Der Holzweg ist keine Lösung

Holzwege sind nicht die Lösung des Problems der Erlösung. Holzwege sind spezielle Irrwege im Labyrinth des menschlichen Lebens. Irrwege sind Umwege, die nicht aufgeben, das erhoffte Ziel zu erreichen. Auf dem Umweg wird das Ziel nicht geleugnet, nicht vergessen oder sogar aufgegeben, sondern – bei aller Anstrengung – die Zielorientierung bleibt erhalten. Sie gibt dem Mäandern im Feld des Lebens Sinn. Demgegenüber ist die Aussage, der Weg sei schon das Ziel, sinnlos.

Ich verstehe diese Zielorientierung als die Dynamik des Vorläufigen in allem alltäglichen, gesellschaftlichen und forschendem Problemlösen. Die Struktur des Lösens von Problemen – das zeigt sich sowohl bei den Lösungswegen, als auch bei den Lösungen – ist provisorisch und antizipativ zugleich.

Daher ist auch der Holzweg eine spezielle Form des Umweges, den zu gehen, Mut, Anstrengung und Ausdauer verlangt. Insbesondere verlangt dieses Gehen, mit dem Zweifel umzugehen, ohne zu verzweifeln, und bereit zu sein, umzukehren. Denn der Holzweg ist eine Sackgasse. Er verlangt Umkehr – um im Bild zu bleiben: damit das geschlagene Holz aus dem Wald entfernt und entsorgt werden kann.

Das messianische Denken versteht das menschliche Leben als Bewegung in einem labyrinthartigen Feld. Der Ausgang – die Lösung bzw. Erlösung – ist existenziell erfahrbar, aber nicht erzwingbar oder begreifbar. Diese Erfahrung beginnt mit dem Schweigen, kann als konkrete Utopie beschrieben und in Oxymora erzählt werden.

Missverständnisse bezüglich des utopischen Denkens

Das utopische Denken ist keine Strategie zur Durchsetzung der Demokratisierung der Gesellschaft oder der allgemeinen Anerkennung und Durchsetzung der Menschenwürde. Nur auf der Basis eines aufgeklärten Realismus können Friedensordnungen durchgesetzt werden und Gesellschaften bestehen, die die Menschenrechte achten und die Risiken der Zerstörung und Vernichtung minimieren: vom Gesundheitsschutz über den Naturschutz bis zum Menschenschutz. Risikominimierung in diesem Sinn ist eine ständige Verpflichtung unter dem (kategorischen) Imperativ, die Menschenwürde zu achten.

Paradiesvorstellungen sind demgegenüber eine gefährliche Illusion. Ich nenne zwei Beispiele: ein verrücktes und ein zeitgemäßes. Meine Zielvorstellung für ein menschenwürdiges Leben sind weder die (scheinbare) Selbstverständlichkeit goldener Wasserhähne – wie in der Utopia-Vorstellung des Thomas Morus, die dort eine zivilisationskritische Funktion hat –, noch eine phantasierte Erde ohne Eingriff der Naturgewalt.

Dies klingt verrückt und meine Aussage bedarf der Klärung, um nicht missverstanden zu werden: Ich wünsche mir kein Paradies auf Erden und kein Ende der „natürlichen“ Evolution. Das erstere wollen Menschen nicht, wenn sie „aufgeklärt“ sind (im Sinne des homo praestans); das weitere können sie nicht, wenn sie aufgeklärte Realisten sind. Die mögliche Selbstzerstörung der Erde ist der Grenzfall, der die Evolutionsgesetze des Kosmos unberührt lässt.

Zunächst kläre ich, warum ich irrige Zielvorstellungen ablehne:

(1) Die Geschichte der goldenen Wasserhähne ist in der Utopia des Thomas Morus nachzulesen, geschrieben in England im Jahr 1517.

In diesem erfundenen Inselstaat bestehen die Instrumente der Wasserversorgung aus Gold, weil dieses Metall für die Inselbewohner seinen spezifischen Wert verlieren soll.

Der Hintergrund dieser Episode wird deutlich: die Faszination des Goldes/des Geldes wird hinterfragt; in diesem fiktiven Paradies ist es wertlos. Die utopische Vorstellung ist eine Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen.

Ich hoffe, es ist einsichtig, dass ich in einem solchen paradiesischen Utopie-Staat nicht leben will. Denn zu einem menschenwürdigen Leben gehört es, ausreichend sauberes Wasser für alle Menschen zu haben. Der Gebrauchswert des Wassers und seine Zufuhr sind entscheidend und nicht der Tauschwert der Ware „Wasser aus goldenen Hähnen“.

(2) In der notwendigen Diskussion um ausreichenden und wirksamen Naturschutz wird oft suggeriert, der Mensch könne die Gewalt und Entwicklung der Naturkräfte in seinem „Wohnraum“, der Erde, abschaffen. Das ist „natürlich“ eine Illusion.

Der Mensch kann sich wirksam vor den Naturkräften auf der Erde schützen und die Natur vor der Zerstörung bzw. vor dem Missbrauch bewahren – mit der möglichen Konsequenz der Selbstzerstörung (z.B. durch selbstverschuldete Erderwärmung).

Das menschliche Bewusstsein kann sehr wohl zwischen durch Menschen erzeugte Katastrophen und kosmischen Veränderungen, die der natürlichen Evolution und ihren Gesetzen entsprechen, unterscheiden und sachgemäß reagieren.

Naturschutz ist aus menschlicher Sicht immer auch Überlebensschutz. Hannah Arendts Aussage, dass der Mensch ein „sterblicher Schöpfer“ sei, bezieht sich meiner Überzeugung nach nicht nur auf die Sterblichkeit der Individuen, sondern auch auf seine Stellung im Universum.

Was bedeutet diese Erkenntnis für das utopische Denken?

Das utopische Denken – als Bewusstseinserweiterung – beendet nicht – im chronologischen Sinne – die Entwicklung des Universums, deren Gesetzmäßigkeiten im Detail noch erforscht werden (z.B. durch die Theorie der „schwarzen Löcher“), und beendet auch nicht die Entwicklung des Lebens auf den Planeten (auch wenn der „homo sapiens“ eine Endform des Lebens auf der Erde darstellen sollte).

Das utopische Denken – so meine begründete Überzeugung – ermöglicht dem menschlichen Bewusstsein – im kairologischen Sinn – Erlösung zu denken und Befreiung – im Sinne der Menschenwürde für alle Menschen durchzusetzen.

Im religiösen Sprachspiel des messianischen Denkens bedeutet diese Möglichkeit – unter den Bedingungen des aufgeklärten Realismus – für menschliches Bewusstsein am Ende des Anthropozän, Erlösung in Form einer konkreten Utopie zu denken und diese existenzielle Erfahrung – kairologisch, nicht chronologisch in Befreiung und Empathie umzusetzen – und davon – im Sprachspiel der Oxymora – zu erzählen.

Das utopische Denken. Zur Dynamik des Vorläufigen

Die Vorläufigkeit des konstruktivistischen Denkens für endgültig zu erklären, ist eine resignative Form der Metaphysik. Vorläufiges Denken und Handeln hat eine Dynamik, die durch utopisches Denken – im heutigen anthropozentrischen Weltverständnis – gekennzeichnet werden kann.

Menschliches Denken und Handeln im Prozess der Aufklärung ist – zusammenfassend – als Problemlösen strukturiert. Diese Struktur als endlich zu analysieren, eröffnet die Utopie der Erlösung, die existenziell erfahren und konkret erzählt werden kann, aber nicht begriffen.

Das Vorläufige ist nicht das Endgültige. Die Endlichkeit alles Menschlichen enthält (verbirgt und eröffnet) eine Dynamik: Provisorium und Antizipation zugleich; Erkenntniszuwachs wie Erkenntnisfortschritt. Der entscheidende Impuls für alles Problemlösen ist die Utopie der Erlösung (als Erwartung: zeit- und ortlos).

Religion, wie sie sich heute präsentiert, ist der Rückzugs-Ort des Heiligen in einer profanen Welt. Demgegenüber umfasst das Utopische Denken den Welt-Raum. Dieses Denken benötigt weder Tempel noch Heiligtümer; es wirkt mitten unter den Menschen, mitten in unserer verdinglichten, entfremdeten Welt. Historisch wie biografisch gesehen hat das Utopische Denken konkret einen Namen: gebunden in der – und übersetzt aus der jüdisch-christlichen Täufer-Tradition: das messianische Denken.

Utopisches Denken wird im Alltag der Menschen erfahrbar und erzählbar, aber bleibt unbegreifbar. Der „Ort“ der Utopie, der einzige Ort des Ortlosen (ein Oxymoron) ist das Gespräch; in ihm kann erzählt und gehört werden, was Erlösung bedeutet (in der Struktur der Antizipation). Die Differenz von chronos und kairos ist erkennbar, erfahrbar, erzählbar, aber nicht aufhebbar.

Das Gespräch dient sowohl der gemeinsamen Rückerinnerung, als auch der gemeinsamen Entwicklung von Perspektiven und Aktionen; es ist der Raum der Umkehr (Revision) und Verantwortung. Entscheidend ist die dialogische Struktur des Gespräches, selbst da, wo der Einzelne sich mit sich selbst verständigt (verständigen muss). Verantwortung ist nicht delegierbar, Selbstkritik und Umkehr befreien.

Gegen die Lagermentalität – Zum Ursprung des Christentums

Aus dem Brief an die Hebraier (13,13-14):

Daher wollen wir hinausgehen zu ihm (Jesus Christos), außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend, denn nicht haben wir hier eine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. (Übersetzung: Münchener NT) (Vulgata: „extra castra“; NT gr.: ménousan/méllousan pólis; vulg./lat.: civitas)

Das ursprüngliche Christentum ist eine messianische Täuferbewegung innerhalb des Judentums in der damaligen Zeit, deren Gemeinden sich, so der Hebräerbrief (entstanden vor der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die römischen Truppen), als „außerhalb des Lagers“ verstehen, also keine Tempel- und Opfer-orientierte Religionsgemeinschaft sind. Diese Gemeinschaften haben keine „bleibende polis“, sondern erinnern sich an und bekennen sich zu Jesus aus Nazaret als ihren Messias und suchen eine „neue polis“.

Christen können sich also – im religiösen Sinn – nicht auf ein räumliches Zentrum rückbeziehen; weder auf Jerusalem (mit dem Tempel), noch Konstantinopel noch Rom. Denn sie leben und handeln weltweit „außerhalb des Lagers“; das ist ihr universaler Auftrag. Überall, wo sie sich im Namen und Auftrag des Messias (Christos) Jesus zusammenfinden und sich seiner kenosis erinnern und seiner Erlösung (der Welt) gedenken und diese durch ihr Verhalten bezeugen, sind sie zu hause.

Religionen beziehen sich auf ein religiöses Zentrum; daher spreche ich von religio als Rückbezug. Judentum wie Christentum sind durch die Exodus-Struktur gekennzeichnet; kennen aber auch – sekundär – den Schöpfungsmythos (erzählt im Buch Genesis). Das Christentum erwartet und erfährt (als kairologisches Ereignis – in der Deutung des Paulus aus Tarsus) den Beginn der „Gottesherrschaft“. Übersetzt vom theozentrischen Weltbild in das anthropozentrische Weltverständnis bedeutet das die konkrete Utopie der Erlösung, die befreit und verhindert, dass Zweifel und Endlichkeit in Verzweiflung und Vernichtung umschlagen.

Daher akzeptieren aufgeklärte Christen keine „Lagermentalität“; sie ziehen sich nicht in ihre „Kirchen“ zurück, sondern ihre Form der „Entweltlichung“ bedeutet, sich nicht den bestehenden Verhältnissen anzupassen, sondern Verantwortung für die Menschen und die Welt zu übernehmen.

Zum Hintergrund der Argumentation des „Briefes an die Hebraier“

Der Text des „Hebräerbriefes“ ist seiner Argumentation nach ein Traktat eines Gelehrten der Priestertheologie des hellenistischen Judentums, der gelernt hat, mit der biblischen Tempel- und Opfertheolgie zu argumentieren. Die Schärfe seiner Kritik am Tempeldienst und Opferkult (in Jerusalem) besteht darin, dass er diese Opfertheologie allein auf Jesus, den Messias, bezieht und die Adressaten seiner Argumentation, sog. „Judenchristen“, vor einem Rückfall in die Opferpraxis des Tempels in Jerusalem schützen will. Der Kontext im 13. Kapitel des Hebräerbriefes verdeutlicht dies:

Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit.

Lasst euch nicht durch schillernde und fremdartige Lehren verführen. Denn es ist gut, dass das Herz gefesselt wird durch Gnade, nicht durch Speisegebote; die sie befolgten, hatten keinen Nutzen davon.

Wir haben einen Altar, von den zu essen keine Vollmacht hat, wer dem Zelt dient. Denn die Leiber der Tiere, deren Blut der Hohe Priester als Sühnopfer ins Heiligtum hineinbringt, werden außerhalb des Lagers verbrannt.

Darum hat auch Jesus, um durch sein eigenes Blut das Volk zu heiligen, außerhalb des Tores gelitten.

Lasst uns also vor das Lager hinausziehen zu ihm und seine Schmach tragen, denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Durch ihn wollen wir Gott allezeit als Opfer ein Lob darbringen, das heisst die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen.

Vergesst nicht, einander Gutes zu tun und an der Gemeinschaft festzuhalten, denn an solchen Opfern findet Gott Gefallen.

