Gespräch zwischen Philosoph und Revolutionärin

Der Philosoph erläutert: Ich lebe gern am Rand des Geschehens,
um meinen Beobachter-Status nicht zu gefährden.

Die Revolutionärin entgegnet: Nur im Zentrum ist Bewegung.
Nur dort ist Veränderung der Gesellschaft möglich.

Der Philosoph reagiert: Nur mit Abstand kann ich
der Veränderung ein Ziel geben.

Die Revolutionärin überlegt: Auch im Auge des Orkans
gibt es den Raum der Stille, um sich zu orientieren.

Der Philosoph antwortet: Im Chaos des Zentrums wie im Trubel
der Metropolen ist es fast unmöglich, Räume des Nachdenkens
zu schaffen und darin zu verweilen.

Die Revolutionärin protestiert: Wer im Zentrum lebt und handelt,
muss mit anderen den Raum der Orientierung schaffen,
um nicht im Strudel des Chaos zu versinken.

Der Philosoph überlegt: Zugegeben, jeder von uns,
gleich ob er im Zentrum oder in der Peripherie lebt,
ist für die Orientierung verantwortlich.
Aber wie ist das Problem zu lösen,
dass der Hahn in der Morgenröte aus Leibeskräften krähen kann,
aber nur mühselig fliegen, eher flattern,
während die Eule am Abend in der Dämmerung in lautlosem Flug
und mit scharfem Blick das gesamte Feld überschaut?

Die Revolutionärin schweigt zunächst und
der Philosoph fährt fort:
Ich suche ein Lebewesen, das Engagement und Orientierung
verbindet, den Tag nutzt und nicht die Dämmerung
abwartet. So ein Lebewesen suche ich; weder trompetender
Elefant, noch hoch kreisender Habicht.

Der Philosoph lächelt. Beide schweigen
und ahnen die Lösung: der Mensch.

Ein Blick in die Zukunft (Analyse, Prognose, Konsequenzen) – kein ärgerlicher und ärgender Rückblick

Ab 31. Oktober 2020 bin ich frei von allen lokal- und regionalpolitischen Funktionen und allein gebetener und ungebetener Ratgeber; wer will, kann das auf meiner Website (schmitter.sifisu.org) lesen.

Auf der Grundlage meiner Analyse der Ergebnisse der Kommunalwahlen in NRW am 13. September 2020 wage ich eine Prognose für die nächsten Jahre und schlage Konsequenzen für die Arbeit der SPD vor Ort, in der Region und auf Bundesebene vor.

Ich weiß, dass ich mich in der Vergangenheit mit meinen Prognosen (auch) geirrt habe, aber ich weiß auch, dass es der SPD auf Landes- wie Bundesebene bis heute nicht gelungen ist, regierungsfähig zu werden. Das schmälert nicht die Leistungen der SPD-Minister in der CDU/SPD-Koalition unter der Bundeskanzlerin Merkel, aber reduziert die Wirkung für die Zweitstimmen der SPD bei der Bundestagswahl.

Ich bin – wie schon früher (auch schriftlich) geäußert – der Auffassung, dass die Praxis der differenzierten, am Kompromiss orientierten Ausarbeitung von Koalitionsverträgen durch die Spitzen der Parteien, die regieren wollen, nicht zwingend grundgesetzkonform ist. Unser Grundgesetz kennt keine „Koalitionsverträge“, sondern in Zukunft kann es ausreichend sein, dass nach einer Wahl die Parteien (inklusive der dann im Bundestag vertretenen Fraktionen dieser Parteien) eine verbindliche Vereinbarung treffen, eine Bundeskanzlerin/einen Bundeskanzler mit der notwendigen Kanzlermehrheit zu wählen. Diese gewählte Person bestimmt dann (natürlich auf Vorschlag der Koalitionsfraktionen) die Minister ihrer Regierung, die dann vom Bundespräsidenten ernannt werden.

Dieser Vorschlag, ich wiederhole es, stärkt die Arbeit und Verantwortung des Parlamentes (Bundestages). Denn dort werden Kompromisse ausgehandelt und Gesetze beschlossen (natürlich mit der im GG vorgeschriebenen Zustimmung des Bundesrates).

