Universalismus statt Tribalismus

Susan Neiman, amerikanische Philosophin und seit 2000 Direktorin des Einstein Forums in Potsdam hat zum 50. Jahrestag der Grundwertekommission der SPD einen Vortrag gehalten, der in verkürzter Form in der Frankfurter Rundschau (FR Nr. 281 vom 2./3. Dezember 2023) veröffentlicht wurde: „Wer die Hoffnung auf Fortschritt aufgibt, ist nicht mehr links“, in dem sie im Sinne der Aufklärung und der jüdischen Tradition in Deutschland den Tribalismus, und damit alle Formen des Rassismus verurteilt. Sie erinnert in diesem Kontext an Moses Mendelsohn, Heinrich Heine, Karl Marx, Eduard Bernstein, Albert Einstein, Walter Benjamin und Hannah Arendt.

Ich stimme der grundsätzlichen Kritik an jeder Form von Tribalismus (inklusive Antisemitismus und Nationalismus) zu und verweise zusätzlich auf Hermann Cohen (aus dem Neukantianismus kommend) und Franz Rosenzweig (Stern der Erlösung) und das aus den Propheten-Erzählungen der jüdisch-christlichen Bibel stammende messianische Denken.

Ich habe in meinen Überlegungen zur Anthropologie der Aufklärung (siehe: Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän, Münster 2023) versucht, das Programm der Aufklärung mit dem Messianischen Denken der Erlösung des Judentums wie des Christentums zu verknüpfen, um so „Stammesdenken“ und Nationalismus wie Rassismus, als auch „Volkstümelei“ zu überwinden.

Erlösung (als konkrete Utopie) weltweit zu denken und zu erhoffen und das religiös geprägte Stammesdenken zu überwinden, verbindet aufgeklärte Christen und Juden mit allen aufgeklärten Menschen, denn der Universalismus hat eine entscheidende Wurzel in den prophetischen Schriften der jüdischen Bibel.

Das messianische Denken widerspricht nicht den Exodus-Erzählungen des „Volkes Gottes“, sondern diese sind der konkrete (geschichtliche) Ausgangspunkt der messianischen Erwartungen. Auch wenn bis heute die Differenz zwischen dem erschienenen und dem zu erwartenden Messias bei Christen und Juden erhalten bleibt, verbindet beide das messianische Denken und Hoffen (wenn auch in unterschiedlichen Vorstellungen) als Utopie der Erlösung für die Menschheit und die Welt.

Schon zur Zeit des Jesus aus Nazaret existierten jüdische Gemeinden in der weltweiten Diaspora, in Distanz zur Tempelfrömmigkeit in Jerusalem.Schon weit vor der „Zeitenwende“ (im christlichen Verständnis) leben jüdische Gemeinden „zerstreut“ im Römischen Reich und auch die Dynamik des Christentums entwickelt sich in Kleinasien; verstärkt durch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch römische Truppen um 70 n.Chr. Die Botschaft der Erlösung im Sinne der Messias-Erwartung ist universal und nicht mehr stammes- oder tempel-gebunden.

Schon im Hebräerbrief – vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels verfasst – wird argumentiert, dass die Hinrichtung des Messias am Kreuz und seine erlösende Wirkung („Auferstehung“) außerhalb des Tempelbezirkes stattgefunden hat.

Das messianische Denken bei Diaspora-Juden wie bei Christen ist nicht mehr tempelgebunden bzw. kultgebunden (Beschneidung). Paulus aus Tarsus in Kleinasien ist ein typischer jüdischer Schriftgelehrter des Diaspora-Judentums, der in griechischer Sprache argumentiert und nach dem Scheitern der Reform der jüdischen Gemeinden zum „Weltapostel“ des Christentums wird.

Seine Erlösungsbotschaft hat sich radikal von kultischen Stammesvorstellungen gelöst. Die jüdisch-christliche Ablehnung des Tribalismus erlaubt und ermöglicht aufgeklärten Menschen, auch im 21. Jahrhundert Jude oder Christ zu sein. Zwischen der Bedeutung von „Volk“. „Raum“ und „Heimat“ muss unterschieden werden.

Nationalistische, rassistische Positionen, religiös begründet, widersprechen dem messianischen Denken der Bibel grundsätzlich. Daher müssen auch die jüdische „Orthodoxie“ wie christlich-dogmatische Kirchenideologien kritisch hinterfragt werden.

Ich bin ein Querleser.

Ein Marginalist ist ein Mensch, der einen Text – sei es Buch oder Aufsatz – beim Lesen mit Randglossen (Marginalien) kommentiert. Ich überlege, wie ein Mensch zu bezeichnen ist, der die Unart hat, ein Sachbuch von hinten her zu lesen.

