Wann und wo ist ein Buch überholt?

Biografische Episode während der Pandemie mit reflexivem Einschub zum Raum-Begriff

Wann und wo ist ein Buch überholt?

Wer gelernt hat, über lange Zeit in seinem Arbeitszimmer an seinem Schreibtisch zu sitzen und zu schreiben, dem ist – zusätzlich als Bibliophiler – die aktuelle Nötigung zur Häuslichkeit in Zeiten der Pandemie nicht ungewohnt, wenn auch grenzwertig.

Ich arbeite, informiere mich online und schreibe in meinem Gehäus; so nennt und zeichnet Albrecht Dürer die Studierstube des Hieronymus. Ich empfinde diesen Zustand als gewohnt, wenn auch nicht gesundheitsfördernd. Kein Engel über mir und kein Löwe vor mir schützen mich; obwohl: auch ein dämmernder Löwe ist wachsam und ein schwebender Engel stiftet himmlischen Duft.

Statt Löwe und Engel schützen mich – wie Barrikaden – Bücherreihen, Bücher- und Manuskriptstapel (wenn auch auf fragile Weise) und Bücherregale voller Bücher. Ein explizierter Bibliophiler ist eben ein implizierter Biblioman.

Meine Bücher verströmen nicht nur einen unterscheidbaren Geruch (ich kann Bücher riechen und dieses Phänomen druck- und klebetechnisch erklären), sondern sie haben eine unterschiedliche visuelle Gestalt; selbst Paperbacks und Taschenbücher sind (u.a. dank der edition suhrkamp) individuell unterscheid- und erkennbar.

Seit meiner Jugend – und den regelmäßigen Besuchen in der Stadtbücherei – habe ich die Fähigkeit, Bücher an Gestalt und Farbe wiederzuerkennen, auch wenn die Reihenfolge in den Bücherregalen eher chaotisch ist. Das alles ist eine Frage der Geduld.

Von Zeit zu Zeit frische ich meine visuelle Fähigkeit auf, indem ich ein Buch aus dem Regal nehme, es (insgeheim) berieche und mich schnell wieder an Autor und Inhalt erinnere; selbst wenn ich das Buch nur flüchtig gelesen oder durchblättert habe.

Soweit die Hinweise zu meinem praktischen Alltag. Grenzwertig ist dieser durch Pandemie erzwungene Alltag, weil die wöchentliche Flucht vom Dorf in die Stadt, in ihre Buchgeschäfte und Cafés unmöglich und verboten ist, so dass nur Routinegang mit Ausweis und Gesichtsmaske in die Universitätsbibliothek bleibt. Das ist schon frustrierend; beinahe hätte ich „kastrierend“ geschrieben.

Eine Universitätsstadt voller Bücher ist ohne geöffnete Cafés und Bistros und ohne Kommunikation halbtot; auch die geschlossenen Museen (wie die menschenleeren Kirchen) verlieren ihre Attraktion. Doch zurück in mein Gehäus.

Gestern griff ich, um meine Wahrnehmung zu prüfen und die Fähigkeit wiederzuerkennen zu stärken, zu einem kleinen, gebundenen Buch des Kölner DuMont Bücherverlages aus dem Jahr 2010: Alexander Marguier: Das Lexikon der Gefahren. Marguier, westdeutscher Journalist, hat in diesem Buch Anekdoten zur Gefährdung von A wie Alkohol bis Z wie Zusatzstoffe in Lebensmitteln gesammelt und Gottfried Müller hat sie jeweils präzise illustriert.

Bevor ich anhand dieses in Leinen gebundenen Taschenbuches „für die Hosentasche“ die Frage beantworte, ob es „überholte“ Erzählungen in „veralteten“ Büchern gibt, muss ich klären, ob und was es bedeutet, im Gehäus zu sitzen und zu schreiben; in der Tradition von Hieronymus (in der Phantasie Dürers), von Luther (auf der Wartburg) oder Hans Blumenberg (in seiner Münsteraner Wohnung in literarischer Verarbeitung durch Sibylle Lewitscharoff). Wie beeinflusst der Raum des Erzählers, Übersetzers, des Aufschreibers die Erzählung und die Geschichte ihrer Überlieferung – auch ohne Engel oder Löwe?

Der Raumbegriff ist ein Konstruktion des menschlichen Bewusstseins. Räume prägen unsere alltäglich Wahrnehmung, wie auch unser Erzählen im Gespräch. Naturwissenschaftlich gesehen ist der Raumbegriff sekundär, also abgeleitet. Grundlegend ist heute nicht mehr der physikalische Raum (der sog. Klassischen Physik), primär ist der Feldbegriff. Durch seine

Differenzierung können verschiedene Räume (bis hin zum Schwarzen Loch) eindeutig begriffen und beschrieben werden.

Erfahrungswissenschaftlich (raumsoziologisch) ist der Raumbegriff sekundär, da er ohne Zeit nicht gedacht, nur in der Zeit (chronologisch) wahrgenommen und beschrieben werden kann. Erfahrungen werden also verstanden, indem sie sprachlich (in Sprachspielen) ausgedrückt/verfasst werden. Dies gilt in einem ursprünglichen Sinn: nur in einer sprachlichen Verfassung können sie verstanden und (natürlich) erzählt werden.

An der sprachlichen Verfassung von Erfahrung lässt sich ablesen, ob sie begriffen werden kann oder (als Utopie bei religiösen Sprachspielen) erzählt werden muss. Bestimmte Erfahrungen (z.B. Märchen) sind nicht an Ort und Zeit gebunden, auch und da sie in fiktiven Orten und zu fiktiven Zeiten spielen. Diese Erfahrungen können von der erzählten Zeit und den erzählten Orten gelöst werden; in diesem Sinn sind sie ort- und zeitlos, aber Weltbild-abhängig.

Ich nenne begreifbare Erfahrungen hinsichtlich ihrer Dimension „chronologisch“; erzählbare Erfahrungen „kairologisch“. Im (heutigen) anthropozentrischen Weltbild sind chronologische Erfahrungen begreifbar, in bestimmten Rahmen reproduzierbar und verbindlich mitteilbar. Kairologische Erfahrungen sind existenziell erfahrbar und nach einer Pause des Schweigens auf „aenigmatische Weise“ erzählbar (wie in einem Spiegel).

Um die Bedeutung von Sprachspielen aus dem theozentrischen Weltverständnis zu erkennen, müssen diese (überkommenen) Sprachspiele übersetzt werden. Dieser Prozess der Übersetzung schließt kritische Prüfung (auf Sinn oder Sinnlosigkeit) ein. Die mögliche Bedeutung überkommener Sprachspiele (z.B. in religiöser Sprache) kann im Gespräch in Form konkreter Utopie vermittelt werden.

Religiöse Sprachspiele sind rückgebunden an das theozentrische Weltbild. Diese Rückbindung zeigt sich in den zahlreichen Schöpfungtsmythen. Für das aufgeklärte Denken bleibt zu prüfen, ob in den tradierten Botschaften utopische Strukturen konkret erkennbar und erzählbar sind.