Zurück zur Möglichkeit der SPD, den Bundeskanzler/die Bundeskanzlerin vorzuschlagen und mit der notwendigen Kanzlermehrheit im Bundestag zu wählen. Das traditionelle Modell, die größte Fraktion (einer bisherigen „Volkspartei“) sucht sich einen sog. „Juniorpartner“ hat genau so ausgedient wie die „Notlösung“ einer „Großen Koalition“.

Die Parteien, konkret die SPD, sollte versuchen, rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl, mögliche Kooperationen mit anderen Parteien zu diskutieren, diese Kooperationsangebote in den Parteigremien zu entscheiden und dann zu veröffentlichen, damit die Wählerinnen und Wähler wissen, was sie erwartet und welcher Partei sie (auf Grundlage des Programmes und der Personen) die Priorität geben.

Bisher „ziert“ sich die SPD, solche Kooperationen zu veröffentlichen, und hofft, als Einzelpartei eine ausreichende Mehrheit an Stimmen zu erhalten.

Das ist eine folgenschwere Illusion. Die Wählerinnen und Wähler müssen wissen, welche Kooperationen geplant sind.

Hinzu kommt – und das gilt für alle Wahlen –, dass die Zahl der sog. Stammwähler schrumpft (sie sterben aus, auch wenn sie älter werden – meine eigene Erfahrung). Ich schätze die Zahl heutzutage bei unter 10 %.

Weiterhin nimmt die Zahl der sog. Wechselwähler zu. Sie orientieren sich an wenigen aktuellen Problemlagen und den damit (medienmäßig) verbundenen „Leitpersonen“. Das gilt zunehmend auch für örtliche Kommunalwahlen, selbst wenn dort die Parteizugehörigkeit nicht immer entscheidend ist.

Bevor ich zur Analyse der vorvorgestrigen Kommunalwahl im Münsterland komme, will ich zur Situation auf Bundesebene vorweg sagen, dass ich zur Zeit keine Alternative zur Parteidoppelspitze und zum vorbestimmten Kanzlerkandidaten Olaf Scholz sehe. Die SPD muss zur Bundestagswahl 2021 konsequent an ihrem Personalvorschlag und der jetzigen Parteidoppelspitze festhalten und sie bestätigen; nur dann kann es gelingen, eindeutig über 20 % der Zweitstimmen zu erreichen.

Ich beginne meine Analyse so konkret wie möglich auf der untersten Ebene, dem Stimmbezirk 5 der Gemeinderatswahl Metelen. In diesem Stimmbezirk wurde vor Jahren Angelica Schwall-Düren zum ersten Mal direkt in den Gemeinderat gewählt. Das gelang auch mir (wir wohnten/wohnen im Stimmbezirk auf der Neustraße). Erst bei der Gemeinderatswahl 2014 unterlag ich der CDU-Kandidatin mit weniger als 10 Stimmen (bei Stimmverlusten des UWG-Kandidaten, die wahrscheinlich der CDU nutzten).

Am 13. September 2020 ergab sich im Stimmbezirk 5 der Gemeinde Metelen folgende Situation:

Von 567 Wahlberechtigten gaben 352 Wählerinnen und Wähler (ab 16 Jahren) ihre Stimme ab; das sind 62,08 % der Wahlberechtigten. 11 Stimmen waren ungültig; der CDU-Kandidat erhielt 104 Stimmen; die SPD-Genossin Birsen A. erhielt 97 Stimmen und der Grünen-Kandidat 106 Stimmen; der UWG-Kandidat abgeschlagen 34 Stimmen. Damit war der Kandidat der Grünen mit 2 Stimmen Vorsprung vor dem CDU-Bewerber und 9 Stimmen Vorsprung vor der SPD-Bewerberin direkt in den Gemeinderat gewählt. Bei 10 direkt (mit relativer Mehrheit) zu wählenden Mitgliedern blieb dies das einzige Direktmandat der Grünen; die SPD erhielt (im Stimmbezirk 4) ebenfalls ein Direktmandat mit 109 Stimmen; die anderen 8 Direktmandate gingen an die CDU (Stimmenanzahl von 180 Stimmen bis 109 Stimmen). Da nach unserem Kommunalwahlgesetz diese Stimmen doppelt gezählt werden (zur Verteilung der 20 Ratsmandate nach dem Verhältniswahlrecht), ergibt sich für den neuen Gemeinderat folgende Sitzverteilung: CDU 8 Sitze (180 bis 86 Stimmen je Stimmbezirk); SPD 5 Sitze (113 bis 36 Stimmen); Grüne 4 Sitze (107 bis 25 Stimmen); UWG 3 Sitze.