Ich frage mich vorab, wie er sich verhält, wenn das Buch in hebräischer Sprache geschrieben und daher von hinten nach vorn gestaltet ist. Da ich diese Unart habe und sie bei Sachbüchern meiner Fachgebiete praktiziere, steht meine Antwort aus.

Meine Antwort ist komplizierter, als es zunächst den Anschein hat. Zwar könnte ich scheinbar problemlos mit der Umkehrung antworten: Bücher im Hebräischen, wie z.B. die Bibel, blättere ich von vorn nach hinten auf. Aber mit dieser bloßen Umkehrung (das Aufschlagen der hebräischen Bibel von vorne nach hinten ist sinnlos) gegenüber erworbenen Sachbüchern ist nicht ausreichend begründet, warum ich diese Unart pflege.

Mich interessiert als erstes das Literaturverzeichnis am Ende eines Sachbuches: Gibt es Hinweise auf die von der Autorin oder dem Autor gelesene – oder eingesehene – Literatur oder ist allein die im Text zitierte Literatur aufgeführt? Und zweitens: Wie korrekt bzw. konkret wurden die Literaturtitel angegeben; wurde zwischen Primär- und Sekundärliteratur unterschieden; welche Auflage eines Buches wurde, wenn von Bedeutung, benutzt; welche (kritische) Gesamtausgaben wurden herangezogen?

Um zwei Beispiele zu nennen: Bei einer Schrift zur Kritik der Politischen Ökonomie des Karl Marx ist es für mich schon informativ, ob nur die MEW-Ausgabe oder auch die MEGA-Ausgaben (alt wie neu) gebraucht wurden. Oder bei einer neuen Heidegger-Monografie ist es für mich schon wesentlich, ob die erst im vorletzten Jahr veröffentlichten „Schwarzen Hefte“ mit beachtet wurden.

Eine weitere Einsicht in das Literaturverzeichnis lässt erkennen, welche wesentliche Literatur nicht aufgenommen wurde; aus Nachlässigkeit oder aus Absicht? Diese Einsicht ist auch durch meine Neugierde und Eitelkeit begründet: Warum hat der Autor mich nicht zitiert, obwohl er doch hätte wissen müssen …

Umfang und Inhalt eines Literaturverzeichnisses sind immer auch Ausdruck der Schulenbildung in der scientific community – und Beachtung oder Missachtung einer Schrift ist auch Ausdruck der Wertschätzung. Daher ist ein Sach- und Personenverzeichnis nützlich und interessant: Wie häufig werden z.B. Marx, Kant oder Hegel zitiert? Oder die Gegenfrage: Wieso werden in einer 2014 erschienenen Schrift über die Sinnfrage („Das Göttliche“) Bloch und Hegel nicht genannt?

Ich gebe zu, auch die Literaturhinweise in meinen Schriften sind subjektiv ausgewählt; aber ich bleibe dabei: Literaturverzeichnisse geben einen ersten Eindruck auf den „Hintergrund“ des jeweiligen Textes.

Ich kehre zu meiner Ausgangsfrage zurück. Es mag nun verständlich sein, warum ich beim Lesen eines Buches mit dem Ende beginne. Das gilt natürlich nicht für einen Kriminalroman (den ich sehr selten nur lese), aber bei der Belletristik wirkt meine Unart manchmal nach; aber das tut dem Genuss an sprachlich guter Literatur keinen Abbruch.

Bleibt die Frage, wie ich meine Leidenschaft tituliere. Ich bin nicht nur Marginalist, sondern auch Querleser. Und als aufgeklärter Querdenker mäandere ich mit meinen Gedanken und in meinen Texten. Die Hoffnung bleibt, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.

Kinder Abrahams und Erben der (abgebrochenen bzw. unvollendeten) Aufklärung

Europäische Gedanken zum Neuen Jahr 2019

Vor einigen Tagen erhielt ich zum Jahreswechsel ein Chronogramm, in dem es heißt, Europa solle sich seiner christlichen Wurzeln (radicis christianae) erinnern, um seine Einigkeit und seinen Bestand zu sichern. Diese Forderung ist gut gemeint, aber einseitig und in historischer Perspektive problematisch.

