundespräsident ernennen. (Vgl. Art. 63 GG).

Der Bundestag wählt also keine Koalition, auch keine Regierung, sondern eine Kanzlerin/einen Kanzler, die/der nach ihrer/seiner Ernennung die Regierung bildet, indem sie/er dem Bundespräsidenten die Minister der neu zu bildenden Regierung zur Ernennung vorschlägt. Anders als in einigen Landesparlamenten werden die Minister nicht vom Parlament gewählt oder bestätigt, sondern durch den Bundespräsidenten ernannt.

Ich verdeutliche noch einmal: der Bundespräsident, der – wie auch zumindest CDU/CSU und SPD – mit guten Gründen keine Neuwahlen will, hat zur Zeit eine einmalige Machtposition durch sein Vorschlagsrecht für das Bundeskanzleramt. Sollte sein Vorschlag keine ausreichende Mehrheit finden, verliert der Bundespräsident sofort sein Vorschlagsrecht und der Bundestag ist am Zug: innerhalb von 14 Tagen kann der Bundestag in mehreren Wahlgängen versuchen, irgendeine vorgeschlagene Kandidatin oder Kandidaten zu wählen. Aber der Bundespräsident darf nur den zum Bundeskanzler ernennen, der die Kanzlermehrheit erhalten hat.

Ist die Frist von 14 Tagen nach dem ersten erfolglosen Wahlgang (mit dem Vorschlag des Bundespräsidenten) verstrichen und kein Kanzler (oder Kanzlerin) gewählt, dann muss unverzüglich ein neuer Wahlgang (mit x-möglichen Kandidatinnen und Kandidaten) stattfinden, bei dem gewählt ist, wer die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhält. Ist das die Kanzlermehrheit, muss der Bundespräsident den Gewählten oder die Gewählte ernennen. Erhält er/sie zwar die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, aber nicht die qualifizierte Kanzlermehrheit, dann hat der Bundespräsident innerhalb von 7 Tagen das Recht, ihn/sie zu ernennen, oder den Bundestag aufzulösen.

Ich gehe davon aus, dass der Bundespräsident diese letzte Möglichkeit vermeiden will, und die Kandidatin der CDU/CSU, Angela Merkel, dieses „14-Tage-Chaos“ vermeiden will. Beide haben ein Interesse daran, dass die jetzige geschäftsführende Bundeskanzlerin im ersten möglichen Wahlgang auf Vorschlag des Bundespräsidenten die Kanzlermehrheit erhält und dann ihre Regierung bilden kann.

Dies – dies ist mein Vorschlag – wird möglich durch eine Vereinbarung der drei Parteien CDU, CSU und SPD, in der beide Fraktionen verpflichtet werden, im ersten Wahlgang Angela Merkel zu wählen. Ich nenne auf Vorschlag meines alten Schulfreundes aus Krefelder Zeiten, Prof. Dr. Karl-Heinz Naßmacher (pensionierter Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg, der jetzt in Solingen lebt) diese Vereinbarung einen Stabilitätspakt.

Dieser Stabilitätspakt muss m.E. zumindest folgende Eckpunkte verbindlich regeln:

  • Neben der Sicherung eines ausreichenden und stabilen Wahlergebnisses durch die beiden Fraktionen zur Bundeskanzlerin im ersten Wahlgang auf Vorschlag des Bundespräsidenten verpflichtet sich Angela Merkel (die neu ernannte Bundeskanzlerin), dem Bundespräsidenten Sigmar Gabriel (SPD) wieder als Außenminister vorzuschlagen. Der Bundespräsident muss ihn auf diesen Vorschlag hin zum Außenminister ernennen.
  • Gemeinsame Sicherung der Rolle Deutschlands als verlässlicher Partner in EU, NATO und UNO;
  • Gemeinsame Außen- und Europa- und Sicherheitspolitik;
  • Keine Beteiligung an einem konstruktiven Misstrauensvotum gegenüber der Bundeskanzlerin während der vereinbarten Legislaturperiode;
  • Klärung des Vorsitzes im Auswärtigen- und Europaausschuss des Bundestages
  • Für alle Fragen der Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik behalten sich beide Seiten volle Handlungsfreiheit vor, d.h. die unionsgeführte Minderheitsregierung kann sich für ihre Maßnahmen eine beliebige Mehrheit im Bundestag suchen, die SPD wird – soweit sie das für richtig hält – dagegen opponieren.