(Hebr. 13,8-16 in der Übersetzung der Zürcher Bibel)

Schärfer kann die Kritik an den Speisegeboten und der Opfertheologie in der Sprache der jüdischen Priestertheologie (Nutzlosigkeit der Speisegebote und die Hinrichtung Jesu außerhalb des Tempelbezirks als einzig sinnvolles Blutopfer der „Heiligung“) nicht formuliert werden, auch wenn für aufgeklärte Menschen (auch Christen) unserer Zeit diese weltbildbezogene Denkweise fremd und unverständlich bleibt. Diese Kritik muss also in Bezug auf unsere Lebenspraxis übersetzt werden.

Ich fasse zusammen:

Der Verfasser der Argumentation des sog. Hebräerbriefes polemisiert gegen die „Lagermentalität“ derer in seinem Freundeskreis (der getauften messianischen Juden), die sich weiterhin am Tempelkult des Hohen Priesters und der dort stattfindenden Opferpraxis orientieren. Ich unterstelle, der Tempel in Jerusalem ist noch nicht durch die römischen Legionäre zerstört ( und das spricht für eine Entstehung des Briefes eindeutig vor 70 n. Chr.). Die Gegenargumentation in der Sprache der Priestertheologie ist:

(1) Es gibt nur einen Hohen Priester, und das ist Jesus aus Nazaret, der vor den Toren der Stadt (außerhalb der Mauern) hingerichtet wurde;

(2) Sein Tod ist das einzige sinnvolle Opfer zur Erlösung der Menschen;

(3) Und deshalb haben die Messias-Vertrauten (die Christen) hier (in Jerusalem) keine „bleibende polis“, sondern sie sind Suchende der „zukünftigen polis“.

Christen haben keinen heiligen Ort, kein Kultzentrum – nur Erinnerungsorte -, denn als „Erlöste“, als freie Menschen können sie überall „Gott loben“ – für die Befreiung danken (Eucharistie als Danksagung), sich sozial (für ihre Mitmenschen) engagieren (Diakonie/Caritas als Konsequenz) und (um der Erinnerung und Bezeugung der Erlösung willen) Gemeinschaft halten (ekklesia).

Inkonsequente Perversion

Spontane Anmerkung zum Adorno-Denkmal
auf dem Theodor-W.-Adorno-Platz in Frankfurt am Main

Ich weiß, es gibt keinen Zufall. Aber der Frankfurt-Tourismus macht das Unwahrscheinliche möglich: Bei der Wikipedia-Lektüre im Internet – ich bereitete unter dem Stichwort: neue Altstadt Frankfurt einen vorösterlichen Besuch vor – fand ich einen Hinweis auf das Adorno-Denkmal von Vadim Zaktarov, seit 2003 auf dem Theodor-W.-Adorno-Platz in Frankfurt am Main aufgestellt.

Da ich seit längerem nicht mehr in der Krönungsstadt der deutschen Kaiser und des Bankenkapitals war, wußte ich nichts von diesem Glaskubus, „frei zugänglich und immer geöffnet“, wie die Touristen-Information behauptet; gerne – und unreflektiert – würde ich mich an Adornos Schreibtisch setzen und den stupiden Takt seines Metronoms auslösen.

Aber nein, mir gingen beim Anschauen der Fotografie andere Phantasien perverser Art durch meinen Kopf:

(1) Perversion eins: Hätte nicht auch Adorno gleich Lenin oder Pater Pio einbalsamiert werden können und, an seinem Schreibtisch sitzend, für die Ewigkeit ausgestellt?

Ich gebe zu, diese perverse Phantasie übersteigt seine von mir unterstellte Eitelkeit und widerspricht meinem Wissen und meiner Sympathie für die negative Dialektik einerseits, und seinen hochaktuellen „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ andererseits; Reflexionen, in denen sich der Begriff Erlösung – um der Erkenntnis willen – nicht vermeiden lässt.

(2) Perversion zwei: Ich stelle mir vor, mein Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer in M. wäre öffentlich zur Schau gestellt. Der Berliner Zeichner Matthias Beckmann hat ihn in meinem „überfüllten“ Zimmer gezeichnet und mein Chaos dokumentiert. Abgesehen davon, ob es überhaupt möglich wäre, diese Unordnung – so die äußere Wahrnehmung – post mortem nachzukonstruieren, B. hätte gegen diese Perversion ihr Veto eingelegt; denn diese Zur-Schau-stellung hätte die Vergeblichkeit ihrer Mahnung, endlich einmal aufzuräumen und Ordnung zu schaffen, „in Ewigkeit“ dokumentiert.

(3) Perversion drei: Meiner Überzeugung nach ist die einzig sachgemäße Lösung eines Denk-mals für einen toten Philosophen und Musiktheoretiker: ein leerer Glaskubus; mit der Unterschrift versehen: Über die Vergeblichkeit, die Dialektik von kairos und chronos aufzuheben.

Dann wären alle geehrt, die mit Leidenschaft nachdenken. Aber ich vermute, nicht nur die Berufsphilosophen würden dieses Artefaktum ebenfalls als inkonsequente Perversion verdammen.

Herbstgedanken – scheinbar ungeordnet

  1. Ich erfreue mich an Astern; sie dokumentieren im Garten die Farben des Herbstes.
  2. Ich weiß, eher aus dem literarischen Kontext, um Herbstzeitlose (Colchicum autumnale); Gift- und Heilpflanze zugleich.
  3. Vor mir auf meinem Schreibtisch steht das magische Zahlenquadrat aus Dürers Melencolia I aus dem Jahr 1514; wie ein „Wunder“ ergibt jede Summierung den Wert 34.
  4. Das Efeu am Nachbarschuppen ist zunehmend wein- bis blutrot geworden; mein Blick aus dem Fenster bestätigt mir: es ist Herbst. Ein kurzer intensiver Sonnentag, ein zeitiger Sonnenuntergang, eine kühle Nacht – und ich sehne das winterliche, gemütliche Oberbett herbei.

Die Summe dieser Wahrnehmungen und Empfindungen signalisiert mir: Herbstzeit ist Endzeit – und ermöglicht mir, konsequent über Endlichkeit, Ewigkeit und Tod nachzudenken. Daher sitze ich jetzt an meinem Schreibtisch und formuliere die Ergebnisse meiner Reflexion; Nachdenken und Aufschreiben sind meine Passion im Alter und seit jeher meine Leidenschaft – ich weiß, in der Dämmerung beginnt die Eule der Minerva ihren Flug.

Nur wer Endlichkeit und Tod radikal denkt, kann auch Ewigkeit – ein anderes Wort für Erlösung – radikal, also von der Wurzel her denken. Die Hoffnung auf ein besseres Leben „in einer anderen Welt“ ist irrig; chronologisch gesehen ein Unfug.

Um diese Behauptung zu verstehen (und nicht als Produkt meiner herbstlichen Melancholie zu desavouieren), hole ich im Folgenden weit aus:

Ich habe gehört, Rosen können ohne Stacheln gezüchtet werden; ich nenne diese Praxis pervers.

Denn die Rosen ihres Schutzes zu berauben, ist nicht nur unsachgemäß, sondern nimmt ihnen ihr natürliches Sein, ihre Schönheit. Vorsicht im Umgang mit der Natur gehört zur Verantwortung der Menschen als „sterbliche Schöpfer“ (Hannah Arendt). Ich würde es auch ablehnen, Herbstzeitlose ohne Gift zu züchten, denn das ist keine Problemlösung, sondern eine Problemverdrängung durch Manipulation. Abgesehen davon nützt das produzierte Gift den Menschen; es kommt allein auf die Dosis an; die Herbstzeitlose ist auch eine Heilpflanze: sie repräsentiert nicht nur eine Jahreszeit, sondern nutzt auch uns Menschen. Natürlich sind Menschen als autonome Vernunftwesen in der Lage, die Natur zu manipulieren, aber ich werte diese Fähigkeit in diesem Kontext als Missbrauch und nicht als Problemlösung.

Karl R. Popper sah das Leben als einen andauernden Prozess des Problemlösens an, dessen Erkenntnis der Fehlerhaftigkeit den Lernprozess vorantreibt. Aber meiner Überzeugung nach hat die kritische Analyse menschlicher Lernprozesse mehrere Dimensionen: Es geht nicht nur darum, aus eingestandenen Fehlern zu lernen, sondern auch, Gebrauch von Missbrauch zu unterscheiden, und den Gebrauchswert der Dinge zu erkennen und zu schützen, um den der arbeitsteiligen, kapitalistischen Geldwirtschaft geschuldeten Tauschwert zu relativieren; besser noch: in Schach zu halten. Ob der dem Grundgesetz von 1949 entnommene Begriff der „Sozialpflichtigkeit des Eigentums“ dafür eine ausreichende Bewertungsbasis darstellt, wage ich weiterhin zu bezweifeln. Der radikale Unterschied von Privateigentum und gesellschaftlichem „Eigentum“ an Produktionsmitteln (im weiten Sinn) bleibt eine notwendige Basis für Erkenntnis und Handeln.

Ja, lieber Bertolt Brecht, wir leben in finsteren Zeiten, aber das ist weder Zufall, noch Schicksal, sondern wir tragen die Verantwortung für die Zukunft der Menschen und der Natur in der Gegenwart. Und von dieser Verantwortung können wir uns nicht entlasten, sondern müssen sie jetzt und gemeinsam wahrnehmen.

Daher kritisiere ich verschiedene Entlastungsstrategien und Fluchtphantasien grundsätzlich:

  1. Casus non datur: es gibt keinen Zufall, nur unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten, die wir oft falsch (bewusst oder unbewusst) interpretieren.
  2. Unser heutiges anthropozentrisches Weltverständnis (Weltbild) ist irreversibel, ist unüberholbar; weder durch Träume in die Vergangenheit, noch in die Zukunft. Ich wiederhole die Position von Hannah Arendt: wir Menschen sind sterbliche Schöpfer (nicht Geschöpfe!). Das schützt uns nicht grundsätzlich vor Missbrauch, Entfremdung, Verbrechen und Selbstvernichtung, aber wir sind in der Lage, diese Zustände durch Einsicht und Arbeit zu verändern.
  3. Religion wird trotz allen Missbrauchs, allen Aberglaubens und aller Instrumentalisierungen nicht verschwinden, aber die Marxsche Kritik bleibt gültig: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend.“ Die Konsequenz dieses „Doppelcharakters“ (Marx spricht im Anschluss an Hegel von „Aufhebung“) bedeutet für mich die Notwendigkeit der „Übersetzung“ (des Christentums) in eine Strategie konsequenter Menschenliebe.

Daher spreche ich – als aufgeklärter Realist – von der Dynamik des Vorläufigen in der Gegenwart. Ich bin ein Tagträumer des Hier und Jetzt. (Zugegeben, der Begriff des „Tagtraumes“ bedarf der Präzision.) Wir Menschen sind fähig (Kant spricht von der Mündigkeit) und verantwortlich (als Vernunftwesen), die Probleme der Welt (Alltag, Wissenschaft, Schutz der Natur) zu lösen. Vorläufigkeit ist kein Schicksal, ist weder endgültig noch führt sie zwangsläufig in die Verzweiflung. Ihre Dynamik ist erfahrbar (und formulierbar) im Kairos der Erlösung als einer konkreten Utopie.

Herbstzeitlose (2)

Warum Karl R. Poppers Denken zu kurz greift.

Der Herbst ist da; das Efeu am Nachbarschuppen färbt sich wein- bis blutrot. Die Nachttemperatur sinkt nahe an den Gefrierpunkt. Ich benötige eine zusätzliche Decke, denn die Sonne wärmt mich nur noch, wenn sie tagsüber scheint.

Ich sitze am Schreibtisch und denke über die Spielarten des Realismus nach: aufgeregt – unaufgeregt, kritisch – unkritisch; aufgeklärt – naiv. Sind die verschiedenen Sprachspiele eine undurchdringliche Wand oder simulieren sie eine Tür oder versteckt sich in ihnen ein verschlossenes Tor zu einer anderen Wirklichkeit?

Und ich greife auf den (veralteten) Karl R. Popper zurück: wir nähern uns der Wahrheit durch die Methode der Falsifikation – endlos – endlicher Weg bis zum Tod. Für Popper ist „alles Leben Problemlösen“ (1991). Wäre dann das Ende des Lebens, der Tod, die Erlösung? Popper erkennt nicht die Dynamik des Vorläufigen. Differenz und Bezug zwischen Chronos und Kairos sind ihm fremd.

Zwar ist alles Vorläufige endlich und alles Endliche vorläufig, aber im endlichen Augenblick scheint die Utopie auf: zeitlose Ewigkeit – ein anderer Ausdruck für Erlösung. Die Herbstzeitlose erinnert an diese dynamische Erfahrung in der Vergänglichkeit des Augenblicks und verweist, ungreifbar und unbegreifbar, auf die radikale Menschwerdung des Göttlichen. Die messianische Vorstellung der Kenosis (im Sprachspiel der Entäußerung bis in die Hinrichtung und der Erhöhung „am Ende der Zeit“, also jenseits aller chronologischen Fixierung) hat die Struktur der konkreten Utopie, kann – in unserem Weltverständnis – als Erlösung jenseits aller Problemlösungen beschrieben, nicht begriffen werden.

Die konkrete Utopie der Erlösung als „Entäußerung“ (Kenosis)

Im Bedenken und Übersetzen (als Versuch) eines urchristlichen Hymnus, den Paulus, der sich wahrscheinlich in Rom im Gefängnis befindet (um das Jahr 59/60 n.Ch.) und der sich als Sklave des Christus Jesus bezeichnet, in seinem Brief an seine Freunde in Philippi (Makedonien), die er als die Heiligen des Christus Jesus kennzeichnet, zitiert (Phil 2, 5-11):

Dies sinnt bei euch, was auch in Christos Jesus, der, als er in Gestalt Gottes war, nicht für Raub hielt das Sein gleich Gott, sondern sich selbst entäußerte, Gestalt eines Sklaven annehmend, in Gleichheit von Menschen geworden; und im Äußeren erfunden wie ein Mensch, demütigte er sich selbst, geworden gehorsam bis zum Tod, zum Tod aber (des) Kreuzes. Deshalb auch erhöhte ihn Gott und schenkte ihm den Namen, der über jedem Namen (ist), damit im Namen von Jesus jedes Knie sich beuge, (der) Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne: Herr (ist) Jesus Christos zur Herrlichkeit Gottes (des) Vaters.“

(Studienübersetzung Münchener Neues Testament, Düsseldorf 1998, 5.A.)