Für das Ergebnis im Stimmbezirk 5 ist zu bedenken: SPD-Bewerberin und der Grünen-Bewerber wohnen beide im Stimmbezirk; der Grüne ist „Poalbürger“; der Stimmbezirk wurde vor der Wahl nach dem Urteil des Landesverfassungsgerichtes um ca. 60 Wahlberechtigte vergrößert.

Weiterhin ist festzustellen: seit über 10 Jahren haben die Grünen in diesem Stimmbezirk keinerlei Aktivität mehr entwickelt (das gilt auch für die gesamte Gemeinde Metelen), das gilt auch für die bisherige CDU-Ratsfrau, während die SPD (ich als Sachkundiger Bürger im Schulausschuss und (ehemaliger) Vorsitzender des Fördervereins der Offenen Ganztagsgrundschule) vier- bis fünfmal im Jahr unsere Zeitschrift Kiebitz in alle Haushalte verteilt hat und ich vor der Wahl zweimal mit meiner „Nachfolgerin“ alle Straßen unseres Stimmbezirks (mit ihren Haushalten) „heimgesucht“ habe.

Ich erwähne diese Details, um aus diesem speziellen Wahlergebnis folgende Schlussfolgerungen zu ziehen:

(1) Das Engagement von Birsen und mir hat sich gelohnt, denn mit 10 weiteren Stimmen wäre sie direkt gewählt worden. Und in Bezug auf das Verhältniswahlergebnis (mit 97 Stimmen das drittbeste) hat sie dazu beigetragen, dass die SPD-Fraktion nur einen Sitz verloren hat und die CDU ihre absolute Mehrheit im Gemeinderat verloren hat (dabei muss die CDU-Stimme des Bürgermeisters – es gab keinen Gegenkandidaten – mit beachtet werden).

(2) Bei dem Wahlverhalten in diesem besonderen Stimmbezirk in einem Dorf mit 6.500 Einwohnern hat die traditionelle CDU-Bindung (im katholischen Münsterland) kaum noch wahlentscheidende Bedeutung, aber die Verankerung in der Nachbarschaft ist wichtig (und das gilt in diesem Fall sowohl für SPD und Grüne).

(3) Für junge Wählerinnen und Wähler (unter 20 Jahre) und Neubürgerinnen und Neubürger (so meine Vermutung für das Gebiet um ehemals Lohoffs Mühle) ist nicht so sehr die bisherige Leistung in der Kommunalpolitik entscheidend, sondern überregionale, landesweite (durch die Medien in jedes Haus übertragene) Tendenzen und Stimmungen schlagen (neben dem örtlichen Bekanntheitsgrad der Bewerberinnen und Bewerber) durch und beeinflussen das Wahlverhalten. Sonst ist der Wahlerfolg der Grünen (in diesem Fall mit 2 bis 10 Stimmen Mehrheit) m.E. nicht zu erklären.

Soweit meine Überlegungen vor Ort. Nun zur Kreisebene.

Meine (insgeheime) Prognose, dass bei der Landratswahl die Grünen-Kandidatin in die Stichwahl käme, lag eindeutig falsch; sie blieb bei unter 20 %. Und es ist kein Trost (auch für die Grünen nicht!), dass unser Kandidat Matthias (SPD) 0,22% Stimmen weniger erhielt. Aber ich blicke nicht zurück, sondern addiere 18,70 % und 18,92 % zusammen; das ergibt mehr als 35 %! Ein gemeinsamer Kandidat oder eine gemeinsame Kandidatin von SPD und Grünen (und vielleicht noch UWG; von den Linken ganz zu schweigen) wäre zumindest in die Stichwahl gekommen.

Nun ahne ich, wie meine Genossinnen und Genossen aufschreien: Mit diesen (konkreten) Grünen (oder Linken) war eine Kooperation nicht möglich! Geschenkt! Ich blicke in die Zukunft und wiederhole Ergebnisse meiner Analyse:

(1) Stammwählerverhalten stirbt aus (unter 10 % – trotz Ibbenbüren).

(2) Aktuelle bundesweite Themen und Tendenzen schlagen durch; selbst da, wo die Grünen keine Leistungen vorweisen können oder sich in der konkreten politischen Arbeit widersprüchlich verhalten haben.