Mein (vorläufiges) Ergebnis der Prüfung und Übersetzung der jüdisch-christlichen Tradition und ihrer Sprachspiele ist die konkrete Utopie der messianischen Botschaft. Ihr kann unter den Bedingungen des anthropozentrischen Weltverständnisses vertraut werden und diese Botschaft kann als konkrete Utopie der Erlösung weiter erzählt werden. Auf andere Weise formuliert: Aufgeklärtes Denken und messianisches Denken sind dem Grunde nach kongruent.

Eine Konsequenz messianischen Denkens ist die Raum- und Zeitlosigkeit kairologischer Erfahrung, auch wenn ort- und zeitbedingt erzählt wird. Das bedeutet zugleich die Profanisierung von Raum und Zeit. Es gibt keine heiligen Orte und keine heiligen Zeiten. Arbeitszimmer und Studierstuben dienen der Konzentration menschlichen Bewusstseins; Kirchenräume und Museen dienen der Ruhe und Entspannung, aber auch der gemeinsamen Erinnerung und Danksagung, wie der bewussten Wahrnehmung künstlerisch geschaffener Artefakte.

Zu den Konzentrationsübungen des menschlichen Bewusstseins gehört der abschätzende und verantwortungsvolle Umgang mit den Risiken des Alltags und der Arbeit, im Sinne der Einsicht von Hannah Arendt, dass wir Menschen sterbliche Schöpfer sind. Hier unterstützt – auf launig-satirische Weise das oben genannte Lexikon der Gefahren.

Ich schlage unter dem Stichwort „Pandemien“ nach (Seite 163-168) und erfahre zunächst, dass der Begriff „Pandemie“ „mittlerweile zum Wortschatz der Globalisierung“ gehört. Ich gestehe, bis vor einem Jahr kannte ich dieses Wort nicht und begnügte mich, von „Epidemien“ zu sprechen. Ich lese weiter:

Die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland einer pandemischen Infektionskrankheit zu erliegen, ist heutzutage wegen der enormen medizinischen Fortschritte und aufgrund besserer Hygiene so gering wie nie zuvor. Noch zwischen den Jahren 1918 und 1920 fielen allein im Deutschen Reich schätzungsweise 300 000 Menschen der Spanischen Grippe zum Opfer, gegen die es keinen Impfstoff gab.“ (S. 167)

Dieses Buch erschien im Jahr 2010 auf dem Büchermarkt und die Aussage zur Pandemie ist 2021 überholt. Nun weiß ich nicht, ob Autor und Verlag eine korrigierte Neuauflage planen. Interessant ist die Fehleinschätzung der Risiken vor mehr als 10 Jahren. Zweifellos ist dieses Buch mit dieser Aussage veraltet. Bemerkenswert bleibt, wie wir mit Risikoeinschätzungen in gedruckten Büchern umgehen sollten. Bücherfreunde seien gewarnt.

Wahrnehmungsformen: begreifbar – erfahrbar – erzählbar

Feld oder Raum – Berechenbarkeit“ ist für eine „Theorie des Bewusstseins“ nicht ausreichend. – Zur Lektüre von Roger Penrose, Nobelpreisträger Physik 2020: Computerdenken

Während der Lektüre von: Roger Penrose: Computerdenken. Die Debatte um künstliche Intelligenz, Bewußtsein und die Gesetze der Physik, Heidelberg/Berlin 2002 (Originaltitel: The Emperor‘s New Mind Concerning Computers, Minds, an the Laws of Physics, New York 1989)

Das Nicht-berechenbare ist begreifbar; insofern ist die Natur – in ihrer Wahrnehmung für den Menschen (als leibgebundenes Vernunftwesen) mehr als eine endliche Summe von Algorithmen. Der Kosmos (der Welt-Raum) ist ebenfalls begreifbar, wenn auch nicht als Algorithmus. So verstehe ich Roger Penrose, den Erforscher der Schwarzen Löcher und diesjährigen Nobelpreisträger für Physik.

Natur ist auch – für den Menschen als leiblich wahrnehmenden, denkenden Organismus (durch seine Sinnesorgane und sein die Eindrücke verarbeitendes Gehirn) – existenziell erfahrbar. Und von diesen Erfahrungen kann – gesprächsweise – erzählt werden.

Penrose macht deutlich, dass die Natur – als Mikrokosmos wie Makrokosmos – nicht (nur) „algorithmisch“ in ihren Gesetzmäßigkeiten verstanden werden kann, sondern (auch) stochastisch wie durch weitere „Reflexionsprinzipien des menschlichen Bewusstseins“ (so R. Penrose) begriffen werden muss.

Natur als Leib- und Umwelterfahrung ist auch existenziell erfahrbar und erzählbar, aber nicht begreifbar. Das Erzählen dieser existenziellen Erfahrungen folgt einer dialogischen Struktur, ist an Mitteilung und Gespräch orientiert und nur in dieser Struktur verstehbar.

Die dialogische Struktur ist selbst da grundlegend gegeben, wo ich bewusst nachdenke (in der Form der Selbstreflexion) und mit mir selbst spreche (als Selbstgespräch). Das Gespräch ist Ausdruck des menschlichen Bewusstseins. So wie das Gespräch einen Dialogpartner verlangt, so geschieht das Gespräch in einem spezifischen Raum; seien es die Höhle, die Studierstube, die Wohnung, oder auch der Unterrichtsraum, Tempel und Kirchen (als ein- und ausgegrenzte Räume), der Bürgersaal, das Parlament oder die Philharmonie.

Bei allen diesen Räumen liegt der dreidimensionale Raum (wie in der klassischen Physik) zugrunde. Anders verhält es sich bei elektrisch geladenen Räumen oder beim Welt-Raum (dem Universum). Albert Einstein spricht in seinem Vorwort zu Max Jammer: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien (Darmstadt 1960) (Original: Concepts of Space (1954); das Vorwort von A. Einstein wurde 1953 auf Deutsch geschrieben) von der „Überwindung des selbständigen Raumes“ der modernen Physik durch den „Feld“-Begriff im Kontext der Feldtheorie:

Die Überwindung des absoluten Raumes … wurde erst dadurch möglich, dass der Begriff des körperlichen Objektes als Fundamentalbegriff der Physik allmählich durch den des Feldes ersetzt wurde. Unter dem Einfluss der Ideen von Faraday und Maxwell entwickelte sich die Idee, daß die gesamte physikalische Realität sich vielleicht als Feld darstellen lasse, dessen Komponenten von vier raum-zeitlichen Parametern abhängen. Sind die Gesetze dieses Feldes allgemein kovariant, d.h. an keine besondere Wahl des Koordinatensystems gebunden, so hat man die Einführung eines selbständigen Raumes nicht mehr nötig. Das, was den räumlichen Charakter des Realen ausmacht, ist dann einfach die Vierdimensionalität des Feldes. Es gibt dann keinen leeren Raum, d.h. keinen Raum ohne Feld.“ (Einstein 1953 in: Jammer 1960, S. XV)

Ich schlage vor, im Zusammenhang physikalischer Überlegungen, insbesondere der heutigen Mikro- und Makrophysik, von Feld zu sprechen, das schließt den Raumbegriff der klassischen Physik mit ein. Demgegenüber muss die Erzählung (das erzählende Gespräch) unter den Bedingungen des jeweiligen Erzähl-Raumes analysiert werden.