Übersetzung des Urtextes (Koine-Griechisch) ins Deutsche 2007; Zürcher Bibel:

Niedrigkeit und Erhöhung Christi
Seid so gesinnt, wie es eurem Stand in Christus Jesus entspricht:
Er, der doch von göttlichem Wesen war,
hielt nicht, wie an einer Beute daran fest,
Gott gleich zu sein,
sondern gab es preis
und nahm auf sich das Dasein eines Sklaven,
wurde den Menschen ähnlich,
in seiner Erscheinung wie ein Mensch.
Er erniedrigte sich
und wurde gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz.
Deshalb hat Gott ihn auch über alles erhöht
und ihm den Namen verliehen,
der über allen Namen ist,
damit im Namen Jesu
sich beuge jedes Knie,
all derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind,
und jede Zunge bekenne,
dass Jesus Christus der Herr ist,
zur Ehre Gottes, des Vaters.

Wer war Paulus von Tarsus (Kilikien; heute südl. Türkei)?

P. war, soweit wir heute wissen, ein griechisch gebildeter jüdischer Gelehrter, wie (damals üblich) auch ein ausgebildeter Zeltmacher, Anhänger des messianischen Judentums seiner Zeit, Römischer Bürger, Kenner der hellenistischen Philosophie seiner Zeit, Bekenner des Messias Jesus aus Nazaret, Botschafter und erster Theologe des Urchristentums, das sich „weltweit“ (also im Römischen Reich) entwickelte.

In diesem Hymnus wird auf sehr spezielle und konkrete Weise die „Menschwerdung Gottes“ im und durch den „Messias Jesus“ aus Nazaret verkündet, natürlich unter den Erfahrungen und Bedingungen eines theozentrischen (wie auch durch das römische Reich geprägten) Weltbildes.

Mein Problem und meine Frage ist: wie kann die Botschaft des Paulus, und insbesondere der von ihm zitierte „Hymnus“ sinnvoll unter den Bedingungen der anthropozentrischen Welterfahrung und den bewährten Methoden moderner Problemlösung („als wenn es Gott nicht gäbe“), also im „Zeitalter der Aufklärung und Wissenschaft“ übersetzt und verstanden werden?

Ich setze voraus (was ich anderswo erläutert habe), dass unter den Bedingungen der Aufklärung (Kritik jeder Metaphysik, Religionskritik, Sprachkritik) „Erlösung“ der Welt (als Grenzerfahrung allen vorläufigen Problemlösens) denkbar und erfahrbar, aber nicht begreifbar ist. „Erlösung“ ist daher nur als „Utopie“ beschreibbar.

Ich übersetze den von Paulus zitierten „Kenosis-Hymnus“ in ein heutiges Sprachspiel. Unsere Sprachen kennen nicht nur „logische“ Sprachspiele, die widerspruchsfrei und begreifbar sind, sondern auch Sprachspiele, die die Struktur von „Oxymora“ haben und auf spezielle Weise erfahrbar sind (auch dies habe ich anderswo erläutert).

Ein erster Versuch:

Erlösung als konkrete Utopie

Ein konkreter Mensch
prophezeit das Ende der Zeit (als kairos nicht chronos),
nicht als mächtiger Herrscher (König oder Kaiser oder Führer),
der das Paradies auf Erden verspricht;
sondern als hingerichteter Verbrecher (in der Sicht und Macht der Mächtigen)
Vertrauen erwartet (ohne es erzwingen zu können oder wollen).

Wer dem Gekreuzigten als „Messias“ vertraut (pistis),
der kann befreit und ohne Zwänge denken und handeln,
der muss sich nicht den herrschenden Gesetzen der Macht anpassen,
sondern kann und muss prüfen, was gut und gerecht ist.

In diesem Sinn ist er befreit und bereit,
Gerechtigkeit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit zu realisieren.
Selbst der Tod hat keine Macht mehr über ihn,
obwohl er als Naturwesen sterblich bleibt.

Zum Verhältnis von Macht und Gewalt, Gebrauch und Missbrauch

Unkontrollierte Macht schlägt in Gewalt um. Gewalt realisiert sich in Zerstörung und Selbstzerstörung; in Hass und Vernichtung. Der Gebrauch der Macht kann in Missbrauch umschlagen; das ist der Preis der Freiheit.

Menschen sind Vernunft- und Naturwesen. Sie sind, wie Hannah Arendt sagt: sterbliche Schöpfer.

Sie können ihre Macht gebrauchen und missbrauchen. Sie allein sind verantwortlich für Verbrechen, aber auch für die Durchsetzung der Menschenwürde und Menschenrechte und die Gestaltung gerechter gesellschaftlicher Verhältnisse.

Menschen (als Vernunftwesen) haben die dauernde Verpflichtung und Aufgabe, Menschenwürde für alle und Pflege der Natur durchzusetzen. Als Vernunftwesen sind sie in der Lage und dafür verantwortlich, gerechte Lebensverhältnisse zu realisieren und Missbrauch zu verhindern bzw. einzugrenzen. Menschen sind daher dazu bestimmt (im Sinne der Selbstbestimmung), Probleme zu erkennen und zu lösen; Erlösung ist eine (notwendige) Utopie.

Ein zweiter Versuch:

Jesus Christus Erlöser (Erlösung gedacht in einer und durch eine konkrete Person), diese Botschaft (in Form einer konkreten Utopie) setzt auf Vertrauen; und dieses Vertrauen (pistis) verheißt zeitloses Leben (im Sinne des kairos). Diese konkrete Hoffnung wird existenziell erfahren und ermöglicht, Probleme in der Dynamik des Vorläufigen zu lösen.

Zwar bleiben alle Lösungswege und Ergebnisse bzw. Entscheidungen an Endlichkeit und Irrtum des menschlichen Daseins gebunden, aber in der „Nachfolge Christi“ sind sie weder Zufall noch Schicksal, das in Vernichtung oder Auflösung endet, sondern ermöglichen Korrektur und Umkehr.

Zwar wird die Differenz zwischen Erfahrung der Umkehr oder Korrektur (metanoia) und Erkenntnis des Begriffenen nicht aufgehoben, aber für die Zeit des irdischen Lebens im Lichte der Zusage des ewigen Lebens relativiert.

„Ewiges Leben“ (ein Oxymoron höchster Stufe) ist als Synonym für „Erlösung“ das entscheidende Sprachspiel eines „Christen“; es beschreibt die existenzielle Erfahrung der Zusage der Erlösung (als eines Geschenkes, das weder erkauft noch erzwungen werden kann). Die Macht dieser Zusage gegenüber den Bedingungen begenzten Lebens (als Naturwesen) kann weder aufgehoben, noch kann diese konkrete Utopie in menschlicher Sprache „begriffen“ werden. Aber dieses „Geschenk“ wurde und wird in einer radikalen Form sprachlich beschrieben, die alle theologischen Vorstellungen „sprengt“: Gott ist Liebe (theòs agápe estín).

Im ersten Johannesbrief wird der Gottesbegriff (im Lichte der Messias-Botschaft) entziffert, und die Gottesvorstellungen des theozentrischen Weltbildes werden so radikal zerlegt, dass diese Aussage auch für uns heutige Menschen verstehbar und bedeutsam sein kann: „Gott“ ist ein synsemantischer Ausdruck für konsequente Menschenliebe. So zumindest übersetze ich das Sprachspiel der „johanneischen Schule“.

p.s.

Diese Reflexion bleibt grenzwertig, da ich nicht ausreichend geklärt habe, wie das Verhältnis von begreifenden Sprachspielen und Sprachspielen, die existenzielle Erfahrungen beschreiben, sinnvoll zu klären ist. Aber dieses spezifische Verhältnis versuche ich in der „Formel“ von der Dynamik des Vorläufigen auszusprechen.

Zusammenfassende Übersetzung:

Erlösung in der Dynamik des Vorläufigen

„Jesus Christus Erlöser“ –
diese Botschaft setzt auf Vertrauen
und verheißt zeitloses Leben.

In der Dynamik des Vorläufigen
können Probleme gelöst werden;
gebunden an Irrtum und Endlichkeit.

In der Nachfolge Christi
herrscht weder Zufall noch Schicksal;
sondern Korrektur und Umkehr sind möglich.

Ewiges Leben steht für Erlösung;
Ein Geschenk, das alle frommen Vorstellungen sprengt:
Gott ist Liebe.

Was bedeutet strukturell Erlösung in einer Welt ohne Gott?

Über die Differenz zwischen Chronos und Kairos im messianisch-apokalyptischen Denken und die Konsequenzen in einem anthropozentrischen Weltverständnis: methodischer Atheismus und die Utopie der Erlösung

(A) Gliederung mit Thesen

(0) Analyse der Frage: Ist in einer „Welt ohne Gott“ Erlösung denkbar?
Ich antworte mit JA und kläre im Folgenden fünf Voraussetzungen
meiner Grundsatzfrage:

  • der „erlesene“ Hintergrund,
  • ein Irrtum bisheriger Religionskritik: Religion verschwindet nicht,
  • Aufklärung und Übersetzung sind notwendig,
  • die Differenz von Erfahrung und Erkenntnis,
  • Erlösung denken?

(0.1) Der „erlesene“ Hintergrund: Bonhoeffers Widerstand und Ergebung
und Blochs Atheismus im Christentum
(0.2) Sakralität der Person statt Entzauberung der Welt (Zur Position von
Hans Joas)
Religionen können sowohl Hindernis wie Treibmittel kollektiver
Selbstsakralisierung sein. Auch die „Sakralität der Person“ (Joas) ist
ambivalent gegenüber den jeweiligen Machtverhältnissen. Das
Grundrecht auf Menschenwürde muss daher immer wieder
durchgesetzt und ethisch normiert werden.
(0.3) Theorie und Praxis des Christentums bedürfen der Aufklärung und
die christlich/jüdische Botschaft bedarf der Übersetzung
Hannah Arendt fasst das aufgeklärte Menschenverständnis (die
Würde und Autonomie des Menschen; die conditio humana) unter
der Parole zusammen, dass wir „sterbliche Schöpfer“ sind.
(0.4) Zur Differenz von Erfahrung und Erkenntnis im aufgeklärten Denken
Diese Differenz muss bedacht werden, um Ideologisierung und
Verdinglichung jeder religiösen Weltanschauung zu erkennen. Das
gilt auch für Weltanschauungen, die sich atheistisch als Spielarten
von Materialismus oder Naturalismus präsentieren.

(0.5) Erlösung denken?
Nach der Lektüre von Hans-Jürgen Goertz: Bruchstücke radikaler
Theologie heute. Eine Rechenschaft, Göttingen 2010
Was es bedeutet, christliche Theologie heute radikal zu denken, ohne
dies als „Verschwinden der Religion“ misszuverstehen.

(1) Zur Politischen Theologie des Paulus
Gerd Theißen und Petra von Gemünden formulieren: „Paulus wollte
nicht das Christentum begründen. Sein Christentum war ein antikes
messianisches Reformjudentum. Sein Römerbrief wurde aber zu einem
Testament für die ganze Menschheit.“

(2) Chronologischer Prozess oder kairologische Struktur
Die Erlösung der Welt als chronologischen Prozess zu denken, ist unter
den Bedingungen anthropozentrischer Weltvorstellung sinn-los.
Erlösung im Sinne des Messias-Ereignisses hat eine kairologische
Struktur.

(3) Kairologische Struktur als konkrete Utopie
Die Zusage der Erlösung – als Messias-Ereignis – befreit zu
autonomem, verantwortungsvollem Handeln.

(4) Befreiung als ständige Aufgabe im Sinne der conditio humana
Die Erfahrung der Erlösung – als konkreter Utopie – kann nicht erkauft
oder erzwungen werden; aber ohne Arbeit, Verantwortung und
Empathie kann Befreiung nicht gelebt und Erlösung nicht erfahren
werden.

Exkurs (1): Zum Theorie-Praxis-Verhältnis – Problemfall: Muße

Exkurs (2): Tableau der conditio humana

(5) Zur Differenz von Problemlösen und Erlösung
Die Sterblichkeit und Vorläufigkeit des In-der-Welt-Seins in Frage
zu stellen, ist im Lichte der Hoffnung auf Erlösung möglich. Dabei
muss die Struktur der konkreten Utopie beachtet werden, um nicht in
Metaphysik oder Projektion zurückzufallen.

(6) Revision als Metamorphose
Die Utopie der Erlösung ist ort- und zeitlos, aber kann und muss in
der Zeit wirksam werden (als konkrete Utopie erfahrbar).

(7) Gott: ein synsemantischer Ausdruck für Liebe (agape)
„Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und
Gott bleibt in ihm.“ (1 Joh. 4,16)

(8) Orthopraxis statt Orthodoxie
Die Orthopraxis der uneingeschränkten Menschenliebe verbindet
die Christen mit allen Menschen, die sich für Freiheit, Gleichheit
und Gerechtigkeit engagieren.

(9) Zur Vorgeschichte des Atheismus im Christentum
Die theologia negativa hat Selbstdisziplin zur Konsequenz:
Schweigen statt „Gottesgeplapper“.