(3) Nicht direkt parteigebundene Kandidatinnen und Kandidaten, jung und kompetent, haben eine Chance, wenn sie von einem Mehrparteienbündnis unterstützt werden (siehe Bürgermeisterin in Coesfeld, einer ehemals tiefschwarzen Stadt, in der ich über 30 Jahre gearbeitet habe).

Also ziehe ich eine Konsequenz: sowohl vor Ort, wie regional, wie landesweit prognostiziere ich:

Mehrheiten und Direktmandate wird es in Zukunft nur noch in Kooperation zwischen SPD und Grünen (und gegebenenfalls Linken und UWG) geben.

Um Kooperation zu erreichen, muss zu diesem Ziel in den Fraktionen und in Zusammenarbeit mit anderen interessierten Fraktionen ab sofort intensiv gearbeitet werden. Animositäten sind in ihrer Wirksamkeit abzubauen.

Es ist doch ein Witz, dass in der Bundesrepublik zunehmend CDU/CSU und Grüne kooperieren, aber die SPD an der Illusion festhält, die einzige Volkspartei (links von der CDU/CSU) zu sein.

Hinzu kommt, dass wir endlich aus den Veränderungen in unserer Gesellschaft (Zerfall der sog. Mittelschichten, Veränderungen der Arbeitsgesellschaft, Klimaveränderung, weltweite Migrationsbewegungen,

Verschärfung des Gegensatzes von Armut und Reichtum, Gefährdung der Mitbestimmung, der Kompromissfähigkeit und der Sicherung der Grundrechte, auch für Minderheiten in den und durch die parlamentarischen Demokratien, Mangel an Aufklärung und Selbstbestimmung in den bisher relevanten Institutionen wie z.B. Kirchen und Gewerkschaften) lernen und nachhaltige Konsequenzen ziehen.

Überleben schafft keine Chancengleichheit

„Nach einer Epidemie sind alle, die noch da sind, Überlebende.“

So formuliert Ivan Krastev in seinem in diesem Jahr in Englisch und Deutsch erschienenen Buch „Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert, Berlin 2020 (Ullstein; Is It Tomorrow, Yet? How The Pandemic Changes Europe) auf Seite 10.

Diese Aussage ist wahr und falsch zugleich. Angenommen, es gibt einen Zeitpunkt a, an dem eine Epidemie oder Pandemie „vorbei“ ist, dann sind zwar alle Menschen, die zu diesem Zeitpunkt (noch) leben, „Überlebende“, aber sie waren weder vor diesem Zeitpunkt „gleich“, noch sind sie es nach diesem Zeitpunkt. Entweder ist diese Aussage banal, oder sie ist unwahr, wenn damit „Chancengleichheit“ gemeint ist. Die Ungleichheit der Lebensverhältnisse bleibt: reich oder arm, gebildet oder ungebildet, in Arbeit oder arbeitslos. Trotz möglicher Verschiebungen oder besserer Wahrnehmung verändern sich die jeweiligen sozialen Unrechtsverhältnisse in Bezug auf die Lebensbedingungen der Menschen nicht. Die Forderung nach gerechter Verteilung des produzierten Reichtums und unterschiedlicher Bewertung von persönlichem Eigentum und Eigentum an Produktionsmitteln (in Weiterführung und Differenzierung der entsprechenden Grundgesetzartikel), wie auch einer gleichwertigen Mitbestimmung (Demokratisierung) bleiben unerfüllt. Vielleicht werden diese Forderungen offensichtlicher – trotz staatlicher Schutzmaßnahmen, die diese Wünsche auch verdecken.

Zwar nimmt in Zeiten der Pandemie die Hilfsbereitschaft zwischen den Menschen – auf der Grundlage der Empathie – zu, aber der „Ausbruch“ an Sympathie setzt gerade die bestehend bleibende Ungleichheit voraus, auch wenn sie als „unmoralisch“ empfunden wird.

Ich wehre mich entschieden gegen die zugrunde liegende naturalistische Ideologie, Naturkatastrophen würden die Menschen in gleicher Weise betreffen und zur Durchsetzung der Chancengleichheit strukturell beitragen. Ob ich als Rentner mit regulärem Einkommen oder als arbeitslos gewordener Familienvater eine Pandemie überlebe, ist ein grundlegender Unterschied; wobei schon Überlebenschancen unterschiedlich sein können. Das Risiko ist ungleich, da ich mich unterschiedlich schützen kann.