Wir Jetzt-Menschen in Europa/Vorderasien/Nordafrika sind alle „Kinder Abrahams“: Juden, Christen und Muslime. Und zu unserer Geschichte gehören von Anfang an Religionsspaltungen, Konfessionsbildungen, Religionskriege (die immer auch Machtauseinandersetzungen und Interessenkonflikte zur Grundlage hatten und haben), Pogrome und ideologischer Streit und Feindschaft. Gemeinsamer Anspruch der abrahamitischen Religionen und die historische wie gesellschaftliche Wirklichkeit widersprechen sich und bis heute bedarf es gemeinsamer Anstrengung und Empathie, diese Widersprüche und Gegensätze von den gemeinsamen Wurzeln her zu überwinden. Karl-Josef Kuschel, ein Theologe, der sich seit langem dem interreligiösen Dialog widmet, hat eindringlich darauf hingewiesen, „dass wir alle Kinder Abrahams sind“. (1)

Wir Jetzt-Menschen sind darüber hinaus alle „Erben der Aufklärung“, gleich welcher Konfession wir zugehören (durch Geburt oder/und Entscheidung) oder ohne Zugehörigkeit zu einer Konfession. Diese Aussage bedarf der Erläuterung, da wir oft diese Herkunft und Wirklichkeit verdrängen, verleugnen, verharmlosen oder gegen unsere religiöse Herkunft ausspielen. (2)

Wenn ich von „Aufklärung“ spreche, dann umfasst dieser Begriff nicht nur einen unabgeschlossenen historischen Prozess in Europa (mit sehr unterschiedlichen Resultaten und Wirkungen), sondern die grundlegende Möglichkeit und Notwendigkeit, begreifbare Probleme in Wissenschaft und Gesellschaft (Alltag) auf der Basis von Erfahrung (nicht Spekulation) zu lösen; mit Hilfe erfahrungswissenschaftlicher Methoden und unter dem Postulat von Mündigkeit und Autonomie. Dieser Prozess wird ideologiekritisch begleitet, ausgehend von Roger Bacon über Immanuel Kant und die Kritik der Politischen Ökonomie des Karl Marx bis hin zu einer zeitgemäßen Sprachkritik. (3)

Wir im Sinne dieser Aufklärung ausgebildete Jetzt-Menschen haben die zum Teil widersprüchlichen Arbeitsweisen und Erfahrungen verinnerlicht; zum Teil müssen wir lernen, mit ihnen zu arbeiten, und zu einem weiteren Teil leben wir in überholten Weltvorstellungen oder klammern uns an ideologischen Konstruktionen der Wirklichkeit. Ich erinnere – pars pro toto – an die umwerfende Bedeutung der Einführung der „arabischen Null“ in das beschränkte römische Zahlensystem, ich denke an Raimundus Lullus und seinen Versuch der Synthese unterschiedlicher Weltvorstellungen, ich verweise auf jüdische, christliche und muslimische Formen der Mystik, ich hebe jüdische, christliche und muslimische Denker im Zeitalter der Aufklärung hervor und verweise auf den impliziten wie expliziten Atheismus (im Sinne einer theologia negativa) in Judentum und Christentum.

Diese Lebens-, Erfahrungs- und Reflexionsprozesse prägen unser heutiges Welt- und Menschenbild. Ich kennzeichne dieses Weltbild als „anthropozentrisch“ (inklusive eines methodischen Atheismus) und spreche beim zugehörigen Menschenbild von „Autonomie“. Dieser Begriff bedeutet für mich – auf der Erfahrungsebene – nicht absolute Unabhängigkeit oder Freiheit, sondern ausschließliche Verantwortung des Menschen und der Menschen für ihr Denken, Handeln und Verhalten. Es gibt meiner Überzeugung nach keinen entlastenden Rückgriff auf eine „andere“ Wirklichkeit, auf den sog. Zufall (casus non datur) oder ein grundsätzlich „anonymes“ Schicksal.

Diese Überzeugung auf der Basis von Autonomie und aufgeklärtem Realismus (4) bedeutet im Detail:

  1. Wir sind notwendigerweise „methodische Atheisten“ (sic deus non datur), wenn wir Probleme lösen und damit wir sachgemäß Probleme lösen können; in Wissenschaft und Alltag (öffentlich wie privat).
  2. Wir erfahren – und wissen um – die Vorläufigkeit allen Problemlösens. Daher sind wir notwendigerweise kritisch und zweifelnd (ohne zu verzweifeln); ansonsten verfallen wir den Ideologien, den Illusionen und dem Aberglauben.
  3. Wenn wir die Dynamik des Vorläufigen erfahren und erkennen, sind wir implizit und/oder (im Einzelfall) Mystiker, die die „Utopie der Erlösung“ andenken, ohne in „Gottesgeplapper“ zu verfallen. Wir enträtseln die Oxymora unserer Sprachen und unserer Welt, ohne das „beredte Schweigen“ aufheben zu können. (5)
  4. Als Christ bin ich überzeugt (im Sinne von Vertrauen), dass auf der Basis und in der Form des jüdischen Messianismus die „Utopie der Erlösung“ konkretisiert ist.
  5. Die Botschaft der konkreten Utopie des Christentums ist in zweifacher Hinsicht formulierbar:
    • Jesus aus Nazaret ist der Messias;
    • Gott ist Liebe (agape/caritas); in der Interpretation des Johannesbriefes.