(10) Metamorphose statt Restitution
– eine Konsequenz aus der kritischen Aufarbeitung
der historischen Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts

(11) Prüfung und Umkehr (metanoia) statt Anpassung
– das fiktive Bekenntnis des Heinrich Krechting

(12) Lob der Inkonsequenz
Jede gelebte Orthopraxie ist verbindlich und vorläufig zugleich.
Gegen falsche Konsequenz, die in Terror umschlägt.

(13) Messianisches Denken in einer Welt ohne Gott
In einer Welt ohne Gott ist Erlösung denk- und erfahrbar,
aber nicht (aussagenlogisch) begreifbar.

Exkurs (3): Maximen für einen aufgeklärten Menschen im 21. Jahrhundert,
sein Denken und Handeln, seinen Alltag und Beruf betreffend.

(B) Essay

(0) Analyse der Frage: Ist in einer „Welt ohne Gott“ Erlösung denkbar?

Der mögliche Sinn dieser Grundsatzfrage ergibt sich aus Bedeutung und Kontext der gebrauchten Wörter. Sind es Begriffe oder synsemantische Ausdrücke oder Beschreibungen von Tätigkeiten oder Oxymora?
Die Bedeutung der Wörter ist gebunden an ihren Verwendungszusammenhang und den Deutungs-Horizont, der sich aus der jeweiligen zeitbedingten Weltanschauung, dem Weltbild ergibt. *) Anm.1

Daher scheint die Antwort auf die eingangs gestellte Frage einerseits einfach: NEIN, denn „Erlösung“ ist nur in einem theozentrischen Weltbild
denkbar. In einem anthropozentrischen Weltbild – in einer Welt ohne Gottesvorstellung (welcher Art auch immer) – ist „Erlösung“ (was immer damit gemeint ist) nicht denkbar (wobei „denkbar“ der Definition bedarf).

Das spontane NEIN impliziert eine bestimmte Weltvorstellung. Auf den ersten Blick ist in einem anthropozentrischen Weltverständnis, also in einer „Welt ohne Gott“ die Frage nach Erlösung sinnlos.

Andererseits erwarten die Leserin oder der Leser, dass ich mit JA antworte; sonst würde ich mich nicht mit dieser Frage beschäftigen und meine Antwort aufschreiben. Mein JA bedarf nicht nur der Begründung, sondern zuvor der begrifflichen wie biographischen Explikation:

  • der Hintergrund meiner Argumentation;
  • das Verschwinden der Religion: ein religionskritischer Irrtum;
  • die Notwendigkeit aufzuklären und zu übersetzen;
  • die Differenz von Erfahrung und Erkenntnis;
  • Erlösung denken.

Der philosophisch geschulte Leser (die Leserin) wird bereits jetzt erkennen, dass die Klärung dieser fünf Vorabklärungen zumindest ansatzweise die Begründung der Antwort auf die Gesamtfrage dieses Essays impliziert.

So ist es im Feld der Metareflexion: Wer über die Voraussetzungen des Denkens nachdenkt, denkt bereits nach; also bewegt sich in den Strukturen der Metareflexion. Dennoch ist es sinnvoll, zunächst die fünf Voraussetzungen meiner Grundsatzfrage zu klären; so ist es möglich, meine Argumentationsstruktur offenzulegen, damit sie nachvollzogen und beurteilt werden kann.. Argumente und ihren Strukturzusammenhang offenzulegen, vermeidet logische Denkfehler und die unreflektierte Weitergabe von Vorurteilen.
Es kommt darauf an, Vorurteile nicht zu leugnen (denn dann reduziert sich der Wahrheitsanspruch auf personenbezogene Glaubwürdigkeit), sondern, Vorurteile zu erkennen und ihre Wirkungen zu prüfen.

(0.1) Der „erlesene“ Hintergrund: Bonhoeffers Widerstand und Ergebung und Blochs Atheismus im Christentum.

Während meines Studiums (1968 in Freiburg/Breisgau) habe ich Ernst Blochs Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs gelesen (Band 14 der Werkausgabe) und (in der Paperback-Ausgabe des Suhrkamp-Verlages) durchgearbeitet. Und – wie es meine Unart ist – habe ich mit schwarzer Tusche den Text kommentiert. Auf dem Titelblatt zitiere ich aus Goethes Faust: „Jeder sonnt sich heute so gern. Sie feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind selber auferstanden.“ Und ich gebe einen Hinweis: „Hiob, der erste Marxist“. Ich zitiere aus dem entsprechenden 24. Kapitel „Grenze der Geduld, Hiob oder Exodus nicht in, sondern aus der Jachwevorstellung selber, Schärfe des Messianismus“ (Seite 165f):
„Der Auszug aus caesarischer Gottesvorstellung, wie ihn Hiob begann, den Menschen über jede Art von Tyrannei setzend, über die fragwürdige einer Gerechtigkeit von oben, auch über die neu-mythische einer Naturmajestät an sich: dieser Auszug ist nicht auch einer aus dem Auszug selbst. Konträr: gerade der Rebell besitzt Gottvertrauen, ohne an Gott zu glauben; das heißt, er hat Vertrauen auf den spezifischen Jachwe des Exodus aus Ägypten, auch wenn jede mythologische Verdinglichung durchschaut wurde, jeder Herrenreflex nach oben ursächlich aufhört.“
Und zwei Sätze weiter heißt es lapidar: „…doch Hiob ist gerade fromm, indem er nicht glaubt“. Am unteren Rand verweise ich auf „Camus – Revolte – Sartre“ und stelle die Frage: „…oder ist der Vater Jesu im Zeugnis Jesu bereits entideologisiert“?
Beim heutigen Durchlesen bleibt die Hiob-Analyse Blochs zutreffender als die verkürzende und einseitig zugespitzte Formulierung, dass nur ein Atheist ein guter Christ sein kann und ein Christ ein guter Atheist. Aber Bloch liebt auch die Zuspitzung und ich denke über meine damalige Begeisterung dieses 1969 neuen Buches von Ernst Bloch nach; dass Hiob fromm ist, indem er nicht glaubt, das überzeugt mich (in ihrer Dialektik) auch heute.

Wenn ich recht erinnere, kannte ich 1969 bereits das Siebenstern-Taschenbuch Nr.1: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hrsg.v. Eberhard Bethge. Seine „nicht-religiöse Interpretation der biblischen Begriffe“ (S.176) beschäftigte mich und meine Freundinnen und Freunde. Als Konsequenz der „weltlichen Interpretation“ (S.178) formuliert Bonhoeffer in dem selben Gefängnisbrief vom 16. Juli 1944:
„Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden; ebenso aber als philosophische und religiöse Arbeitshypothese (Feuerbach!). Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit diese Arbeitshypothese fallen zu lassen bzw. sie so weitgehend wie irgend möglich auszuschalten.“ (S.177, zitiert nach der 5.A., München und Hamburg 1968)
Und zwei Absätze weiter heißt es, dass wir nicht redlich sein können, ohne zu erkennen, dass wir in der Welt leben müssen – „etsi deus non daretur“.
Bonhoeffer sieht in dieser Erkenntnis den „entscheidenden Unterschied“ zu allen Religionen. Und er spitzt seine Erkenntnis zu in die Formel eines unaufhebbaren Widerspruchs, eines Oxymoron: „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.“ (S.178)

Zu beachten ist bei der Aussage von Bonhoeffer das „als ob“ (etsi deus non daretur). Die Frage nach der Existenz Gottes wird gleichsam eingeklammert, da in einem anthropologischen Weltverständnis (in einer „Welt ohne Gott“) nicht beantwortbar; als „moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese abgeschafft“; in meinem Sprachgebrauch sinn-los.

(0.2) Sakralität der Person statt Entzauberung der Welt (Zur Position von Hans Joas)

Auch in modernen (nachindustriellen) Gesellschaften verschwindet Religion nicht; insofern ist das Konzept von der Entzauberung der Welt durch den historischen Prozess der Säkularisierung zu hinterfragen. Hans Joas setzt sich daher zu Recht mit der geschichtsphilosophischen Konstruktion der „Entzauberung der Welt“ bei Max Weber auseinander.

Hier ist Aufklärung notwendig: nicht mit dem irrigen, empirisch falsifizierten Ziel oder der vermeintlichen Hoffnung, Religion zum Verschwinden zu bringen; sei es, als selbstlaufender oder angetriebener Prozess – sondern mit der notwendigen Reflexion, religiöse Aussagen und Strukturen auf ihren Sinngehalt und ihre historische Entwicklung zu prüfen und gegebenenfalls in nichtreligiöse Sprache wie auch partizipative, demokratische Strukturen zu übersetzen und menschenverbindend und -verbindlich („universalethisch“) zu dokumentieren. *) Anm.2

Die berechtigte Kritik an Max Webers Entzauberungsthese (in „Wissenschaft als Beruf“ 1919), wie sie von Hans Joas enwickelt und veröffentlicht wurde (neuestens: Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017), verstehe ich nicht als Rehabilitation unaufgeklärter Religion, sondern verweist auf die fortbestehenden Funktionen von religiöser Theorie und Praxis in modernen, bürgerlichen Gesellschaften. Übrigens gelten diese aus der dreifachen Kritik der Aufklärung gewonnenen Funktionen oft auch für die heute vorherrschenden atheistischen Weltanschauungen des Materialismus und Naturalismus. Ich erinnere an die Kritik der Erkenntnis überhaupt (Kritik jeder Metaphysik), Kritik der Religion (Projektionstheorie) und die moderne Sprachkritik (Bedeutungsanalyse und Struktur von Sprachspielen).

Wenn ich Hans Joas recht verstehe, erkennt auch er die ambivalente Funktion von Religion im Verhältnis zu Macht und Gewalt. Religionen (aus achsenzeitlichen Traditionen) können „sowohl Hindernis wie Treibmittel kollektiver Selbstsakralisierung“ sein (Die Macht des Heiligen, S. 485). Joas bescheinigt allen religiösen und säkularen Traditionen ein „beträchtliches Maß an Flexibilität“, „was ihre Anpassung an Machtverhältnisse betrifft“ (ebd.). „Es gilt der „Hegelschen Versuchung“ teleologischer Geschichtsdeutung zu entgehen, ohne dabei zu vergessen, dass die Menschheit eine einzige Geschichte hat.“ (ebd. ohne Fußnoten)

Ich frage mich daher, ob das Bekenntnis zur „Sakralität der Person“ (so Joas), also, wie ich es verstehe, ob das Postulat und die Unterstellung der Menschenwürde für alle, auch zukünftige Menschen in dieser Welt ein quasi religiöser Grundwert ist. Und was bedeutet diese „Flexibilität“ (Joas) oder pointierter formuliert: diese Ambivalenz? Hans Joas gibt in seiner Schrift „Sind die Menschenrechte westlich?“ (München 2015) eine selbstkritische Antwort. *) Anm.3

Ich ziehe aus diesen Überlegungen folgende Konsequenz: Das Grundrecht auf Menschenwürde und die praktische Umsetzung der Menschenrechte insgesamt müssen immer wieder neu durchgesetzt und als Normen verankert werden. Das meint auch Hannah Arendt, wenn sie davon spricht, dass die Welt täglich neu „eingerenkt“ werden muss. (Vortrag 1958, Die Krise der Erziehung) Und ich formuliere noch grundsätzlicher: So wie das christliche Kreuz als Symbol der Erlösung durch den hingerichteten (radikal „entmachteten“) Messias Jesus auch als Zeichen der Macht und Gewalt missbraucht wurde und wird, so ist auch die Würde jedes Menschen (als universaler Grundwert) in der Gefahr, als Legitimation verbrecherischer Praxis, selbst wenn Staaten sich darauf berufen, missbraucht zu werden.

(03) Theorie und Praxis des Christentums bedürfen der Aufklärung und die christlich/jüdische Botschaft bedarf der Übersetzung

Ich plädiere für die Notwendigkeit der Erkenntnis-, Religions- und Sprachkritik auf der Basis des anthropozentrischen Weltbildes. Sie trifft und betrifft auch die Theorie und Praxis der christlichen Kirchen. Ich beschränke mich auf die Geschichte und Gegenwart des Christentums, weil ich mich biografisch und wissenschaftlich in dieser „Religion“ auskenne.

Uneingeschränktes Kritisches Denken und methodischer Zweifel müssen nicht in die Verzweiflung führen, sondern können die Autonomie des Menschen offenlegen, denn die Menschen sind für ihr Denken, Planen und Handeln veranwortlich. Diese Grundannahme – und Postulat zugleich – bedarf der differenzierten Erörterung und Analyse, um Missverständnisse zu vermeiden. Aber sie erzwingt die Manifestation und Durchsetzung der Würde des Menschen durch die Menschenrechte und seine Partizipation an der Macht durch Begrenzung und Demokratisierung.

Hannah Arendt fasst dieses Menschenverständnis (die conditio humana) unter der Parole zusammen, dass wir sterbliche Schöpfer sind. Demgegenüber entlastet Religion – in Form von Überzeugung und (ritueller) Praxis – auf der Basis theozentrischer Weltauffassung – zwar von der Gesamtverantwortung der Menschen für ihre Erde, aber sie legitimiert zugleich Heteronomie und unkontrollierte, undemokratische Machtausübung.

Meine Auffassung ist: die modernen Gesellschaften und die heutigen Wissenschaften wie auch das zeitgemäße Rechtssystem verlangen, um Erkenntnisfortschritt wie demokratische Partizipation und Chancengleichheit zu sichern, den methodischen Atheismus wie erfahrungswissenschaftlich geprüftes Wissen und erfolgreiche Theorien; aber Erkenntnis und Erkenntnisfortschritt sind von existenzieller Erfahrung zu unterscheiden.