Dieser zwischen den Parteien CDU, CSU und SPD geschlossene Stabilitätspakt ist grundgesetzkonform, so wie auch ein Koalitionsvertrag nach unserer Verfassung möglich, aber nicht notwendig ist. Zwischen der politischen Praxis, vor der Bundeskanzlerwahl einen Koalitionsvertrag der beteiligten Parteien zu beschließen, der dann den gewählten Bundeskanzler bindet, und den gesetzlichen Regelungen des Grundgesetzes ist zu unterscheiden. So kennt unser Grundgesetz weder den Begriff „Koalition (von Parteien)“, noch den Begriff „Koalitionsvertrag“. Daher ist auch eine Vereinbarung im Sinne des obigen Stabilitätspaktes, geschlossen durch die beteiligten Parteien, möglich und für eine stabile Politik ausreichend.

Dieser Stabilitätspakt kann nach außen wie nach innen die erwartete gemeinsame Europa- und Außenpolitik stärken und die weltweite Anerkennung der Bundeskanzlerin und des Außenministers sichern und verbessern. Gleichzeitig werden die Durchsetzungsmöglichkeiten der Fraktionen des Bundestages (z.B. in den Gesetzgebungsverfahren) in der Innen-, Sozial- und Wirtschaftspolitik vergrößert. Dies ist sicher auch im Interesse der SPD, ihre Wahlergebnisse mittel- und langfristig zu verbessern.

Auch muss die „Wartestellung“ der gewählten Abgeordneten des Bundestages möglichst bald beendet werden. Es kann nicht sein, dass die Ausschussarbeit zum großen Teil brach liegt, weil alles auf die Koalitionsverhandlungen fixiert ist – und diese sich unnötigerweise hinziehen. Daher stelle ich mir abschließend folgenden Zeitablauf vor:

  1. Bis Anfang Januar 2018 ist der Stabilitätspakt in der Außen- und Europapolitik zwischen SPD und CDU/CSU ausgehandelt, formuliert und in den Gremien der drei Parteien diskutiert und beschlossen.
  2. Mitte Januar 2018 schlägt der Bundespräsident Angela Merkel dem Bundestag als erneute Bundeskanzlerin vor.
  3. Die gewählte und ernannte neue/alte Bundeskanzlerin schlägt im nächsten Schritt Sigmar Gabriel dem Bundespräsidenten als Außenminister vor und der Bundespräsident ernennt ihn.
  4. Die Bundeskanzlerin schlägt dem Bundespräsidenten die übrigen Ministerinnen und Minister zur Ernennung vor.
  5. Die Bundeskanzlerin gibt gegenüber dem Bundestag ihre Regierungserklärung ab. Zuvor setzt der Bundestag gemäß der Vorgabe der ernannten Ministerinnen und Minister seine Ausschussstruktur fest. Natürlich ist es möglich, dass im Stabiltätspakt (von CDU, CSU und SPD) gemeinsame Regelungen bezüglich der Bundestagsausschüsse getroffen wurden.

Mit diesen Überlegungen und Vorschlägen, die auf der Basis des Konzeptes von Karl-Heinz Naßmacher „Ein Weihnachstsgeschenk für Deutschland“ (Stand 30.11.2017) von mir formuliert wurden, wollen wir erreichen, dass die außenpolitische Anerkennung der Bundesrepublik und ihrer Bundeskanzlerin wie des jetzigen Außenministers weiterhin gesichert wird; der Spielraum der politischen Fraktionen im Bundestag vergrößert wird – und dies nützt auch der Zukunft der SPD.

p.s.

Prof. Dr. Karl-Heinz Naßmacher (ehemals Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg) und ich kennen uns seit unserer gemeinsamen Schulzeit am Fichte-Gymnasium in Krefeld und sind beide über 50 Jahre Mitglied der SPD. Die Forschungsschwerpunkte von K.-H. Naßmacher sind die Parteienfinanzierung, der Parlamentarismus und die Kommunalpolitik.