Für das Gelingen eines Gespräches zwischen Menschen in einem Raum, wie auch in unterschiedlichen Räumen (aber einer Atmosphäre) ist die Aktivität des (physikalisch-elektrischen) Feldes notwendig, aber nicht ausreichend, denn das Gelingen menschlicher Kommunikation lässt sich nicht auf die Wahrnehmung von Feld-Aktivitäten reduzieren. Die Differenz der Wahrnehmung zwischen digitaler Kommunikation und realem Gespräch (z.B. im selben Raum), aber auch jeder Erinnerung muss bei der Analyse wie Dokumentation einer Gesprächsaufzeichnung wie jedweder Art von Erzählung beachtet werden.

Digitale Kommunikation ist ortlos (bzw. der Ort wird beliebig), während reale Kommunikation ortsgebunden wahrgenommen werden muss, selbst wenn der Raum weltweit (oder sogar weltraumweit) geöffnet ist. Diese Einsicht hat weitreichende Konsequenzen.

Als Beispiel (im Kontext meiner religionsphilosophischen Überlegungen) verweise ich auf die Übersetzung traditioneller religiöser Sprachspiele. Religiöse Sprachspiele haben ihren „Ort“ oder „Raum“ im (jeweiligen) theozentrischen Weltbild. Um sie sinnvoll in ein heutiges Weltverständnis zu übersetzen, muss ein „Ortswechsel“ vorgenommen werden. Ohne notwendige „Raumtranslationen“ (ein von mir gewählter Ausdruck mit Anspielungscharakter) kann nicht geprüft werden, ob Sprachspiele dieser Art ihren Sinn behalten oder verlieren (oder vielleicht erst eröffnen).

Mein Lösungsvorschlag für das jüdisch-christliche Sprachspiel von der „Menschwerdung Gottes“ – im Sinne eines aufgeklärten Realismus ist, es in eine konkrete Utopie der Erlösung zu übersetzen. Diese Übersetzung ist mit der Grundaussage des anthropozentrischen Weltbildes, dass die Menschen (in dieser Welt, in diesem Welt-Raum) „sterbliche Schöpfer“ sind (eine Aussage von H. Arendt), sinnvoll in Übereinstimmung zu bringen – ohne gnostische Fehlinterpretation einer „Selbsterlösung“.

Zu Ende seines Buches „Computerdenken“ deutet Roger Penrose an, dass die (noch ausstehende) Theorie des menschlichen Bewusstseins mit der Methode der Berechenbarkeit und als komplexer Algorithmus nicht (ausreichend) darstellbar ist, sondern nur als Resultat der Gesprächssituation (Kommunikation) zwischen selbstbewussten Menschen erzielt werden kann.

Menschliches Bewusstsein (in der Form eines komplexen Computers) ist mit algorithmischen Mitteln nicht rekonstruierbar; so urteilt Penrose. Dennoch erwartet er „die Eigenschaft mathematischer Präzision“, die anders als „Berechenbarkeit“ ist. (a.a.O. S.437)

Menschliche Erinnerung hat, so vermutet Penrose nach detaillierter Prüfung aller Formen von Berechenbarkeit, eine näher zu erforschende eigenständige Struktur: „Mein Bewußtseinsstrom ist in die Vergangenheit gerichtet, und in Wirklichkeit besagen meine Erinnerungen nicht, was mir geschehen ist, sondern was mir geschehen wird.“ (a.a.O. S. 438)

Diese Andeutung einer speziellen Zeitstruktur reflektiere auch ich, wenn ich zwischen kairos und chronos unterscheide und davon spreche, dass Erinnerungen dieser Art nur erzählt und tradiert werden können. Aber eine in diesem Sinne sachgemäße Theorie des Bewusstseins liegt bis heute nicht vor.

Literaturhinweise:

Penrose, Roger: Computerdenken. Die Debatte um künstliche Intelligenz, Bewußtsein und die Gesetze der Physik, Heidelberg, Berlin 2002 (Originalausgabe: The Emperor’s New Mind Concerning Computers, Minds, and the Laws of Physics, New York 1989)

Penrose, Roger: SHADOWS OF THE MIND. A Search for the Missing Science of Consciousness, London 2005 (1994/1995)

Schmitter, Jürgen: Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten. Ein Taschenwörterbuch, Münster/Westfalen 2017

Schmitter, Jürgen: Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf, Münster in Westfalen 2020

Gespräch zwischen Philosoph und Revolutionärin

Der Philosoph erläutert: Ich lebe gern am Rand des Geschehens,
um meinen Beobachter-Status nicht zu gefährden.

Die Revolutionärin entgegnet: Nur im Zentrum ist Bewegung.
Nur dort ist Veränderung der Gesellschaft möglich.

Der Philosoph reagiert: Nur mit Abstand kann ich
der Veränderung ein Ziel geben.

Die Revolutionärin überlegt: Auch im Auge des Orkans
gibt es den Raum der Stille, um sich zu orientieren.

Der Philosoph antwortet: Im Chaos des Zentrums wie im Trubel
der Metropolen ist es fast unmöglich, Räume des Nachdenkens
zu schaffen und darin zu verweilen.

Die Revolutionärin protestiert: Wer im Zentrum lebt und handelt,
muss mit anderen den Raum der Orientierung schaffen,
um nicht im Strudel des Chaos zu versinken.

Der Philosoph überlegt: Zugegeben, jeder von uns,
gleich ob er im Zentrum oder in der Peripherie lebt,
ist für die Orientierung verantwortlich.
Aber wie ist das Problem zu lösen,
dass der Hahn in der Morgenröte aus Leibeskräften krähen kann,
aber nur mühselig fliegen, eher flattern,
während die Eule am Abend in der Dämmerung in lautlosem Flug
und mit scharfem Blick das gesamte Feld überschaut?

Die Revolutionärin schweigt zunächst und
der Philosoph fährt fort:
Ich suche ein Lebewesen, das Engagement und Orientierung
verbindet, den Tag nutzt und nicht die Dämmerung
abwartet. So ein Lebewesen suche ich; weder trompetender
Elefant, noch hoch kreisender Habicht.

Der Philosoph lächelt. Beide schweigen
und ahnen die Lösung: der Mensch.

Ich bin ein Querleser.

Ein Marginalist ist ein Mensch, der einen Text – sei es Buch oder Aufsatz – beim Lesen mit Randglossen (Marginalien) kommentiert. Ich überlege, wie ein Mensch zu bezeichnen ist, der die Unart hat, ein Sachbuch von hinten her zu lesen.