Wir alle kennen den Spruch: „Im Tode sind wir alle gleich.“ Doch selbst dieser Spruch ist missverständlich. Zwar müssen alle Menschen (als Individuen) sterben – der menschliche Organismus ist endlich –, aber objektive Bedingung wie subjektive Erfahrung des individuellen Sterbens sind – weltweit gesehen – brutal unterschiedlich. Die Einforderung, die Würde aller Menschen zu achten, ist ein Postulat, ein kategorischer Imperativ, der umgesetzt werden muss (individuell wie strukturell). Insofern bin ich ein aufgeklärter Realist und bestimme – im Sinne von Hannah Arendt – den Menschen als „sterblichen Schöpfer“. (Vgl. die entsprechenden Reflexionen in meinem 2020 erschienen Buch „Aufgeklärter Realismus“.)

Staat und Verwaltung können zwar zur Sicherung des Allgemeinwohls und zum Schutze die häusliche Domestikation anordnen und erzwingen, aber damit wird die Struktur der Lebensverhältnisse nicht grundsätzlich geändert. Zwar werden in Zeiten einer Pandemie Mängel an gesetzlichen Maßnahmen sichtbar oder Ideologien erkennbar und der Druck der Aufklärung kann sich verstärken, aber um es floskelhaft auszudrücken:

Naturgewalt schafft nicht die kapitalistische Produktionsweise ab.

Der Grundwiderspruch der Marktwirtschaft, in der alle Güter in Waren verwandelt werden, bleibt bestehen. Aber ich hoffe, dass dies immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft erkennen und ihre Lebenspraxis verändern.

Dies verlangt auch eine strukturelle Änderung der bestehenden ökonomischen Verhältnisse. Ich empfehle eine kritische Analyse und Aneignung von Paul Mason: Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie (Im Englischen Original: PostCapitalism. A Guide in Our Future, London 2015), Berlin 2018 (Suhrkamp). Mason zeigt auf, wie aus den Trümmern des Neoliberalismus eine gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft errichtet werden kann.

Kontrollverlust bei Pandemien – und die Schwäche der Gewerkschaften

Pandemien unterscheiden sich von Naturkatastrophen „traditioneller“ Art dadurch, dass ihre Dauer langfristig und ihre zeitliche Wirkung (relativ) unbestimmt ist; sodass man von einem Ende – dann beginnt das „Aufräumen“ – kaum sprechen kann. Das erzwingt staatlicherseits längerfristige Schutzmaßnahmen mit ungewissem Ende bzw. in wiederkehrenden Formen.

Pandemien wirken nicht nur schubweise, sondern auch weltweit – und sind kaum regional eingrenzbar, anders als Tornados oder Erdbeben; trotz deren verheerender Wirkung (z.B. bezüglich der Anzahl der Toten und Verletzten). Die längerfristig verwaltungsseitig verordnete und erzwungene Domestikation (auch mit polizeilicher Gewaltausübung) bewirkt eine soziale Verunsicherung, die gerade bei jungen Menschen zu eruptiven Gewaltausbrüchen und zum zeitweiligen Verlust individueller Kontrolle führen kann.

Dieser Kontrollverlust wird dadurch verstärkt, dass die zeitgleiche, intensive Medienberichterstattung es dem Einzelnen nicht mehr erlaubt, das subjektiv wahrgenommene Bedrohungsszenario zu verarbeiten oder zumindest auszublenden.

Eine regionale Konzentration der Personen, die durch das Virus angesteckt wurden, wie z.B. aktuell in Großschlachtereien und im Wohnumfeld der dort arbeitenden, zum Teil ausgebeuteten Arbeiterinnen und Arbeitern, zeigt die relative Unfähigkeit oder den Unwillen der staatlichen Instanzen, solch „Ausbrüche“ zu verhindern, die industrielle Fleischproduktion, also den Kreislauf von Massentierhaltung, Massentierschlachtung und die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft zu verbieten.

Offensichtlich ist auch die Schwäche der Gewerkschaften, die Interessen der ausgebeuteten „Wanderarbeiter“ wirksam zu vertreten und menschenwürdige Arbeits- und Wohnbedingungen zu erzwingen. Ich frage mich, wo der öffentliche und wirksame Protest und Widerstand des DGB und der zuständigen Einzelgewerkschaften bleibt, um solche Unternehmerstrukturen zu zerschlagen, die schon der sozialen Marktwirtschaft in unserer Gesellschaft zuwiderlaufen?