Meine Einschätzung ist: Religion, selbst in ihrer unaufgeklärten Form und in ihren religiös-rituellen Praktiken, verschwindet nicht; gerade deshalb bedarf sie der aufklärenden Analyse, um in der Welt des 21. Jahrhunderts glaubwürdig zu bleiben. Das jüdisch-christliche Konzept der Exodus-Erfahrung schafft diese Möglichkeit, hat es doch den Prozess der (historischen) Aufklärung mitbewirkt; auch wenn die Vorstellung einer „evolutionären Aufhebung“ von Religion in eine säkulare Gesellschaft defizitär ist und diese Vorstellung der Korrektur bedarf. *) Anm.4

(04) Zur Differenz von Erkenntnis und Erfahrung im aufgeklärten Denken

Problemlösen geschieht sachgemäß (metatheoretisch bedenkend) in der „Dynamik des Vorläufigen“. Die jeweiligen Lösungen in den gegenwärtigen Problemlösungsprozessen sind im doppelten Sinn vorläufig: provisorisch und antizipativ zugleich. Diese Struktur meine ich, wenn ich von der Differenz von existenzieller Erfahrung (in der Dimension des kairos) und methodischer Erkenntnis (in der Dimension des chronos) spreche.

Probleme müssen und können wir alltäglich (wie auch in vorgedachten und konstruierten Labors) lösen und müssen sie lösen, um zu leben und zu überleben. Aber erlösen können wir uns nicht. Menschliches Leben ist endlich und vergänglich, auch wenn wir es zeitlich verlängern können und uns (unser Gehirn) in zunehmendem Maß entlasten können und müssen, um unsere Lebensbedingungen als Menschen weltweit zu erhalten und zu verbessern. Von der weltweiten „globalen“ Verbesserung sind wir (die Menschheit) noch meilenweit entfernt.

Auch können wir uns selbst zerstören, aber diese individuelle wie gesellschaftliche Möglichkeit als Macht über den Tod oder als Erlösung zu er- und verklären, ist Selbstbetrug. Erlösung bleibt eine Utopie; auch und gerade im anthropozentrischen Weltverständnis. Soviel können wir durch Nachdenk-Arbeit erkennen: Erlösung ist keine Machtfrage, sondern eine konkrete Utopie. Aus der Sicht des Christentums ist diese konkret erzählte Utopie ein Oxymoron höchster Stufe: ein hingerichteter, absolut machtloser Mensch als Messias/Christus ist erfahrbar im Wort als Beginn und Grund der Erlösung der Welt. Die Wahrheit dieser erzählten Aktion ist existenziell erfahrbar, aber nicht beweisbar und begreifbar. Diese Differenz zwischen Erfahrung und Erkenntnis kann und muss bedacht werden, um Ideologisierung und Verdinglichung jeder religiösen Theorie und Praxis zu erkennen; dies gilt auch für Weltanschauungen, die sich atheistisch als Spielarten von Materialismus oder Naturalismus präsentieren. *) Anm.5

(05) Erlösung denken?
(Nach der Lektüre von Hans-Jürgen Goertz: Bruchstücke
radikaler Theologie heute. Eine Rechenschaft, Göttingen 2010)

Sinn-gebung aus dem Geist des Christentums negiert alle Formen von Hierarchie und Herrschaft. Das vermeintliche Spannungsfeld von Autonomie und Heteronomie ist eine sinn-lose Beschreibung des menschlichen Handlungsfeldes. Basis menschlichen Handelns ist Autonomie – als Verwirklichung von Selbständigkeit und Eigenverantwortung – uneingeschränkt als Prinzip, aber beschränkt in der Umsetzung (unterschiedliche Maße der Realisierung) und Durchsetzung (Möglichkeiten der Willensfreiheit). Die Differenz ist: setze ich Autonomie als Machtstruktur durch oder erfahre ich sie als Befreiung.

In christlicher Sinngebung ist für mich „Gott-denken“ Freiheit realisieren
(in Überwindung von Anpassung an den status quo und als Verwirklichung von Selbständigkeit im Sinne einer Metamorphose). Muss dieser Prozess des Mündigwerdens nicht als Überwindung jeder Form von Religion (als Rückbindung an Konvention, an bestehende Machtstrukturen und theozentrische Weltvorstellung) gedacht werden, ohne dass Religion verschwindet? Der Christ ist „religionslos“, wenn und insoweit er die „Freiheit der Kinder Gottes“ lebt.

Im Rahmen von Religion in der bürgerlichen Gesellschaft und in der Sprache und Vorstellung eines theozentrischen Weltverständnisses kann meiner Überzeugung nach für uns heute „Erlösung“ nicht sinn-voll gedacht und expliziert werden. Aber zu bedenken bleibt: Christliche Kirchen – verstanden als Zuspitzung der jüdischen Orthodoxie und in Abgrenzung und Konkurrenz zum Judentum des 2. nachchristlichen Jahrhunderts – sind trotz allen Fehlverhaltens und trotz allen Rückfalls in religiöse Herrschaftspraxis „Traditionsträger“ der Botschaft von der Erlösung – in der Erzählung vom Exodus und der Menschwerdung Gottes im Messias Jesus aus Nazaret. *) Anm. 5a

H.-J. Goertz ist auf dem Weg, diese Radikalität des Christentums zu denken und auszusprechen; aber ich meine, er ist nicht konsequent genug. Christliche Theologie heute radikal zu denken, bedeutet, sie als im theozentrischen Weltbild argumentierende Theologie „aufzuheben“, ohne diese Notwendigkeit als „Verschwinden der Religion“ misszuverstehen.

Christliche Sinngebung – in einem anthropozentrischen Weltverständnis – denkt das Verhältnis von Gott (als einem synsemantischen Ausdruck) und Mensch nicht als Rückbindung oder als Abhängigkeit (Heteronomie), sondern als Utopie, die nicht erzwungen werden kann, sondern geschenkt ist. Mein Konzept menschlichen Handelns und Verhaltens muss daher (für einen Christenmenschen) das Grundproblem erklären, wie Freiheit und Mündigkeit so umgesetzt werden können, dass sie nicht in neue/alte Abhängigkeiten umschlagen und neue/alte Herrschaftsverhältnisse produzieren oder stabilisieren. Diese Übersetzung in nichtreligiöse Sprache ist notwendig, um Erlösung heute denken zu können

(1) Zur Politischen Theologie des Paulus *) Anm.6

Es ist nicht leicht, die ein wenig chaotisch wirkende Vorlesung des Jacob Taubes zur “Politischen Theologie des Paulus“ in der vorliegenden Buchform (München 1993) zu verstehen. Taubes hat die Vorträge im Februar 1987 vor einer kleinen Gruppe von Zuhörern an der Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg gehalten, wenige Wochen vor seinem Tod. Die schriftliche Fassung wurde von Aleida Assmann nach Tonbandaufzeichnungen redigiert.

Taubes wagt eine „Dekonstruktion“ der paulinischen Briefe nicht nur als jüdischer Gelehrter und Hochschullehrer für Philosophie, sondern versteht Paulus als Schriftgelehrten des messianischen Judentums seiner Zeit. Dabei unterläuft er die christlichen Interpretationen späterer Zeit, die aus Saul/Paulus aus Tarsus einen „christlichen“ Theologen gemacht haben, obwohl es die Selbst- bzw. Fremdbezeichnung „Christ“ zu seiner Missionszeit im Römischen Reich noch nicht gab. Auf der Basis seiner Messias-Erfahrung des gekreuzigten Jesus aus Nazaret verallgemeinert Paulus die jüdische Erlösungsvorstellung für alle Menschen (ob beschnitten oder unbeschnitten), scheitert mit dieser Botschaft in seinem eigenen Volk und öffnet nach längerer Auseinandersetzung mit den jüdischen Vertreterinnen und Vertretern der „Messias-Jesus-Bewegung“ in Jerusalem die judenchristlichen Gemeinden für alle Menschen, die auf den gekreuzigten Jesus aus Nazaret als den erwarteten Messias vertrauen und sich taufen lassen.

Gerd Theißen und Petra von Gemünden haben in ihrer 2016 veröffentlichten Exegese des Römerbriefes (mit dem Untertitel: „Rechenschaft eines Reformators“) Paulus „als einen scheiternden Reformator“ dargestellt. In der Zusammenfassung am Ende ihrer Untersuchung heißt es: „Paulus hinterlässt mit dem Römerbrief einen Rechenschaftsbericht über sein Reformprogramm, das nachträglich zu seinem Testament wurde. Paulus wollte nicht das Christentum begründen. Sein Christentum war ein antikes messianisches Reformjudentum. Sein Römerbrief wurde aber zu einem Testament für die ganze Menschheit.“

Taubes greift in seinen Überlegungen auf Spinozas „Tractatus Theologico-politicus aus dem Jahr 1670 und das Theologisch-politische Fragment von Walter Benjamin (1920/21) sowie den letzten Abschnitt (Nr.153) „Zum Ende“ der Minima Moralia von Theodor W. Adorno (Dritter Teil, 1946/47) zurück. Dabei gibt er dem Fragment von Benjamin den Vorzug, da er die Position Adornos als ästhetisierend kritisiert . Aus einer messianischen Perspektive mag das verständlich sein, da Adorno davon spricht, „alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten“. Demgegenüber geht Benjamin von einer Tatsachenbehauptung aus: „Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft“.

(2) Chronologischer Prozess oder kairologische Struktur

Mich interessiert die Struktur der Argumentation Benjamins. Er fährt in seinem Fragment fort: „ Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden. Historisch gesehen ist es nicht Ziel, sondern Ende.“

Benjamin, wenn ich ihn recht verstehe, trennt also strikt die messianische Vorstellung vom Reiche Gottes von – wie er formuliert – „der Ordnung des Profanen“. Apokalyptische Vorstellungen in einem theozentrischen Weltbild markieren das Ziel geschichtlicher Entwicklung, sei es als Weltgericht und oder Gottesherrschaft. Die Erlösung der Welt, inklusive der Menschheit, wird als ein chronologischer Prozess gedacht. Unter den Bedingungen anthropozentrischer Weltvorstellung, also in einer Welt ohne Gottesvorstellung,, ist dieser Gedanke sinn-los. Erlösung im Sinne des Messias-Ereignisses hat eine kairologische Struktur, die „quer“ zu historischen Entwicklungen mit ihren chronologischen Bestimmungen wirkt. In der Vorstellung des messianischen Judentums wird daher – in einem längeren Erfahrungsprozess – jede chronologische Fixierung der kommenden Gottesherrschaft verworfen und die existenzielle „Nähe“ erfahren und bezeugt. Die zunächst vorhandene (chronologische)„Naherwartung“ der Freunde des hingerichteten Jesus aus Nazaret erweist sich als Missverständnis. Zwar bleibt in den zeitlich späteren „Glaubensbekenntnissen“ der etablierten christlichen Gemeinden (der Kirche) die Erwartung des „Endgerichtes“ und des „kommenden Reiches“ als einprägsames Bild erhalten, aber jede zeitliche Fixierung wird abgelehnt und führt immer wieder in die Sektenbildung.

(3) Kairologische Struktur als konkrete Utopie

Ich interpretiere unter den Bedingungen heutiger Welterfahrung die kairologische Struktur des Messias-Ereignisses als konkrete Utopie: Obwohl die Sterblichkeit ein andauerndes Kriterium für Mensch und Natur in dieser Welt bleibt (und die individuelle Unsterblichkeit eine höchst problematische Illusion), hat der „Tod keine Macht mehr“; dies nennen Christen – in der sprachlichen Form des Oxymoron – „ewiges Leben“.

Benjamin versucht in seinem „Theologisch-politischen Fragment“ das Verhältnis von politischer Ordnung und messianischem Reich durch die Differenzierung der Kategorie des „Glücks“ zu klären. Ich bevorzuge die Kategorie der „Befreiung“. Sie bedeutet autonomes, verantwortungsvolles Handeln unter der „Zusage der Erlösung“.

Paulus aus Tarsus deutet als Schriftgelehrter des messianischen Judentums seiner Zeit und in Abgrenzung und Ablehnung des Unsterblichkeitsgedankens der hellenistischen Philosophie seine Messias/Christus-Erfahrung im ersten Korintherbrief (Kapitel 7) folgendermaßen: „Die Zeit ist zusammengedrängt.“ Und er rät den Mitgliedern seiner Gemeinde: „Und die sich Dinge dieser Welt zunutze machen, sollen sie sich zunutze machen, als nutzen sie sie nicht. Denn die Gestalt (im Griechischen: das Schema) dieser Welt vergeht.“ (Übersetzung der Zürcher Bibel). Und Paulus schließt seinen Rat mit dem Wunsch: „Ich will aber, dass ihr sorglos seid.“

Berger/Nord übersetzen diese Perikope meiner Meinung nach nicht stringent genug; gerade weil sie daran interessiert sind, verständlich zu sein:
„Und wer die Welt in Gebrauch nimmt, soll das so tun, als dürfte er sie nicht verbrauchen, da doch die sichtbare Gestalt dieser Welt sehr schnell vergeht. Ich will nur, dass ihr euch keine überflüssigen Sorgen macht.“
(Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Frankfurt/Leipzig 1999)

Wenn ich – in anderem Zusammenhang – davon spreche, in der Dynamik des Vorläufigen zu denken und zu handeln, dann kann ich diese Verhaltensweise – den Ratschlag des Paulus im Hinterkopf – explizieren:
Handle verantwortungsvoll, aber sorglos. Bezüglich des „Weltverbrauchs“, also im Umgang mit den Ressourcen dieser Welt beachte eine gewisse Vorsicht; halte den Verbrauch „in der Schwebe“; arbeite nicht zerstörend – mit einer scheinbar paradoxen Begründung: denn das „Schema dieser Welt“ vergeht. *) Anm.7

(4) Befreiung als ständige Aufgabe im Sinne der conditio humana

Ich fokussiere meine Überlegung auf unser heutiges, zeit-gemäßes Weltbild. Die paulinische Argumentation mag zunächst noch durch die chronologisch (miss-)verstandene Parusie geprägt sein; in unserem anthropozentrischen Weltverständnis bedeutet die Messias-Erwartung, die unerlöste Welt steht unter der Zusage ihrer Erlösung durch den Messias (Christus), konkret durch den gekreuzigten Jesus aus Nazaret. Diese konkrete Utopie gibt denen, die auf Jesus Christus (als den Messias in der Vorstellungswelt des messianischen Judentums) vertrauen, also den sog. „Christen“ die Möglichkeit, sorglos, befreit die Welt zu „gebrauchen“.