Ich frage mich vorab, wie er sich verhält, wenn das Buch in hebräischer Sprache geschrieben und daher von hinten nach vorn gestaltet ist. Da ich diese Unart habe und sie bei Sachbüchern meiner Fachgebiete praktiziere, steht meine Antwort aus.

Meine Antwort ist komplizierter, als es zunächst den Anschein hat. Zwar könnte ich scheinbar problemlos mit der Umkehrung antworten: Bücher im Hebräischen, wie z.B. die Bibel, blättere ich von vorn nach hinten auf. Aber mit dieser bloßen Umkehrung (das Aufschlagen der hebräischen Bibel von vorne nach hinten ist sinnlos) gegenüber erworbenen Sachbüchern ist nicht ausreichend begründet, warum ich diese Unart pflege.

Mich interessiert als erstes das Literaturverzeichnis am Ende eines Sachbuches: Gibt es Hinweise auf die von der Autorin oder dem Autor gelesene – oder eingesehene – Literatur oder ist allein die im Text zitierte Literatur aufgeführt? Und zweitens: Wie korrekt bzw. konkret wurden die Literaturtitel angegeben; wurde zwischen Primär- und Sekundärliteratur unterschieden; welche Auflage eines Buches wurde, wenn von Bedeutung, benutzt; welche (kritische) Gesamtausgaben wurden herangezogen?

Um zwei Beispiele zu nennen: Bei einer Schrift zur Kritik der Politischen Ökonomie des Karl Marx ist es für mich schon informativ, ob nur die MEW-Ausgabe oder auch die MEGA-Ausgaben (alt wie neu) gebraucht wurden. Oder bei einer neuen Heidegger-Monografie ist es für mich schon wesentlich, ob die erst im vorletzten Jahr veröffentlichten „Schwarzen Hefte“ mit beachtet wurden.

Eine weitere Einsicht in das Literaturverzeichnis lässt erkennen, welche wesentliche Literatur nicht aufgenommen wurde; aus Nachlässigkeit oder aus Absicht? Diese Einsicht ist auch durch meine Neugierde und Eitelkeit begründet: Warum hat der Autor mich nicht zitiert, obwohl er doch hätte wissen müssen …

Umfang und Inhalt eines Literaturverzeichnisses sind immer auch Ausdruck der Schulenbildung in der scientific community – und Beachtung oder Missachtung einer Schrift ist auch Ausdruck der Wertschätzung. Daher ist ein Sach- und Personenverzeichnis nützlich und interessant: Wie häufig werden z.B. Marx, Kant oder Hegel zitiert? Oder die Gegenfrage: Wieso werden in einer 2014 erschienenen Schrift über die Sinnfrage („Das Göttliche“) Bloch und Hegel nicht genannt?

Ich gebe zu, auch die Literaturhinweise in meinen Schriften sind subjektiv ausgewählt; aber ich bleibe dabei: Literaturverzeichnisse geben einen ersten Eindruck auf den „Hintergrund“ des jeweiligen Textes.

Ich kehre zu meiner Ausgangsfrage zurück. Es mag nun verständlich sein, warum ich beim Lesen eines Buches mit dem Ende beginne. Das gilt natürlich nicht für einen Kriminalroman (den ich sehr selten nur lese), aber bei der Belletristik wirkt meine Unart manchmal nach; aber das tut dem Genuss an sprachlich guter Literatur keinen Abbruch.

Bleibt die Frage, wie ich meine Leidenschaft tituliere. Ich bin nicht nur Marginalist, sondern auch Querleser. Und als aufgeklärter Querdenker mäandere ich mit meinen Gedanken und in meinen Texten. Die Hoffnung bleibt, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.

Bemerkungen zur Randglosse. Bekenntnis eines Marginalisten

Vorbemerkung:

Unter dem Stichwort: „Peripherie 2020“ fasse ich Vorüberlegungen zu einem neuen Buchprojekt zusammen, in dem ich Kommunikationsprozesse untersuche und bewerte; und zwar aus der Peripherie des Alltags unserer Gesellschaft. Wie erfahren und bewerten Menschen „vom Rande aus“ Aktionen und Erregungen im Zentrum der Gesellschaft?

Raumphilosophische Reflexionen und soziologische Beobachtungen sollen die ungelöste Frage klären: „Was denken und was tun, wenn es den Archimedischen Punkt nicht gibt – weder im Zentrum noch an der Peripherie -, um die Welt aus den Angeln zu heben?“ Oder nüchtern gefragt: Ist, und wenn ja, wie ist Umkehr (sinnvoll, nachhaltig und verantwortlich) möglich?

Bemerkungen zur Randglosse. Bekenntnis eines Marginalisten

 Randglossen (Marginalien) sind Kurzkommentare, meist stichwortartig, die verstärken, in Frage stellen, bestreiten, zustimmen oder ergänzen; wie immer auch: sie beziehen sich auf einen seitlich vorgegebenen TEXT (oder auch ein Bild oder eine Grafik). Der Randglossenschreiber – ich nenne ihn einen Marginalisten – beabsichtigt zu erklären, zu erläutern, den nebenseitigen Text im besonderen zu beachten. Die Marginalie dient also dem besseren Verständnis; sie verbessert es (bestenfalls) oder verschlimmbessert das Verständnis. Zumeist ist sie nicht aus sich selbst verständlich – es sei denn, sie enthält eindeutig wertende Urteile; entweder pejorativ (unsinnig!, sinnlos!) oder lobend (klasse! o.k.!) oder sie weist auf Unklarheiten hin (???). Diese müssen aber nicht dem Text geschuldet sein, sondern können auch durch die mangelnden Kompetenzen des Lesenden entstehen: durch einen Mangel an Verstehen oder Verständnis.

Alles in allem: die Randglosse hat einen mehrdeutigen und wankelmütigen Stand; vor allem aber, sie ist, was die Differenzierung angeht, von der Breite des Randes abhängig. So stellt sich schon bei der Buchgestaltung – dem Druckbild – die Frage, wie viel Raum dem Rand auf der jeweiligen Druckseite eingeräumt wird.

Extrem ist in dieser Hinsicht die Tageszeitung: sie kennt keinen Rand, sie will keine Randglossen, obwohl bei der Flüchtigkeit und Einseitigkeit von Zeitungsartikeln Bemerkungen notwendig wären. Weiterhin ist die Vorstellung extrem, ein Buch bestände nur aus Randglossen, entweder schon in gedruckter Form vorliegend oder als Leerseite. Aber welcher Verlag würde ein solches Monstrum herausgeben? Auch wenn in manchen Verlagen sog. Leerbücher, die aus leeren Blättern in Buchdeckel gebunden bestehen, Konjunktur haben. Vor mir, auf dem Schreibtisch liegt ein solches Exemplar aus dem Suhrkamp-Taschenbuch-Verlag: Leerbuch und Verwirrbuch zugleich: Auf den schwarzen Buchdeckel des „Notizbuchs“ ist mit grüner Farbe eingeprägt: Die Lust am Text und auf der Rückseite wird Roland Barthes zitiert: „Den Text, den Sie schreiben, muss mir den Beweis erbringen, dass er mich begehrt.“ Ich bin nicht sicher, ob dieses Cover stimuliert oder abschreckt; immerhin ist es bei mir schon in Gebrauch. Auf der ersten Seite habe ich mit blauer Tinte eingetragen: Leben an und in der Peripherie. Autobiografisches Projekt. Januar 2020.