Nun droht die EU-Kommission den betroffenen Staaten mit einer neuen Richtlinie, da die bestehende EU-Entsenderichtlinie möglicherweise nicht ausreicht. Der zuständige EU-Arbeits- und Sozialkommissar Schmit aus Luxemburg formuliert: „Saisonarbeiter müssen gleichberechtigt zu allen anderen Arbeitskräften behandelt werden … Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. Aber ich frage mich: Wo bleibt der lautstarke und zielgerichtete Protest der Gewerkschaften in Europa? Die strukturelle Schwäche der europäischen Gewerkschaftsbewegung verhindert, die Interessen der Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter in Europa wirkungsvoll zu vertreten und die menschenverachtende Ausbeutung zu beenden.

Chaos produzierende „Randalen“ sind auch eine Folge aus der „Unfähigkeit“ der Gewerkschaften, organisierten, wirksamen und zielgerichteten Widerstand gegen diese Unternehmerstruktur der industriellen Fleischproduktion („Schlachtindustrie“) zu entwickeln, um diese Strukturen abzuschaffen. Übrigens trifft diese Kritik nicht nur Einzelunternehmer wie Tönnies, die auch als Fußballfunktionäre das seit römischer Zeit bekannte Spiel „Brot und Spiele“ betreiben, sondern auch genossenschaftliche Unternehmen wie Westfleisch, in denen die Landwirte (mit ihrer Massentierhaltung) das Sagen und den Gewinn haben. Die gesamte Produktionskette ist menschenunwürdig und allein am Eigennutz orientiert.

Kommunikation als Lernprozess? – Telefonieren oder Handeln per Handschlag

ICH gehöre zu den Menschen in Deutschland, die zu Ende des Zweiten Weltkrieges noch während der Nazi-Diktatur geboren wurden und in der sog. Nachkriegszeit ohne Telefon aufgewachsen sind; oder wie wir am Niederrhein zu sagen pflegten: die ohne Telefon groß geworden sind.

WIR kannten nur das Radio, entweder als Volksempfänger für Kriegsstandsmeldungen und Bomberangriffe, eingebettet in politische Propaganda, oder als Begleiter (für meine Mutter in unserer Wohnküche) mit Schlager- und Volksmusik. Daher kannte ich – fast auswendig – Willy Schneiders Lied: „Man müsste nochmals 20 sein und so verliebt wie damals …“ – oder die gleich große (und alte) Conny Froeboes mit ihrem geträllerten: „Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein und dann raus ins Schwimmbad …“ – das Problem: ich hatte und habe keine kleine Schwester.  Ich blieb Einzelkind (overprotected durch meine Mutter) – und musste mit meinem Vater wöchentlich ins städtische Hallenbad.

Nach der Währungsreform stand in unserem Wohnzimmer, das nur an hohen Feiertagen und bei besonderem, seltenen Besuch geheizt wurde, ein großes Blaupunkt-Radiogerät. Dort durfte ich sonntags nach dem Mittagessen – wohlverpackt in Decken im guten Sessel Kinderfunk hören: „Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv“.

Der kleine Radioempfänger in der Wohnküche auf dem Küchenschrank diente sowohl der Unterhaltung wie der Information durch die Nachrichtensendungen des NWDR. Gestalt wie Gebrauch eines Telefonapparates (der hing noch im Flur an der Wand) habe ich erstmals im Haus des Arbeitgebers meiner Mutter, einem umtriebigen und kinderfreundlichen Viehhändler aus dem niederrheinischen Umland, wahrgenommen.

Meine Mutter war als Buchhalterin bei diesem Viehhändler beschäftigt und montags in aller Frühe wurde sie von ihm mit seinem Mercedes abgeholt, um auf dem Düsseldorfer Schlachthof den Viehverkauf finanziell zu regeln. Ab und zu, wenn mein Großvater zum Kinderhüten nicht zur Verfügung stand, durfte ich mitfahren (die ersten Autofahrten in meinem Leben) und nach dem Schlachthofbesuch waren wir noch im Haus des Viehhändlers; dort musste meine Mutter die Buchhaltung so regulieren, dass illegale Transaktionen gegenüber dem Finanzamt nicht auffielen – und ich erlebte das Telefon als Medium des An- und Verkaufs von Kühen und Schweinen.