Sie leben in dieser Welt, aber sie stehen nicht mehr unter ihren Zwängen, nicht mehr unter dem „Schema“ dieser Welt; denn sie bezeugen in „utopischer“ Sprache: der Tod hat keine Herrschaft mehr. Die basileia tou theou ist kein zeitlich zu erwartendes Zeitalter, sondern die gemeinsame Erfahrung, gegen Tod und Vergänglichkeit erlöst zu werden. Diese Erfahrung kann nicht gegen Leistung erkauft oder erzwungen werden, aber ohne Arbeit, Verantwortung und Empathie können Befreiung, Sinn und Erlösung nicht erfahren werden.

Und ich füge polemisch hinzu: Befreiung ist nicht Müßiggang. Der Müßiggänger bleibt ein Resultat vorchristlicher wie vordemokratischer Herrschaftsideologie. Das Ideal der Muße (otium) wie das Lob der Faulheit (Lafargue) bedürfen einer speziellen Ideologiekritik. Das „Einrenken der Welt“ (im Sinne von Hannah Arendt) bleibt unsere ständige Aufgabe, ist der Sinn der conditio humana. *) Anm. 8

Exkurs (1)

Zum Theorie-Praxis-Verhältnis – Problemfall: Muße (otium)

In Analogie eines allseitig bekannten Ausspruches des jungen Marx formuliere ich:
Die Philosophen als Müßiggänger haben die WELT nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie als verantwortlich handelnde Menschen zu verändern.
Zum verantwortlichen Handeln gehört aber notwendigerweise das Nachdenken, die Reflexion. Oder im Bild gesprochen:
Was nützt der morgendliche Hahnenschrei, wenn in der Nacht zuvor die Eule der Minerva ihren Flug nicht absolviert hat? In der zeitlichen Korrelation von Aktion und Reflexion steckt u.a. das zu lösende Problem. Oder nochmals im Tierbild ausgedrückt: wie kommen Tagesaktivist und Nachtschwärmer produktiv zusammen? *) Anm. 9

Es geht mir darum, eine Theorie des Verhaltens und Handelns der Menschen im zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext zu konzipieren und zu skizzieren, um das Verhältnis von Reflexion und Aktion präzise und wirksam zu bestimmen. Das Theorie-Praxis-Verhältnis „dialektisch“ zu nennen, klärt noch nichts; es bedarf der erfahrungsbasierten Analyse und der Offenlegung (Transparenz) der einzelnen Arbeitsschritte, ihrer Muster, Normen und Maximen.

Diese Maximen (Handlungsanleitungen) „fallen nicht vom Himmel“, sondern sind im historisch-gesellschaftlichen Kontext an das jeweilige Weltverständnis rückgekoppelt, das sich im jeweiligen WELTBILD (zusammengefasst) ausdrückt.
Bezogen auf die Summe der jeweiligen Denk- und Handlungsweisen spreche ich von der conditio humana, zeit- und gesellschaftsgebunden und zumeist in unterschiedlichen Mischformen auftretend; zusammengestellt in einem aktuellen Tableau der conditio humana.

Die Aufforderung, als verantwortlich handelnde Menschen die Welt zu verändern, hat mehrere notwendige Voraussetzungen oder Bedingungen:

  • Aufklärung (i.S. Kants): Überwindung der selbstverschuldeten Unmündigkeit.
  • Nonkonformität (i.d.S. „Entweltlichung“).
  • Aufhebung der Arbeitsteilung in „Freie“ und „Sklaven“.
  • Demokratie i.S.d. Partizipation aller.
  • Problematisierung der Begriffe „Muße“ (otium) und „Müßiggang“.

Exkurs (2)

Ich habe in meinem 2017 veröffentlichten „Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten“ das aktuelle „Tableau der conditio humana“ zusammengefasst:

Der Mensch im 21. Jahrhundert in einer Welt ohne GOTT

(5) Zur Differenz von Problemlösen und Erlösung

Den metaphorischen Begriff „Einrenken“ von Hannah Arendt übersetze ich mit „Problemlösen“. Problemlösen (problem solving) hat eine chronologische Struktur, ist menschliche Arbeit (am Erhalt der Welt) und damit „Anstrengung“. Menschliche Arbeit ist vorläufig, korrigier- und revidierbar, zielorientiert. Sie ist schöpferische Tätigkeit sterblicher Menschen, die Vernunftwesen und Naturwesen zugleich sind. *) Anm. 10

Demgegenüber kann Erlösung sinnvoller Weise nur in einer kairologischen Struktur gedacht werden; sie ist Geschenk, endgültig, unbegreifbar, aber existentiell erfahrbar, in Oxymora beschreibbar („ewiges Leben“); ist verstehbar als konkrete Utopie, erfahrbar und ortlos zugleich.

Der Prozess des Problemlösens kann im Folgenden im Detail als Verhältnis von Weg und Ziel erörtert werden. Im Nachdenken über die Struktur des Problemlösens wird die Dynamik des Vorläufigen erkennbar. Die Menschen sind – im Sinne von Hannah Arendt – „sterbliche Schöpfer“. Dass sie „Geschöpfe Gottes“ oder „Produkte der Naturentwicklung“ sind, ist, ideologiekritisch analysiert, eine Projektion. Dass sie „sterbliche Schöpfer“ sind, kann vom Standpunkt der Hoffnung auf Erlösung erkannt und erfahren werden. Adorno spricht daher davon, dass Erkenntnis dieser Art nur vom „Lichte der Erlösung“ her möglich ist.

In meinem Verständnis erzwingt der Atheismus als Methode keine atheistische Weltanschauung (wie z.B. im Naturalismus oder in den Spielarten des Materialismus vorgestellt). Weltbilder dieser Art sind nur (insgeheime) Spiegelbilder des theozentrischen Weltbildes; daher sind naturalistische wie materialistische Welterklärungen Eng- und Irreführungen. Die Sterblichkeit und Vorläufigkeit des In-der-Welt-Seins in Frage zu stellen, ist im Lichte der Hoffnung auf Erlösung möglich. Dabei muss die Struktur der konkreten Utopie beachtet werden, um nicht in Metaphysik oder Projektion zurückzufallen.

Problemlösungsprozesse – wie auch vollständig durchgeführte Lernhandlungen – haben einen konkret zu analysierenden Ausgangspunkt A und eine überprüfbare Problemlösung, das Ziel Z. Der Weg von A nach Z muss rekonstruierbar sein. Die Behauptung, der Weg sei schon das Ziel, ist unsinnig und leugnet die notwendige Stringenz des Weges von A nach Z. Sie ist eine manchmal verständliche, aus der Resignation geborene Schutzbehauptung.

Das bedeutet nicht, dass es keine Um- und Irrwege geben dürfe. Im Gegenteil: jede Stringenz im Weg von A nach Z ist dem Erfolg aus Erfahrung geschuldet oder inkludiert als methodische Stringenz (im Sinne logischer Deduktionen) Idealisierung. So ist die Mathematik – philosophisch oder wissenschaftstheoretisch gesehen – eine idealisierte Sprache; daher in den Erfahrungswissenschaften (der Natur oder Gesellschaft) universal einsetzbar und verstehbar.

(6) Revision als Metamorphose

Zu erfolgreichen Problemlösungsprozessen gehört das bewusste Einplanen möglicher Revision. Umkehr und Neuanfang sind keine Notlösungen, sondern nützen einer wirksamen Problemlösung, die natürlich von der Art des Problembereiches abhängig ist. Ich erinnere nur an die empirische Wahlforschung und die Eindeutigkeit der gefundenen Wahlprognosen. Die Präzision der Vorhersagen ist z.B. abhängig von dem vermuteten Potential an Stammwählern; und dieses Potential hat sich parteispezifisch entscheidend geändert bzw. verringert.

Umwege, Irrwege und Sackgassen zu erkennen und die jeweiligen Gründe zu ermitteln, um zukünftige Fehler möglichst zu vermeiden, hat eine systematische Bedeutung. Ich spreche von der Methode des Mäanderns; so wie ein großer Fluss mäandert, ohne sein Ziel, das offene Meer zu vergessen. Im menschlichen Verhalten spielen die bewusste Umkehr und Metamorphose, die metanoia eine entscheidende Rolle. *) Anm. 11

Der wesentliche Unterschied zwischen der Notwendigkeit, Probleme zu lösen, und der Möglichkeit, die Welt und die in ihr lebenden Menschen zu erlösen, bleibt erhalten. Die Utopie ist ortlos, aber in der Zeit als konkrete Utopie erfahrbar. Des Weiteren ist die Utopie der Erlösung zeitlos, aber kann und muss in der Zeit wirksam werden. Das Gleiche gilt für die Ortlosigkeit der Utopie der Erlösung. Die konkrete Utopie ist nicht nur existenziell erfahrbar, sondern sie kann und muss in der „Welt“, also in Geschichte und Gesellschaft wirksam werden.

Diesen Zusammenhang will ich im Folgenden an zwei wesentlichen Aus-sagen der historischen Jesus-Bewegung verdeutlichen und sie vor Missverständnissen in unserer heutigen aufgeklärten Welterfahrung (zusammengefasst im anthropozentrischen Weltbild, aktualisiert in meinem „Tableau der conditio humana“ – Der Mensch im 21. Jahrhundert in einer Welt ohne Gott“) schützen. Daher müssen diese beiden Grundaussagen aus dem jüdisch-messianischen Kontext verstanden und in unser aufgeklärtes Weltverständnis übersetzt werden: die Verknüpfung, Verschränkung, Gleichsetzung von Gottesliebe und Menschenliebe (GOTT/theos ist agape) und die Ankunft des Gottesreiches (der Gottesherrschaft, der basileia tou theou).

(7) Gott: ein synsemantischer Ausdruck für Liebe (agape)

Die synoptische Tradition der Reich-Gottes-Botschaft reflektiert bereits das Problem eines chronologischen (Miss-)Verständnisses der beginnenden Gottesherrschaft. Der Redakteur des Markus-Evangeliums spricht (in 1,14) vom kairos, der erfüllt ist und bindet das Nahekommen des Reiches Gottes an Umkehr (metanoia) und Vertrauen (pistis). Und im Lukas-Evangelium (17,21) wird das Gottesreich „mitten unter Euch“ oder in der Übertragung von Berger/Nord: „unsichtbar ist Gottes Herrschaft bereits unter euch “ verortet und jede zeitliche Fixierung des Erscheinen des Menschensohns gegenüber den Fragen der Pharisäer abgelehnt.

Der zeitlich früher verfasste erste Johannesbrief (um 55 n. Chr.), der aus einem anderen Kontext als die synoptischen Schriften stammt, radikalisiert das jüdische Gottesverständnis durch die (sprachkritisch gesprochen) synsemantische Erklärung des Gottesbegriffes: „GOTT ist Liebe/agape“ (1 Joh 4, 16: „Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm“.) Alle anderen Vorstellungen und kultischen Praktiken sind, so warnt der Schreiber des Johannesbriefes seine jüdischen Freunde in der Nachfolge Jesu, sind Götzendienst.

(8) Orthopraxis statt Orthodoxie

Der im Römischen Reich des ersten Jahrhunderts n. Chr. erhobene Vorwurf, dass die Anhänger des Jesus aus Nazaret „Atheisten“ seien, ist insofern berechtigt, als alle Gottesvorstellungen, die nicht von der „Menschwerdung Gottes“ in Jesus als dem Messias ausgehen, abgelehnt werden, da sie, so formuliere ich, der konkreten Utopie, dass GOTT Liebe ist, widersprechen. Daraus folgt zwingend, dass die Mitglieder der Jesus-Bewegung „Täter des Wortes“ sind (so der Jakobusbrief, der ebenfalls aus den fünfziger Jahren stammt). Es geht also zu Beginn der Jesus-Bewegung – nach Ende der Auseinandersetzung um Beschneidung und Speisegesetze – um Orthopraxis, nicht um Orthodoxie. Im Zentrum dieser Orthopraxis steht die uneingeschränkte Menschenliebe, gleich ob einer von Hause aus orthodoxer Jude, Hellene, römischer Bürger oder Sklave ist. Im Römischen Reich des ersten Jahrhunderts (nach Christi Geburt) führte diese Überzeugung und Praxis oftmals zu Verspottung (der gekreuzigte Esel) und zu Verurteilung und Hinrichtung. In meiner Überzeugung als aufgeklärter Mensch des 21. Jahrhunderts (der lebt, denkt und arbeitet, „als wenn es GOTT nicht gäbe“ (D.Bonhoeffer), also als methodischer Atheist) ist diese radikale Menschenliebe (agape) Ausdruck der Zusage von „Erlösung“. Diese Zusage ist nicht erzwingbar – weder kultisch noch institutionell, aber sie ist als Befreiung erfahrbar und in Taten der Menschenliebe realisierbar. Sie bedarf der wiederkehrenden (gemeinsamen) Erinnerung an den hingerichteten Jesus als Messias und realisiert sich im Engagement für Gleichheit aller Menschen und Gerechtigkeit.