Peripherie – wir sind im Thema: Eine Zwischenlösung ist denkbar. Ein einzelnes Wort auf der Textseite bedarf umfassender Kommentierung am Rand. Ich konstruiere ein Beispiel: Auf der Textseite ist gedruckt HERBSTZEITLOSE; dann würde in meinem Fall (Ich als Leser) der Rand mit Bemerkungen überquellen.

Natürlich kann ich mir in diesem Fall eine Alternative überlegen: die Fußnote. Aber sie verschlimmbessert die Problemlage, wie Bücher mit wissenschaftlichem Anspruch im Übermaß dokumentieren: eine Zeile Text, dann die zugehörige Anmerkung über zwei Seiten. Es wäre natürlich möglich, die Fußnoten separat am Ende des Textes zu versammeln; aber diese Anordnung kann das Verstehen des Textes erschweren; wie jeder weiß, der sich mit wissenschaftlichen Texten herumschlagen musste und muss.

Einen spezielles Verhältnis von Text und Anmerkung zeigt sich bei Texten und Schriften, die der Qualifikation der Schreibenden dienen; z.B. Dissertationen, in denen (unsichere) Forschungsergebnisse oder Lektüreerinnerungen in die Fußnoten gepackt werden, während der Text selbst nur das Unproblematische zum Ausdruck bringt. Abgesehen davon, dass der kritische Leser in diesem Fall keine Möglichkeit der Kommentierung am Rande hat (es bleibt nur die Strichbildung mit dem Bleistift), ist die Hypothesenbildung in den Fußnoten eine Mogelpackung, entweder aus Unsicherheit des Autors, oder aus der Unfähigkeit, die Hypothesenbildung präzise bestimmen zu können.

Aber die „gemeine“ Fußnote hat im (internationalen) Qualifikationszirkus noch eine weitere Funktion: sie dient der Quellenangabe (bei Zitaten), deren Anzahl mit quantitativen Methoden geprüft werden kann, um Rückschlüsse auf die bisherige oder zukünftige Reputation der Wissenschaftlerin oder des Wissenschaftlers zu ermöglichen.

Dieses Verfahren (der Umgang mit zitierten Schriften und Zitaten) hat sich in der heutigen scientific community vielfach durchgesetzt und kann trickreich beeinflusst werden, ohne dass die zitierten Quellen zur Hypothesenbildung der Sache nach entscheidend beitragen. Bei Qualifikationsarbeiten kann es entscheidend sein, die Literaturliste der Prüfer zu übernehmen, so dass aus der eigenen Literaturliste (am Ende der Arbeit) schon die Zugehörigkeit zur jeweiligen community erkennbar wird. Wer seine Qualifikationen im jeweiligen Wissenschaftsbetrieb erfolgreich erreicht hat, der streut seine eigenen Veröffentlichungen mehr oder weniger geschickt in den Anmerkungsapparat weiterer Veröffentlichungen.

Kehren wir nochmals von den Anmerkungen, die ein Autor selbst verfasst, zu den Randglossen zurück, die fremde Leser eintragen, sofern das Buch gekauft wurde und nicht ausgeliehen ist. Nichts ist ärgerlicher, als ein Buch mit (kaum lesbaren) Einträgen fremder Hand lesen zu müssen, denn bei solchen Bemerkungen ist oft Besserwisserei mit im Spiel. Es sei denn, der bemerkende Leser ist interessanter als der Autor des Buches. Ich erinnere mich, in Weimar sind die Bemerkungen, die Goethe in die Bücher seiner Handbibliothek eingetragen hat, heute besonders gekennzeichnet und daher nachschlagbar.

Und schließlich bekenne ich mich zu der Unart, während des Lesens neuer Bücher diese auf jedem weißen Fleck mit meinen Bemerkungen voll zu kritzeln. Ich hoffe, den Überschuss an eigenen Gedanken beim Lesen einer fremden Argumentation fixieren zu können, damit er mir nicht verloren geht. So habe ich Ernst Blochs „Atheismus im Christentum“ im Erstdruck (Frankfurt am Main 1968, außerhalb der Werkausgabe) nach Jahren wiedergelesen und war überrascht, wie sehr ich meinen früheren Bemerkungen 50 Jahre später noch zustimmen konnte. Aber diese Einsicht spricht eher für die Qualität der Argumentation, weniger für die Kontinuität meiner Zustimmung.

Bemerkungen zur Schriftform meines Buches „Aufgeklärter Realismus“

In eigener Sache.

Nicht nur die Erstkorrektorin (und Erstleserin) meines Manuskriptes „Aufgeklärter Realismus“ Brigitte Schmitter-Wallenhorst (als Ehefrau), sondern auch die Lektorin des Verlages (als Zweitkorrektorin) sind über meinen individuellen und vielfachen Gebrauch der Zeichensetzung (bezüglich Semikolon, Klammer, Gedankenstrich) und die Länge meiner Sätze irritiert.

Diese Irritation, verbunden mit wiederkehrenden Bemerkungen, ist für mich nichts Neues. Dennoch sehe ich mich (fast und aktuell) gezwungen, mich zu rechtfertigen.

Ich antworte zunächst, meine Freundinnen und Freunde kennen das, mit allgemeinen, provozierenden Aussagen:

  • Auch Goethe benutzte eine eigenwillige Zeichensetzung;
  • Wer mäandernd denkt und nachdenkt, der muss auch mäandernd aufschreiben.

Diese zumutenden Aussagen bedürfen der Erläuterung, um Arroganz zu vermeiden und sprachlichen Hochmut abzuwehren. Natürlich ist ein Vergleich mit Goethe inakzeptabel und beendet jede weitere Argumentation. Auch mein situativ üblicher Nachsatz, Goethe habe weit vor Konrad Duden gelebt und geschrieben bzw. schreiben lassen, verschärft nur die Provokation: ich wolle doch wohl nicht Goethe gegen Duden ausspielen und die notwendige Normierung der Schriftsprache grundsätzlich in Frage stellen.

Bevor ich die Problemlage der Zeichensetzung in der heutigen Schriftsprache auf das Thema der Sprach- und Schreibanarchie erweitere oder auf die Kunst der mittelalterlichen Schriftgelehrten in ihren Klöstern, ganz ohne Satzzeichen und Zwischenräumen zwischen der Wörtern Texte lesen zu können, stelle ich nüchtern fest, dass in einer Demokratie (zumindest) das Lesen und Verstehen von Schrift ein Grundrecht ist, das von allen Menschen erlernt werden kann und muss.