Schon auf dem Düsseldorfer Schlachthof hatte ich seltsame, mir fremde Formen der Kommunikation zwischen den Viehhändlern und den kaufenden Metzgern erlebt. Der Viehhändler verkaufte im Auftrag der Bauern – in meinem Fall meist aus Friesland und Oldenburg – das Vieh stückweise an die Metzger, die morgens früh in den Schlachthof gekommen waren und vor dem Kauf und der Schlachtung das Vieh begutachteten. Beim Geschäftsgespräch zwischen Viehhändler und Metzger wurde ein Kilopreis für jedes Rindvieh ausgehandelt, in abgekürzten Sprachfetzen und mit wiederholtem gegenseitigen Schlagen der Handflächen, bis durch einen endgültigen Handschlag der Verkauf besiegelt war.

Jetzt begann die vertrauensvolle Arbeit meiner Mutter; sie musste den Kilopreis verbindlich notieren; dann wurden die Tiere gewogen; das Gewicht wurde ebenfalls notiert – und meine Mutter errechnete den Gesamtpreis. So weit, so gut oder schlecht für Käufer oder Verkäufer. Denn zwischen Verkauf und Waage wurden die Tiere, die laut brüllten, mit Wasser getränkt. Die Viehknechte beruhigten mich, indem sie sagten, der Durst der kurz vor der Schlachtung stehenden Kühe und Schweine müsse natürlich gelöscht werden. Schon damals war ich unsicher, ob diese Aussage der Wahrheit entsprach, denn zwischen den Verkäufern, Käufern und Knechten gab es immer wieder Rangeleien; laut und für mich unverständlich. Es ging um das verbindliche Gewicht der Tiere; denn danach richtete sich der Gesamtpreis.

Heute weiß ich, welche Rolle meine Mutter in diesem Geschacher spielte: sie galt in ihrer feinen Kleidung als unangreifbar und ihre Notizen über Preis und Gewicht waren verbindlich. Für den Zwischenhändler war diese Arbeit unschätzbar günstig – und so durfte sie später im Hause des Viehhändlers und seiner Frau sich für den Eigenbedarf Butter stampfen und von Zeit zu Zeit eine Rinderzunge mitnehmen – für meinen Vater und bis heute für mich eine Delikatesse.

Zurück zum Telefon an der Wand. Wenn ich mich recht erinnere, dienten die damaligen Telefongespräche allein dazu, die Viehtransporte zwischen Friesland und dem Schlachthof in Düsseldorf terminlich zu organisieren. Selten rief ein Landwirt vor Ort an, weil er eine Kuh oder ein Schwein verkaufen wollte oder eher musste. Hausschlachtungen waren an der Tagesordnung und der Viehhändler musste schon eine gehörige Überredungskunst einsetzen, wenn eine Kuh vom Niederrhein den Weg ins Schlachthaus antreten sollte. Es war Nachkriegszeit und Fleisch Mangelware.

Am Telefon wurden Gespräche vereinbart, aber Kaufgespräche niemals abgeschlossen. Wie sollte auch der notwendige Handschlag (oder mehrere Handschläge) medial übersetzt werden? Das Telefongespräch (abgesehen von der öfteren Unterbrechung oder mangelnder Qualität der Übertragung) diente – kurz und knapp – der Terminvereinbarung, niemals dem Kaufabschluss. Kaufgespräche geschahen in Augenhöhe, manchmal stimmgewaltig – und ohne schlagende Hände kam kein Deal zustande.

Zugegeben, diese kommunikative Situation führte auch – bewusst oder unbewusst – zu Missverständnissen oder Betrug. Wurden Betrug oder Täuschungsabsicht erkannt, dann war das Kaufgespräch „ein für allemal“ beendet; man war „übers Ohr gehauen“ worden. Übrigens kannte der Viehhändler seine „Pappenheimer“ und arbeitete mit einem Vertrauensvorschuss, der auf Erfahrung beruhte. Natürlich war auch der Kaufvermittler ein Schlitzohr: er konnte vortäuschen, was er nicht war, wenn er sprach und handelte.

Das wussten auch seine Handelspartner. Aber da gab es noch meine Mutter, die ehrenhafte, korrekte Buchhalterin aus katholischem Hause; sie brachte aus der Not, ihre Familie zu ernähren, ihre Tugend, ihre Tadellosigkeit in das Geschäft des (Vieh-)Marktes ein. Hinzu kam, dass sie eine Verbündete hatte: die Ehefrau des Viehhändlers. Beide konnten verhindern, dass er zu oft gerichtlich belangt wurde (und er seinen Gewinn verspielte). Zwar gelang das nicht immer, und die Geschichte fand kein glückliches Ende.