Die Konsequenzen aus dieser Doppelbotschaft für den Menschen bedürfen, um realisiert zu werden, der steten Übersetzung und Aktion; in messianischer Vorstellung und Sprache bedeutet das den Anbruch und die spezifische Gegenwart des „Reiches Gottes“. Wir Jetzt-Menschen sind (so formuliert Hannah Arendt) sterbliche Schöpfer. Das ist unsere Freiheit und Verantwortung.

Anmerkungen

  1. Karl-Josef Kuschel lehrte Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs an der Universität Tübingen und stellvertretender Direktor des Instituts für für ökumenische und interreligiöse Forschung. In der Weihnachtsausgabe der Frankfurter Rundschau Nr. 299 (2018) wurde er interviewt unter dem Titel: „Wer Christentum und Islam gegeneinander ausspielt, hat keine Ahnung von den gemeinsamen Wurzeln“. Im Gespräch erzählt Theologe Karl-Josef Kuschel, dass die „Heilige Nacht“ kein Privileg der Christen ist. Vgl. seine neueste Veröffentlichung: Karl-Josef Kuschel: „Dass wir alle Kinder Abrahams sind …“. Helmut Schmidt begegnet Answar as-Sadat. Ein Religionsgespräch auf dem Nil, Düsseldorf 2018
  2. Immanuel Kants Programmschrift von 1783 „Was ist Aufklärung“ trifft alle Menschen, Christen, Nichtchristen und auch Atheisten. Ich habe 2017 ein Buch geschrieben, das zu Gespräch und gemeinsamen Nachdenken auffordert: Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten. Ein Taschenwörterbuch, Münster 2017.
  3. Am unterschiedlichen Verhältnis von Staat und Religion, insbesondere vom jeweiligen Staat und den Kirchen in Europa lässt sich klar ablesen, dass der Prozess der Aufklärung auf unterschiedliche Weise steckengeblieben ist; und das gilt nicht nur für die einzelnen europäischen Gesellschaften, sondern auch für die jeweiligen rechtlichen Konstruktionen und die Theorieproduktion. Deswegen spreche ich von der „abgebrochenen“ Aufklärung. Vgl. die einzelnen Stichworte in meinem „Vademecum“ (für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten). Siehe Anm. 2
  4. Ich beginne in diesen Tagen unter diesem Stichwort des „aufgeklärten Realismus“ einen „Leitfaden zu einem zeitgemäßen Welt- und Menschenbild“ aufzuschreiben (Grundlagen für eine Theorie verantwortungsvollen Handelns und Verhaltens). Vgl. zu der Frage, was ein „zeitgemäßes Welt- und Menschenbild“ sein könnte: Günter Dux: Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Wiesbaden 2017 (4.A.) und Michael Zichy: Menschenbilder. Eine Grundlegung, Freiburg/München 2017. Hannah Arendts Aussage, die Menschen seien „sterbliche Schöpfer“ ist für diesen Leitfaden maßgebend.
  5. Wenn ich hier von „Mystik“ bzw. „mystischer Erfahrung“ spreche, dann nicht in einem religionsspezifischen Sinn, sondern ausgehend von der Position Wittgensteins – schon zu Ende seines Tractatus –, dass es Erfahrungen gibt, die sich „zeigen“ – und nicht „begriffen“ werden können (im sprachkritischen Sinn, aber sehr wohl kritisch analysiert werden können und müssen). Diese mystischen Erfahrungen sind grundsätzlich für alle nachdenkenden Menschen offen, sie sind streng zu unterscheiden von aller Esoterik und allem Aberglauben. Am Anfang dieser Erfahrung steht das Schweigen (nicht das „Gottesgeplapper“), aber es kann zum „beredten Schweigen“ werden – in der sprachlichen Form der Oxymora. Ich halte die Sprache des jüdisch-christlichen Messianismus für ein interessantes, sachgemäßes Ausdrucksmittel – auch in unserem zeitgemäßen anthropozentrischen Weltbild und autonomen Menschenbild – der konkreten Utopie der Erlösung; jenseits, besser: diesseits allen Problemlösens, das Wissenschaft und Alltag kennzeichnet. Daher spreche ich von der „Dynamik des Vorläufigen“ (im Gegensatz zu Siegfried J. Schmidt, der von „Endgültigkeit der Vorläufigkeit“ spricht; vgl. sein gleichnamiges Buch: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit. Prozessualität als Argumentationsstrategie, Weilerswist 2010)