Zum Erlernen einer Sprache und (dazugehörigen) Schreibe gehört – um des Verstehens willen – eine Regelhaftigkeit, die das Verstehen sichert – und zwar durch und von allen Menschen in einer Gesellschaft, in einem Land, in der bewohnten Welt.

Kehren wir zur ausgelösten Irritation durch meine Zeichensetzung zurück:

Selbst die heute gültige Vereinbarung zur Zeichensetzung, die der Duden abdruckt, gibt für die Zeichensetzung einen gewissen Spielraum, soweit die (relative) Verständlichkeit oder – bei bestimmten Texten – Eindeutigkeit nicht gefährdet ist.

Schon früher – seit ich philosophische Texte lese und die Resultate meiner Beobachtung und meines Nachdenkens aufschreibe – habe ich meinen persönlichen, erlernten Denk- , Sprach- und Schreibstil mit dem Mäandern eines Baches oder Flusses verglichen. Ich gebe zu, schon die ungewöhnliche Bildsprache reizt mich bis heute. Und ich erweitere meinen Bildvergleich: Auch schlängerndes, ausuferndes Wasser eines Flusses wie z.B. des Rheins, den ich seit Kindestagen (als Niederrheiner) kenne, erreicht (irgendwann) das Meer. Abstrakt formuliert: Auch auf Umwegen kann ich das gesteckte Ziel erreichen; zumindest solange ich das Ziel nicht aus dem Sinn verliere und mich nicht an der folgenden Ideologie fest beiße: Der Weg sei schon das Ziel.

Probleme lösen geschieht nicht auf einem schmalen und geraden Weg, der vorgegeben ist, sondern in einer unübersichtlichen und vielfältigen Landschaft. In dieser Landschaft dienen Wege zur Orientierung, schließen auch Irrwege, Sackgassen und Trampelpfade ein. Es bedarf der Spürnase, aber auch der Vorbereitung durch Landkarte und Kompass sowie gesicherter Vorinformationen, um das Ziel nicht zu verfehlen oder zu verlieren.

Nun will ich im Rahmen meiner Rechtfertigung des speziellen Gebrauchs der Zeichensetzung nicht unterstellen, dass der Umweg die einzig effektive und produktive Strategie ist, Probleme zu lösen. Durch die mäandernde Arbeitsweise kann auch Komplexität vorgetäuscht werden, während einfache Lösungswege Zeit und Energie sparen und dennoch erfolgreich sind. Auch kann meine Ungeduld oder die Erwartung schneller Lösungen (nach den bekannten und eingeübten Schemata) mich dazu verführen, auf lieb gewonnene Gewohnheiten zurück zu greifen.

Zu meiner Verteidigung und zur Klärung erinnere ich an die mittelalterliche „questio disputata“ mit ihrem Wiederholungszwang, um Missverständnisse möglichst zu vermeiden und eine sachgemäße und sinnvolle Argumentation, die alle verstehen, zu ermöglichen. Umständliches Argumentieren – um des Verstehens willen – kann nützlicher sein als subjektives Für-wahr-halten und das Beharren auf der eigenen Meinung.

Verzichtet habe ich in diesen Bemerkungen auf meine Unart, durch kursive oder fette Schreibweise die Bedeutung bestimmter Wörter oder Sätze hervorzuheben (so auch in diesem Text). Ich sehe ein, das Schriftbild wird durch fett gedruckte oder kursiv gesetzte Wörter oder Sätze verschandelt. Dennoch bleibt meine Einsicht, dass Wörter bzw. Sätze nicht gleich bedeutungsvoll sind; und muss dieser Tatbestand nicht gekennzeichnet werden?

In diesem Kontext erinnere ich an die mittelalterlichen Schriftgelehrten in den Klöstern, die in der Lage waren, bedeutende Wörter oder Namen optisch hervorzuheben und alltägliche Phrasen abzukürzen. Aber ich muss dagegen halten: für die gemeine Frau und den gemeinen Mann wurde das Lesen und Verstehen zur Qual und sie waren auf das Hörensagen angewiesen; das ist einer demokratischen Gesellschaft unwürdig.

KONKURSBUCH 55 – liebenswert manipuliert

 oder

 Reduzierte Kommunikation unter Bibliophilen

Im Literaturcafé sitzen sich Verlegerin und Autor schweigend gegenüber und trinken ihren Espresso. Hinzu gedeckt je ein Senfglas mit Leitungswasser, unberührt. Denn der Autor hat sich zusätzlich eine Flasche Mineralwasser bestellt; auf Rückfrage „mit“. Aber das ändert nichts an dem rituellen Vorgang, dass der Espresso mit dem obligaten Glas Leitungswasser serviert wurde. Das zeichnet den Qualitätsstandard dieses Kaffeehauses aus, obwohl die in buntes Papier eingewickelten Kekse fehlen. Die oft üblichen Zuckertütchen sind durch spezielle Zuckerdosen, die auf jedem Tisch stehen, ersetzt.

Mir graut vor diesen, meist übervollen Zuckerspendern, denn das für meinen Espresso gemäße Maß an Zucker lässt sich durch die Umkehrbewegung dieser Zuckerdosen nicht, zumindest nicht wunschgemäß regulieren: entweder tut sich bei leichtem Schütteln nichts oder der plötzliche Zuckerschwall vernichtet den Kaffee in der kleinen Espressotasse.

Also lasse ich die Zuckerdose unberührt und schlürfe den Espresso schwarz; verknüpft mit dem Gedanken und in der Vorstellung der strengen Gesichtszüge der Missachtung meiner abwesenden Ehefrau, dass Zucker – bei meinem Blutzucker – äußerst ungesund sei. Ich schlürfe also meinen Espresso und Sie als Leserin oder Leser werden schon gemerkt haben, dass ich mit dem zu Anfang genannten Autor identisch bin – auch wenn ich mich selbst so nicht bezeichnen würde.

Ich nenne mich weder Autor noch Schriftsteller (höchstens aus taktischen Gründen fürs Finanzamt) – mit der Assoziation „Fallensteller“ –, sondern schlicht „Aufschreiber“. Auch dieser Begriff – nahe an meiner Tätigkeit – ist nicht assoziationsfrei: Aufschneider!

Mir gegenüber sitzt die fiktive Verlegerin, mit rot gefärbtem Haar, das die silbernen Alterssträhnen kaum verbergen kann, und legt ein Buch auf den Tisch, hardcover, eine Bücherwand als Umschlagfoto. Ich erkenne es sofort, da ich ein optisches Gedächtnis habe und bibliophil bin: Über Bücher. Konkursbuch 55.

 Sie schiebt mit einer Hand das Buch in meine Richtung und fordert mich lächelnd auf, es in die Hand zu nehmen. Ich lächle zurück, schiebe das Buch mit zwei Fingern meiner rechten Hand in ihre Richtung zurück und sage: Danke. 501/666. Sie ist kaum überrascht, nimmt das Buch in die Hand, schlägt die vorletzte Seite auf und antwortet: Nein. 599/666.