Diese Orthopraxis verbindet (uns) Christen mit allen Menschen, die sich für Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit engagieren. Auf dieser Basis ist auch das Gespräch mit (nachdenkenden) Atheisten möglich und notwendig. Bei diesen Gesprächen ist zu beachten, dass „Liebe“ (als radikale Sympathie) im menschlichen Leben, das endlich ist, nur vorläufig erfahrbar und „wie in einem Spiegel“ erkennbar ist. Ich nenne diese Erkenntnis in Anlehnung an eine Überlegung des Paulus „aenigmatisch“.

Daher ist die Erfahrung, wie die Praxis der Liebe nur als Oxymoron beschreibbar, um Erlösung (als synsemantischen Ausdruck größter Komplexität – ich sage auch als „Grenzbegriff des In-der-Welt-Seins“) aussprechen, ausdrücken zu können. Aber diese „Beschreibungen“, diese „Bekenntnisse“ stehen meiner Überzeugung nach nicht im Widerspruch zum methodischen Atheismus, wie ich ihn verstehe.

(9) Zur Vorgeschichte des Atheismus im Christentum *) Anm. 12

Der „Atheismus im Christentum“ (vgl. Ernst Bloch) hat eine Vorgeschichte, die – verkürzt gefasst – mit dem biblischen Verbot, den Namen Gottes zu nennen, beginnt, und sich in wiederkehrenden Versuchen der „negativen Theologie“ dokumentiert. Wenn und da „Gott Liebe ist“, schweige ich zunächst, um keine Missverständnisse zu produzieren. Am „Gottesgeplapper“ beteilige ich mich bewusst nicht. Diese Selbstdisziplin sollte nachdenkende Atheisten und aufgeklärte Christen miteinander verbinden. Nur durch Erfahrung und annähernde Beschreibung (in poetischer oder mystischer Sprache) der radikalen Liebe ist erhoffbar und erfahrbar, dass der Tod keine Herrschaft mehr ausübt („And death shall have no dominion“, Dylan Thomas; vgl. Röm 6,9); schon das Hohe Lied ahnte von dieser Erfahrung: „denn stark wie der Tod ist die Liebe, hart wie das Totenreich die Leidenschaft“.

(10) Metamorphose statt Restitution

Diese Überlegungen sind – historisch wie strukturell gesehen – noch im Vorfeld der „Verkehrung“ des messianisch-prophetischen Christentums in eine „imperial-kolonisierende“ Christenheit, wie sie von Urs Eigenmann skizziert und zur Kritik der bestehenden Verhältnisse (vor allem in der römisch-katholischen Kirche – benutzt wird). Dabei ist mir wichtig, dass eine unreflektierte Restitution des nahen Gottesreiches bzw. der urchristlichen Lebenspraxis als heutige Alternative für gesellschaftliche Veränderung vermieden wird.

Die radikalen Reformatoren des 16. Jahrhunderts, insbesondere verschiedene Gruppen der Täuferbewegung, haben mit dieser Strategie der „Restitution“ ihr Verhalten gerechtfertigt und versucht, ein „Neues Jerusalem“ (z.B. Mitte des 16. Jahrhunderts in Münster in Westfalen) zu errichten. Zwar haben Staat (Das Römische Reich) und sowohl die römisch-katholische Kirche wie die entstandenen Kirchen der Reformation in der Folgezeit mit Erfolg versucht, diese Restitutionsbewegungen zu diskriminieren , zu verfolgen und tot zu schweigen, aber selbstkritisch muss festgestellt werden, dass ihre Praxis und ihre Hoffnungen (Utopien) gescheitert sind – nicht nur durch die Gewalt ihrer Gegner, sondern auch ihre Strategien und Konzepte dienten oft der Legitimation, führten in die Irre und – in einigen Gruppen des Täufertums – in die Menschenverachtung. Daher in verkürzter Form meine „Parole“: Metamorphose statt Restitution. *) Anm. 13

In meiner fiktiven Dokumentation gibt der ehemalige Kanzler des Täufer-reiches Heinrich Krechting, der durch besondere Umstände die brutale Eroberung Münsters 1535 überlebte und sich in der Grafschaft Gödens am Schwarzen Brack (dem heutigen Jadebusen an der Nordsee) zum Calvinisten wandelte (Metamorphose!) eine selbstkritische Einschätzung des (melchioritischen) Täufertums und der Restitutionsstrategie. Sein Freund Dr. Gerhard Westerburg schreibt in Erinnerung an das Karfreitagsgespräch und die Osterpredigt 1550 (von Albert Hardenberg) in seine Kladde:
„Es geht nicht um Restitution, also die Wiederherstellung des Reiches Gottes auf Erden, gegebenenfalls mit Gewalt und unter Ausschluss und Vernichtung der ungläubigen; auch geht es nicht nur um Reformation, als wenn es auf eine bestimmte Form des Leben und Handelns ankäme, sondern um Metamorphose, das bedeutet, sich nicht den herrschenden Verhältnissen und Vorstellungen anzupassen – denn diese Vorstellungen sind die Vorstellungen der Herrschenden. Dieses (jetzige) Verhalten ist unser vernünftiger Gottesdienst, wie Paulus im Römerbrief sagt. Der Freie Wille ist kein Naturgesetz (in Erinnerung und in Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam), sondern die Erlösungstat Christi befreit uns, für die Menschen zu handeln; das ist der Wille Gottes. Insofern ist die Wahrheit der Auferstehung Christi untödtlich (so Balthasar Hubmeier), weil sie uns befreit, gerecht und menschenwürdig zu handeln.“ (Der zweifache Exodus, Seite 82)

(11) Prüfung und Umkehr (metanoia) statt Anpassung

Die Aussage des Paulus in seinem Römerbrief, in dem er sein Scheitern als Reformator des messianischen Judentums seiner Zeit rechtfertigt, bedarf natürlich der Übersetzung in unsere Welterfahrung; ich habe das 2013 in meinem Buch „Die radikale Umkehr des Heinrich Krechting am Schwarzen Brack“ für Röm 12, 1u.2 versucht (Seite 15):
„Ich bitte Euch, Schwestern und Brüder, befreit von Zwängen und Ängsten, leidenschaftlich und verantwortlich zu handeln: Das ist unser sinnvolles Engagement. Passt euch nicht den herrschenden gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen an, sondern verändert euch, indem ihr nach-denkt und prüft, was gut für alle Menschen auf dieser Welt ist und was uns dem Traum vom freien, gerechten und guten Leben näher bringt.“

Diese Aufforderung zum Nachdenken und Prüfen verlangt eine umfassen-de Analyse der kapitalistischen Produktionsweise weltweit und eine ideologiekritische Aufarbeitung des Doppelcharakters der Waren in einer all-umfassenden Warengesellschaft, um offenzulegen, dass und wie die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse sich ändern müssen, damit sich Gleichheit und Gerechtigkeit durchsetzen. *) Anm. 14

(12) Lob der Inkonsequenz *) Anm. 15

Alle historisch bedeutsamen und gesellschaftlich relevanten Projekte, von denen in „Großen Erzählungen“ berichtet und oftmals aus unterschiedlichen Interessenlagen „verklärt“ wird, sind in der Gefahr „umzuschlagen“, sich in ihr Gegenteil zu verkehren. Ich erinnere an die Verkehrung der Französischen Revolution in ein inhumanes .Terrorsystem oder grundsätzlich an die Möglichkeit des Umschlags von Aufklärung in Totalitarismus (Stichwort: Dialektik der Aufklärung).

Leszek Kolakowski hat 1958 in seinem „Lob der Inkonsequenz“ formuliert:
„Konsequent sind Soldaten, die ihren gerechten Kampf solange fortsetzen, bis auf der Gegenseite der letzte Soldat gefallen ist; konsequent ist der gesetzestreue Bürger, der nicht vor Denunziation zurückschreckt und voller Selbstachtung mit der Geheimpolizei zusammenarbeitet; konsequent sind auch die Gläubigen, die Scheiterhaufen für Häretiker errichten, da in ihren Augen die himmlische Seligkeit unendlich kostbarer ist als das irdische Wohlergehen. Versuchen Menschen völlig konsequent zu sein, ihre Überzeugung von der absoluten Überlegenheit eines Wertes konsequent in die Tat umzusetzen, dann verwandelt sich die Welt in Schlachtfelder. Dies geschieht auch immer wieder – doch bleibt die Menschheit am Leben, da es stets auch die Inkonsequenten gibt, die Unsicheren, die Wankelmütigen.“

Ich ergänze und lobe die Zweifelnden. Zugegeben, auch Inkonsequenz kann in Opportunismus umschlagen. Ich beharre daher auf der Differenz von Orthopraxis und Orthodoxie: jede Orthopraxis (in meinem Verständnis) ist verbindlich und vorläufig zugleich, weil und wenn sie an der Menschenwürde sich orientiert – oder utopisch formuliert – darauf hofft, dass die Entfremdung der menschlichen Lebensverhältnisse aufgehoben werden kann; dass Erlösung möglich ist – oder in dem eindrucksvollen Oxymoron formuliert: dass der Tod seine Herrschaft verliert.

(13) Messianisches Denken in einer Welt ohne Gott

Religion hat keine Wahrheit, die allgemein begreifbar ist. Der Sinn des Religiösen (als Rückbindung), insbesondere der religiösen Sprache, ist weltbildgebunden. Der Sinn der Rede von GOTT ist in einem theozentrischen Weltbild verstehbar. Demgegenüber ist im anthropozentrischen Weltverständnis die „Rede von GOTT“ als synsemantischer Ausdruck bestimmbar und übersetzbar. Sie bedeutet die Utopie von der „Erlösung der Welt“ und der auf ihr heute und zukünftig lebenden wie bisher gestorbenen Menschen. Diese Utopie ist – als konkrete Utopie – existenziell – erfahrbar und in Oxymora beschreibbar.

Religiöse Denkformen sind an das theozentrische Weltbild gebunden; zumindest in den sog. „monotheistischen“ Religionen. Im Zentrum jüdisch/christlicher Religionsvorstellungen stehen die Exodus-Erzählung und die Messias-Erwartung. Dieses messianische Denken ist in ein anthropozentrisches Weltbild und die zugehörige aufgeklärte Sprache übersetzbar. In einer „Welt ohne Gott“ ist Erlösung denk- und erfahrbar, wenn auch – im sprachkritischen und aussagenlogischem Sinn – nicht begreifbar.

Aufgeklärtes Denken, das die Stadien der Erkenntniskritik (Metaphysik, Religion, Sprache) durchlaufen hat und durchläuft, ist vorläufig, nicht endgültig. Denn die Struktur des Vorläufigen ist dynamisch, da sich Erfahrung bzw. Erwartung und Erkenntnis unterscheiden, auch wenn sie aufeinander bezogen sind. Diese Differenz/dieser Bezug ist beschreibbar und als Utopie konkret erfahrbar. Diese Differenz, diesen Bezug zu leugnen, ist ein Rückfall in die ideologische (und damit reduktive) Position des Materialismus oder Naturalismus. Die Vorgabe und Struktur des Denkens und Handelns „als wenn es Gott nicht gäbe“ nenne ich den methodischen Atheismus und unterscheide ihn konsequent von Ideologien, die instrumentalisieren und/oder legitimieren. *) Anm.(16)

Exkurs (3)

Maximen für einen aufgeklärten Menschen im 21. Jahrhundert,
sein Denken und Handeln, seinen Alltag und Beruf betreffend

Auf die Frage, an welchen Maximen ich mich in meinem Leben, das endlich ist, orientiere, antworte ich wie folgt:
(vorausgesetzt, ich habe zuvor geklärt, was ich unter einer Maxime und unter Orientierung verstehe.)

Zuvor differenziere ich „mein Leben“ in „Alltag“ und „Beruf“ und nehme seine „Endlichkeit“, seine Sterblichkeit vorläufig als eine selbstverständliche Tatsache (des Menschen als Naturwesen, als „sterblicher Schöpfer“ im Sinne von H. Arendt) hin.
Ich nenne zwei Maximen und trenne vorläufig zwischen Alltag und Beruf:

(1) Für den Alltag erinnere ich an Kants kategorischen Imperativ und wähle eine Fassung aus der Einleitung der „Metaphysik der Sitten“:
Handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann. … Jede Maxime, die sich nicht zu einem allgemeinen Gesetz qualifiziert, ist der Moral zuwider.
Ich übersetze in mein Sprachspiel:
Handle verantwortlich unter den Möglichkeiten der Autonomie/der Mündigkeit/des Selbstdenkens, indem du die Würde aller Menschen achtest.

(2) Im Beruf als Lehrer/Philosoph formuliere ich:
Lehre/unterrichte und denke nach/reflektiere, als wenn es GOTT nicht gäbe (im Sinne Bonhoeffers und Blochs). Ich umfasse diese Maxime mit dem Begriff des „methodischen Atheismus“ und spezifiziere „nachdenken“, „aneignen“ und „vermitteln“ zusammenfassend als Problemlösen – ohne Rückgriff auf eine metaphysische/religiöse Instanz. In meinem Sprachspiel lautet daher die zweite Maxime:
Löse Probleme (unterschiedlicher Weite und Tiefe) so, als wenn es GOTT nicht gäbe.

(2a) Alles Problemlösen ist fehlerhaft und vorläufig. Ohne „trial and error“, ohne Zweifel sind Erkenntnis und Erkenntnisfortschritt nicht möglich. Der (methodisch notwendige) Zweifel kann in Verzweiflung umschlagen. Erlösung (als Utopie) bleibt ein Grenzbegriff; ein Oxymoron.

(2b) Weg wie Ziel des Lernens und Lehrens sind das Realisieren von „vollständigen Lernhandlungen“. Soweit stimme ich der konstruktivistischen Lerntheorie zu; denn vorzeitige Abbrüche wie unvollständige Inszenierungen führen zu keinen Problemlösungen.