Diese rätselhafte Minimalkommunikation bedarf für uns keinerlei Aufklärung.

Zum 40. Geburtstag des konkursbuch-Verlages im Jahre 2018 ist dieses Buch in 666 nummerierten und signierten Exemplaren erschienen. Warum diese Anzahl? So viele Bücher sind seit 1978 in diesem Verlag erschienen. Ich kenne diesen Verlag seit langem, da ich Chaos und Anarchie – zumindest in der Theorie und an meinem Schreibtisch – liebe.

Aber auch dieser Verlag kommt zu seinem Jubiläum nicht ohne Manipulation aus: damit die Zahlen stimmen, erscheint Nr. 54 des Konkursbuches erst nach der Nr. 55 (Thema: Lügen!). Fairnesshalber muss gesagt werden, die Verlegerin, Claudia Gehrke, teilt diese Manipulation im Impressum selbst mit.

Die Cafépause ist beendet und mir bleibt nur noch, das verschobene Buch zu empfehlen:

Bücher. Konkursbuch 55, hrsg.v. Claudia Gehrke und Florian Rogge, Tübingen 2018.

p.s. Nr. 501/666 ist in meinem Besitz.

Inkonsequente Perversion

Spontane Anmerkung zum Adorno-Denkmal
auf dem Theodor-W.-Adorno-Platz in Frankfurt am Main

Ich weiß, es gibt keinen Zufall. Aber der Frankfurt-Tourismus macht das Unwahrscheinliche möglich: Bei der Wikipedia-Lektüre im Internet – ich bereitete unter dem Stichwort: neue Altstadt Frankfurt einen vorösterlichen Besuch vor – fand ich einen Hinweis auf das Adorno-Denkmal von Vadim Zaktarov, seit 2003 auf dem Theodor-W.-Adorno-Platz in Frankfurt am Main aufgestellt.

Da ich seit längerem nicht mehr in der Krönungsstadt der deutschen Kaiser und des Bankenkapitals war, wußte ich nichts von diesem Glaskubus, „frei zugänglich und immer geöffnet“, wie die Touristen-Information behauptet; gerne – und unreflektiert – würde ich mich an Adornos Schreibtisch setzen und den stupiden Takt seines Metronoms auslösen.

Aber nein, mir gingen beim Anschauen der Fotografie andere Phantasien perverser Art durch meinen Kopf:

(1) Perversion eins: Hätte nicht auch Adorno gleich Lenin oder Pater Pio einbalsamiert werden können und, an seinem Schreibtisch sitzend, für die Ewigkeit ausgestellt?

Ich gebe zu, diese perverse Phantasie übersteigt seine von mir unterstellte Eitelkeit und widerspricht meinem Wissen und meiner Sympathie für die negative Dialektik einerseits, und seinen hochaktuellen „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ andererseits; Reflexionen, in denen sich der Begriff Erlösung – um der Erkenntnis willen – nicht vermeiden lässt.

(2) Perversion zwei: Ich stelle mir vor, mein Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer in M. wäre öffentlich zur Schau gestellt. Der Berliner Zeichner Matthias Beckmann hat ihn in meinem „überfüllten“ Zimmer gezeichnet und mein Chaos dokumentiert. Abgesehen davon, ob es überhaupt möglich wäre, diese Unordnung – so die äußere Wahrnehmung – post mortem nachzukonstruieren, B. hätte gegen diese Perversion ihr Veto eingelegt; denn diese Zur-Schau-stellung hätte die Vergeblichkeit ihrer Mahnung, endlich einmal aufzuräumen und Ordnung zu schaffen, „in Ewigkeit“ dokumentiert.

(3) Perversion drei: Meiner Überzeugung nach ist die einzig sachgemäße Lösung eines Denk-mals für einen toten Philosophen und Musiktheoretiker: ein leerer Glaskubus; mit der Unterschrift versehen: Über die Vergeblichkeit, die Dialektik von kairos und chronos aufzuheben.

Dann wären alle geehrt, die mit Leidenschaft nachdenken. Aber ich vermute, nicht nur die Berufsphilosophen würden dieses Artefaktum ebenfalls als inkonsequente Perversion verdammen.

Bücher und Gedanken, die mich begleiten – lebenslang: Heinrich Heine in einem Band

Heute Morgen nach dem Frühstück, während ich Hannes Wader hörte, las ich eher zufällig im Gedichtsband Hell und Schnell. 555 komische Gedichte aus 5 Jahrhunderten, herausgegeben u.a. von Robert Gernhardt, einen Text von Heinrich Heine: Das Fräulein stand am Meere.

Das Fräulein stand am Meere
und seufzte lang und bang,
es rührte sie so sehre
der Sonnenuntergang.

Mein Fräulein! Sein Sie munter,
das ist ein altes Stück,
hier vorne geht sie unter
und kehrt von hinten zurück.

Dieses Heine-Gedicht von der Wiederkehr des Gleichen rührte mich, eben auf komische Weise, und ich entschloss mich, es abzuschreiben (eine Art Genussverstärker). Dazu ging ich an das entsprechende Bücherregal, nahm die einbändige Heine-Dünndruck-Ausgabe, relativ sicher, dort schon dieses komische Produkt meines geliebten Heine zu finden; begab mich an meinen Schreibtisch, um mit blauer Tinte (zu Ehren des 1. Mai) den Fräulein-Text abzuschreiben.

Ich fand nicht nur das Gedicht (auf Seite 478), sondern eines meiner ältesten Bücher, die mich bis heute begleiten:

Heinrich Heine Werke in einem Band (handlich auf Dünndruck) bei Hoffmann und Campe in Hamburg erschienen – zum 100. Todestag von Heine am 17. Februar 1956 und anlässlich des 175jährigen Bestehens des Verlages (1781) veröffentlicht; in der 4. Auflage.

Und wie aus der römischen Ziffernangabe meiner damaligen Unterschrift (III.LXII) erkennbar und aus einem Einkleber auf der Innenumschlagseite ablesbar im März 1962 in Krefeld bei der Kleinʼschen Buchhandlung (W. Kirchhoff) gekauft.

Dieses Buch begleitet mich also seit meiner Schulzeit – kurz vor dem Abitur – und teilt bereits die Unart – meine Unart – vieler meiner mit Inbrunst gelesenen Bücher: vollgekritzelt mit handschriftlichen Bleistiftnotizen – und einer Kuriosität auf der dritten Innenseite: Es weist mit drei unterschiedlichen Unterschriften mich als Besitzer aus. Die stilistischen Unterschiede demonstrieren meine Entwicklung 1962, 1971, 2014.

Ich interpretiere diese Unterschiede meiner jeweiligen Unterschrift einerseits als Entwicklung, andererseits als gleichbleibendes Bewusstsein meiner Bibliomanie (Bücherbesitzsucht). Des weiteren zeigen auch die handschriftlichen Einträge, dass ich „meinen“ Heine immer wieder gebraucht, gelesen habe. Dafür zitiere ich einige Beispiele:

Das oben aufgeschriebene Gedicht von der Wahrnehmung des Sonnenuntergangs am Meer gehört zu einer Sammlung der ironisch gebrochenen Wahrnehmungen am Meer. Es heißt dort (Seite 479):

Das Meer erstrahlt im Sonnenschein,
als ob es golden wär.
Ihr Brüder, wenn ich sterbe,
versenkt mich in das Meer.

Hab immer das Meer so lieb gehabt,
es hat mit sanfter Flut
so oft mein Herz gekühlet;
wir waren einander gut.

Diese Verse habe ich dick angestrichen und kommentiert: „Heines Banalitäten im letzten Vers – meine Welt!“

Und dann „Deutschland – ein Wintermärchen“ – ein immer wieder von mir als Deutschlehrer bearbeitetes Reisegedicht. Zu Ende des Kaput XIV heißt es:

Wie klingen sie lieblich, wie klingen sie süß,
die Märchen der alten Amme!
Mein abergläubisches Herze jauchzt:
„Sonne, du klagende Flamme!“

Und ich kommentiere: „Mein Freund Heine – der selbe Aberglaube, dieselbe Sehnsucht, anderer Spott in anderen Seiten“. Ich kann sogar rekonstruieren, wann und wo ich diesen Kommentar geschrieben habe, denn auf der selben Seite (557) heißt es am Rand: „1.30 DM fürs Fürstenberger, 17.00 DM Traube in Waldau“. Ich verzichte auf eine biografische Aufklärung dieses Hinweises und ende mit einem Blick in Heines im September 1844 geschriebenes Vorwort des „Wintermärchens“. Dort träumt Heine von seinem europäischen Patriotismus in emphatischer Weise und schimpft auf seine Verleumder in den deutschen Ländern und in den damaligen Medien: „Wahrhaftig, Schufterle ist nicht tot, er lebt noch immer, und steht seit Jahren an der Spitze einer wohlorganisierten Bande von literarischen Strauchdieben …“. Ich habe mit Bleistift wiederholt: „Wahrhaftig, Schufterle ist nicht tot.“ Mehr ist bis heute nicht zu sagen; Heine sei es geklagt und gelobt.

Der Strichpunkt oder Lob auf das Semikolon

Vor mir liegt ein Cartoon, in dem die Kassiererin an der Theke den Kunden fragt, ob er Punkte sammelt, und der Kunde antwortet mit einer Gegenfrage: Haben Sie auch Kommas? Ich habe diesen Cartoon an Freunde und Familie verschickt mit folgendem Kommentar:

Meine Frage wäre: Haben Sie auch Semikola?

Mit dieser Zusatzfrage wird das ganze Dilemma unserer deutschen Sprache offensichtlich: nicht nur die Pluralbildung ist unser Problem (insbesondere bei Lehnwörtern aus dem Lateinischen oder Griechischen), sondern auch die Mehrdeutigkeit unserer Sprache.

Bevor ich diese Dilemmata aufzulösen beginne und durch meine mäandernde Denkweise eher verschärfe; (!) also bevor ich chaotisiere (dabei beharrt B. sicherlich darauf, dass der DUDEN eindeutige Regeln kennt, die ich aus Trotz nur ignorierte; (!) nämlich, dass ein Semikolon nur gesetzt würde, wenn ein weiterer Hauptsatz folgt, während ich auf Goethe, Schiller und Kleist verweise, die noch keinen DUDEN und dessen vorgebliche Verbindlichkeit kannten), bekenne ich, dass ich das Semikolon, den Strichpunkt seit langem liebe (B. kann beim Korrekturlesen meiner Texte ein „Lied davon singen“); (!) ja, ich versteige mich zu der Behauptung: „Das Semikolon ist mir ans Herz gewachsen.“ Warum?

Zunächst einmal – aus Tradition. Seit langem liebe ich die verschachtelten Sätze; sie entsprechen meinen mäandernden Gedankengängen und meiner philosophischen Vorstellung, dass alles mit allem zusammenhängt, und eine Differenzierung keine Trennung bedeuten muss. Der Punkt ist für mich ein Schlusspunkt; im Wortsinn, er schließt den Gedankengang ab; danach bleiben nur Luft oder Leere.

Demgegenüber dient das Komma nur zum Luftholen beim Vorlesen. Es ist für mich kein Satzzeichen, sondern ein Sprechzeichen. Und nun werden die grammatikalischen Regeln butterweich: die Schrift- und Lesekultur der Mönche konnte auf Kommata und Wörtertrennung fast ganz verzichten; die große und dekorierte Initiale am Anfang eines Abschnittes reichte aus.

Weiterhin – aus Einsicht. Mein üblicher Blick ins Etymologische Wörterbuch informiert im Detail:
Semikolon – Strichpunkt, Ende des 15. Jahrhunderts von A. Manutius eingeführt, von Schottel (1663) mit Strichpünctlein übersetzt. Zu lateinisch colon, griechisch kolon „Abschnitt einer Satzperiode“, eigentlich „Glied eines Tieres oder Menschen, besonders Bein“; vgl. nhd Kolon „Doppelpunkt“, anfangs Colon (16.Jahrh.).

Jetzt ist meine Neugierde geweckt; das GRIMMsche Wörterbuch wird zu Rate gezogen und läßt mich nicht im Stich: unter „strichpunkt, strichpünktlein“ heißt es:
„deutsche bezeichnung für semikolon“; und STEINHÖWEL wird zitiert, der 1473 „ein semikolonähnliches gebilde beschreibt“: „ ain sollich pünctlin oder túpflin mit ainem besicz gezognen strychlin also“.
Und auch SCHOTTEL in seiner „sprachlehre“ von 1641 wird zitiert:“ das strichpünctlein (als kompositum) hat seine benahmung, weil es von einem striche und einem pùnctleine oder tippel gemacht wird“.

Aber hilft mir der sprachgeschichtliche Rückblick meines „Strichpünktleins“ in der Frage weiter, warum ich mit Lust und Leidenschaft das Semikolon heute gebrauche?

Ich fasse zusammen: wenn schon der Bandwurm „Sprache“ als „Schreibe“ gegliedert werden muss, um den argumentativen Zusammenhang zu verdeutlichen, dann ist es wie mit dem Gegensatz von „sinnvoll“ und „unsinnig“; dazwischen gibt es ein „schwachsinnig“ – und dies im wörtlichen Sinn.
Denn der „Sinn“ einer Sache muss überall aufgespürt werden, wo er sich befindet. Und der Sinn zeigt sich nicht immer offensichtlich und von vorne herein.

So ist es auch mit dem Verhältnis von Punkt und Komma; das Strichpünktlein stellt ein Zwischenglied dar, das trennt und verbindet zugleich. Daher lobe ich das Semikolon und schätze seinen Gebrauch.