(2c) Wie kann der (existenzielle) Umschlag von Zweifel in Verzweiflung (und damit als Konsequenz das vorzeitige Ende von Reflexion und Lernprozess) vermieden werden? Menschen (als Vernunft- und Naturwesen) bedürfen der „Hoffnung auf Erlösung“, vorstellbar und erfahrbar als Utopie.

(2d) Als Christ vertraue ich auf die Erlösung der Welt (mich eingeschlossen); wahrgenommen und expliziert als „konkrete Utopie“ im Messias-Ereignis des Jesus aus Nazaret. Dieser Vertrauensvorschuss (daher „konkrete Utopie“) drückt sich individuell und existenziell im Verb „credere“ aus, um das missverständliche Verb „Glauben“ (das auch „putare“ bedeuten kann) zu vermeiden.
Dieser Vertrauensvorschuss erlaubt mir (im Kreis der Mitvertrauenden), Jesus aus Nazaret als Christus, als Erlöser zu bekennen; erfahrbar wie realisierbar ist diese konkrete Utopie als Menschenliebe (agape).

Anmerkungen

(1) Zur Sprachkritik und zur Begriffsbildung vgl. die Einleitung und die entsprechenden Stichwörter in meinem Taschenwörterbuch „Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten, Münster/Westf.2017
Zur Struktur und zur Veränderung der Weltbilder vgl. Günter Dux, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Wiesbaden 2017 (4. Auflage)

(2) Hans Joas bietet in seinem neuesten Buch “Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung“, Frankfurt/Main 2017 eine ausführliche Analyse religionsgeschichtlicher Konzeptionen und hinterfragt mit guten Gründen die These vom zunehmenden „Bedeutungsverlust der Religion“ in der modernen Gesellschaft. Auf der Basis der Analyse des Verhältnisses der Geschichte der Macht und der Geschichte der Religion widerlegt er die teleologische Geschichtsauffassung vom Verschwinden der Religion bzw. ihrer „Aufhebung“ in der säkularen Gesellschaft. Dem stimme ich zu, vermisse aber eine religionskritische Analyse religiöser Theorie und Praxis in modernen Gesellschaften, die nicht nur die „Anpassungsfunktion“ gegenüber den Machtverhältnissen begreift, sondern auch die Ideologieproduktion.

(3) Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011; vgl. Bettina Hollstein/Matthias Jung/Wolfgang Knöbl (Hrsg.), Handlung und Erfahrung. Das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, Frankfurt u.a. 2011; Hermann-Josef Große Kracht (Hg.): Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Sozioöogie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas, Bielefeld 2014

(4) Ob und wie weit Judentum und Christentum den Säkularisierungsprozess verursacht haben, ist in der Literatur und der Wissenschaft umstritten; vgl. Philipp W. Hildmann/Johann Christian Koecke (Hrsg.), Christentum und politische Liberalität. Zu den religiösen Wurzeln säkularer Demokratie, Frankfurt am Main/Bern/Bruxelles 2017

(5) Grundsätzlich und umfassend zum Thema „Ideologiekritik“ vgl. Kurt Lenk (Hrsg.): Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Darmstadt/Neuwied 1978 (8. erweiterte Auflage); Zur Entfaltung der Differenz von Erfahrung und Erkenntnis unter dem Stichwort „Vorläufigkeit“ siehe: Jürgen Schmitter: Die Vorläufigkeit theoretischer Arbeit. Zum Verhältnis von Wissenschaftskritik und Hochschuldidaktik, Osnabrück 1980 (Univ.Diss.)

(5a) Ich verweise zum Problemzusammenhang auf Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015 und für das NT auf den Begriff der „Dahingabe“ als der radikalen Form der Interpretation des Kreuzestodes Jesu: Wiard Popkes: Christus Traditus. Eine Untersuchung zum Begriff der Dahingabe im Neuen Testament, Zürich/Stuttgart 1967. Die hier nicht zu lösende Frage ist: wie kann die radikale Kenosis-Theologie des NT – im Rahmen eines noch theozentrischen Weltverständnisses (Popkes nennt sie „Dahingabe-Christologie“) in ein anthropologisches Weltverständnis übersetzt werden? Schon diese Frage zu denken ist die strukturelle Möglichkeit für einen heutigen Christen, Erlösung als konkrete Utopie zu erfahren.

(6) Zur Differenz von Problemlösen und Erlösung: Ich fasse den Ausdruck „Problemlösen“ (problem solving) sehr allgemein; er soll wissenschaftliche, gesellschaftliche und alltägliche Arbeit umfassen. Expliziert habe ich diese „Methode“ innerhalb eines anthropozentrischen Weltverständnisses an den notwendigen Elementen eines erfolgreichen Lernprozesses (Stichwort: Vollständige Lernhandlung von der sachgemäßen Problemstellung bis zur Evaluation); siehe: Jürgen Schmitter: Grenzen und Möglichkeiten der Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung im System Schule, in: G.Bartsch/R.Gaßmann (Hrsg.): Generation Alkopops, Freiburg im Breisgau 2010.

(7) Wenn ich von der „Dynamik des Vorläufigen“ spreche – den Begriff habe ich von R. Schutz übernommen (Roger Schutz: Dynamik des Vorläufigen, Güterloh 1967; Original: „Dynamique du provisoire“ in: Le Presses de Taizé, 1965), dann auf der Basis des messianischen Denkens, nicht des Konstruktivismus (siehe: Siegfried J. Schmidt: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit, Weilerswist 2010); zum missverständlichen Begriff der „Entweltlichung“ siehe das entsprechende Stichwort in meinem „Vademecum“ und: Paul Josef Cordes/Manfred Lütz: Benedikts Vermächnis, Franziskus Auftrag. Entweltlichung – Eine Streitschrift, Freiburg/Basel/Wien 2013.

(8) Vgl. mein Nachwort „Mit der Torheit leben und sterben?“ in: Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten, Münster 2017

(9) Zum Verhältnis von Reflexion und Aktion verweise ich aus marxistischer Sicht auf: Wolfgang Harich: Zur Kritik der revolutionären Ungeduld. Eine Abrechung mit dem alten und neuen Anarchismus, in: ders.: Schriften zur Anarchie, Marburg 2014

(10) Vgl. auch: Dirk Baecker/Alexander Kluge: Vom Nutzen ungelöster Probleme, Berlin 2003

(11) Ich verweise auf das Stichwort „Orthopraxis“ in meinem „Vademecum“ (2017) und die Reflexion „Zum Verhältnis von Weg und Ziel“ in: „Die radikale Umkehr“ (2013).

(12) Vgl. die entsprechenden Stichworte in meinem „Vademecum“ (2017)

(13) Ich verweise auf die Rechtfertigungsrede des Heinrich Krechting in: „Der zweifache Exodus“ (2017).

(14) Zur Aktualität der Marxschen Konzeption der Kritik der politischen Ökonomie vgl. Michael Quante: Der unversöhnte Marx, Münster 2018 und Thomas Steinfeld: Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx, Frankfurt 2018

(15) Ich verweise nochmals auf mein Stichwort „Orthopraxis“ in meinem „Vademecum“ (2017).

(16) Damit kritisiere und ergänze ich die Aussagen von Siegfried J. Schmidt in seinem Buch: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit. Prozessualität als Argumentationsstrategie, Weilerswist 2010, und verweise auf Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, München 1951/1968, und Roger Schutz: Dynamik des Vorläufigen (Dynamique de provisoire, 1965), Gütersloh 1967; sowie: Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott, Festschrift für Stéphane Mosès, Berlin 2000. Zu meinen metatheoretischen und wissenschaftsdidaktischen Überlegungen siehe: Die Vorläufigkeit theoretischer Arbeit. Zum Verhältnis von Wissenschaftskritik und Hochschuldidaktik, Osnabrück 1980 (Diss.)

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Bettina Hollstein/Matthias Jung/ Wolfgang Knöbl (Hrsg.): Handlung und Erfahrung. Das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, Frankfurt am Main u.a. 2011

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Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott, Festschrift für Stéphane Mosès, Berlin 2000

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Siegfried J. Schmidt: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit. Prozessualität als Argumentationsstrategie, Weilerswist 2010

Jürgen Schmitter: Die Vorläufigkeit theoretischer Arbeit. Zum Verhältnis von Wissenschafskritik und Hochschuldidktik, Osnabrück 1980 (Univ.Diss.)

Jürgen Schmitter, Grenzen und Möglichkeiten der Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung im System Schule, in: G. Bartsch/R. Gaßmann (Hrsg.): Generation Alkopops. Jugendliche zwischen Marketing, Medien und Milieu, Freiburg im Breisgau 2010.

Jürgen Schmitter, Die radikale Umkehr des Heinrich Krechting am Schwarzen Brack, Episoden, Münster/Westf. 2013

Jürgen Schmitter, Der zweifache Exodus des Heinrich Krechting aus Schöppingen im Münsterland zu Beginn der Reformation. Eine fiktive Dokumentation, Münster 2017

Jürgen Schmitter, Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten. Ein Taschenwörterbuch, Münster 2017

Roger Schutz: Dynamik des Vorläufigen, Gütersloh 1967

Spinoza: Tractatus Theologico-politicus, Opera/Werke Bd. 1, Darmstadt 1989

Thomas Steinfeld: Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx, Frankfurt am Main 2018

Jacob Taubes: Die politische Theologie des Paulus, München 1993

Jacob Taubes: Apokalypse und Politik. Aufsätze, Kritiken und kleinere Schriften, hrsg.v. H. Kopp-Oberstebrink u. M. Treml, Paderborn 2017

Gerd Theißen/Petra von Gemünden: Der Römerbrief. Rechenschaft eines Reformators, Göttingen 2016

Gerd Theißen: Der Anwalt des Paulus, Gütersloh 2017

Stichwort: Messianisches Denken in einer Welt ohne Gott

Religion hat keine Wahrheit, die allgemein begreifbar ist (im Sinne aussagenlogisch geprüfter und sprachkritisch bewährter Begriffe und Sprachspiele). Der Sinn des Religiösen (als Rückbindung), insbesondere der religiösen Sprache, ist weltbildgebunden. Der Sinn der Rede von GOTT ist in einem theozentrischen Weltbild verstehbar. Demgegenüber ist im anthropozentrischen Weltverständnis die „Rede von GOTT“ einzig als synsemantischer Ausdruck bestimmbar und übersetzbar. Sie verweist auf die Utopie von der „Erlösung der Welt“ und der auf ihr heute und zukünftig lebenden wie bisher gestorbenen Menschen. Diese Utopie ist – als konkrete Utopie – existenziell – erfahrbar und in Oxymora beschreibbar bzw. erzählbar.
Religiöse Denkformen sind an das theozentrische Weltbild gebunden; zumindest in den sog. „monotheistischen“ Religionen. Im Zentrum jüdisch/christlicher Religionsvorstellungen stehen die Exodus-Erzählung und die Messias-Erwartung. Dieses messianische Denken ist – so meine These – in ein anthropozentrisches Weltbild und die zugehörige aufgeklärte Sprache übersetzbar. In einer „Welt ohne Gott“ ist Erlösung denk- und erfahrbar, wenn auch – im sprachkritischen und aussagenlogischen Sinn – nicht begreifbar.

Aufgeklärtes Denken, das die Stadien der Erkenntniskritik (Kritik der Metaphysik, der Religion und der Sprache) durchlaufen hat und durchläuft, ist vorläufig, nicht endgültig. Denn die Struktur des Vorläufigen ist dynamisch, da sich Erfahrung bzw. Erwartung und Erkenntnis unterscheiden, auch wenn sie aufeinander bezogen sind. Diese Differenz/dieser Bezug ist beschreibbar/erzählbar und als Utopie konkret erfahrbar. Diese Differenz, diesen Bezug zu leugnen, ist ein Rückfall in die ideologische (und damit reduktive) Position des Materialismus oder Naturalismus. Die Vorgabe und Struktur des Denkens und Handelns „als wenn es Gott nicht gäbe“ nenne ich den methodischen Atheismus und unterscheide ihn konsequent von Ideologien, die instrumentalisieren und/oder legitimieren.

p.s.
Damit kritisiere und ergänze ich die Aussagen von Siegfried J. Schmidt in seinem Buch: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit. Prozessualität als Argumentationsstrategie, Weilerswist 2010, und verweise auf Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, München 1951/1968, und Roger Schutz: Dynamik des Vorläufigen (Dynamique de provisoire, 1965), Gütersloh 1967; sowie: Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott, Festschrift für Stéphane Mosès, Berlin 2000. Zu meinen metatheoretischen und wissenschaftsdidaktischen Überlegungen siehe: Die Vorläufigkeit theoretischer Arbeit. Zum Verhältnis von Wissenschaftskritik und Hochschuldidaktik, Osnabrück 1980 (Diss.).

Ausführlich erläutert habe ich meine Überzeugung in meinem 2017 erschienen „Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten. Ein Taschenwörterbuch“ (Münster in Westf.) und neuestens argumentativ zusammengefasst in meinem (noch unveröffentlichten) Manuskript: „Was bedeutet strukturell Erlösung in einer Welt ohne Gott? (Über die Differenz zwischen Chronos und Kairos im messianisch-apokalyptischen Denken und die Konsequenzen in einem anthropozentrischen Weltverständnis: methodischer Atheismus und die Utopie der Erlösung), Metelen (März 2018, 35 S.).

Vgl. zur Gesamtproblematik das Stichwort „Messianismus“ I und II von Ton Veerkamp und Hans-Ernst Schiller in Band 9/I (Maschinerie bis Mitbestimmung) des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus (HKWM), Hamburg 2018 (Sp. 657-682) und speziell im selben Band das Stichwort „materialistische Bibellektüre“ von Kuno Füssel (Sp. 252-266).