Zurück zur Struktur von Kommunikation: Was lernen wir über die Struktur von Sprachspielen im Medium der Telefonübertragung? Mich zumindest hat diese frühe Erfahrung zu telefonieren – in diesem mir fremden Milieu – bis heute geprägt; telefonieren dient mir (wenn ich nicht schreiben oder mailen kann) der Informationsweitergabe und ersetzt kein Gespräch „auf Augenhöhe“. Ich muss mich anstrengen, wenn ich Erfahrungen und Emotionen übermitteln soll oder will. Am liebsten unterbreche ich und bitte um ein „persönliches“ Gespräch. Wenn das die Situation nicht erlaubt, verharre ich in einer Notsituation.

Doch ich muss, schon wenn ich andere Familienmitglieder beobachte, feststellen, dass der gewohnheitsmäßige Gebrauch des Mediums Telefon die kommunikative Situation verändert hat: Ehefrau und Tochter führen Dauergespräche mit ihren Freundinnen am Telefon, in denen sie auch „ihr Herz ausschütten“ können. Was bedeutet das für das Medium Telefon und die Struktur der Kommunikation?

Es gibt keine „digitale“ Kommunikation, sondern einen digitalen Informationsaustausch (notwendiger- und sinnvollerweise), da die Wahrnehmung der Kommunikationspartner, realer Menschen, eingeschränkt, möglicherweise verzerrt oder gestört oder manipuliert ist. Die Möglichkeit oder Notwendigkeit (um störende Nebengeräusche zu vermeiden) stummzuschalten, zeigt die Verkehrung gegenüber zwischenmenschlicher Kommunikation. Disziplinierung, und nicht Empathie (oder auch Antipathie), wird zum Maßstab des Informationsaustausches.

Das ist für den Austausch von Informationen (z.B. im Straßenverkehr oder in den Wissenschaften) notwendig (Prinzip der Eindeutigkeit), zumindest hinreichend für das gemeinsame Verstehen der Information, aber für zwischenmenschliche Wahrnehmung unzureichend. An menschlicher Wahrnehmung sind Augen, Nase, Ohren, Hautkontakt und Körperhaltung beteiligt und werden im Gehirn verarbeitet.

Natürlich weiß ich, dass auch Zustimmung oder Ablehnung, Empathie der Antipathie symbolisch mitteilbar sind – die Mobile-Aktivitäten zeigen es in zunehmendem Maße  und das Angebot an symbolischen Zeichen wird immer größer, aber der spontane „Austausch von Gefühlen“ geht verloren; bzw. ist manipulierbar. Zwar ist auch der ausgebildete Schauspieler in der Lage, unterschiedlichen Rollen ein ausdruckstarkes „Gesicht“ zu geben, aber in diesem Fall ist das ein Resultat seiner beruflichen Leistung; jedoch im Fall der Handy-Kommunikation reicht ein Tastendruck. Hinzu kommt, dass gezeigte Emotionen von Außenstehenden kontrollierbar werden.

Grundsätzlich stellt sich bei allen Formen menschlicher Kommunikation das Verhältnis von Distanz und Nähe. Mit welchen Mitteln ist z.B. ein „vertrautes Gespräch“ herstellbar, selbst wenn die Gesprächspartner weit voneinander entfernt sind? Das Verhältnis von Distanz und Nähe ist nicht durch die Entfernung der Gesprächspartner voneinander bestimmbar. Dies lässt sich durch ein uraltes Mittel der Kommunikation klären: den Brief. Und die Vertrautheit eines Briefes lebt von der Sprache.

Gegen die Lagermentalität – Zum Ursprung des Christentums

Aus dem Brief an die Hebraier (13,13-14):

Daher wollen wir hinausgehen zu ihm (Jesus Christos), außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend, denn nicht haben wir hier eine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. (Übersetzung: Münchener NT) (Vulgata: „extra castra“; NT gr.: ménousan/méllousan pólis; vulg./lat.: civitas)

Das ursprüngliche Christentum ist eine messianische Täuferbewegung innerhalb des Judentums in der damaligen Zeit, deren Gemeinden sich, so der Hebräerbrief (entstanden vor der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die römischen Truppen), als „außerhalb des Lagers“ verstehen, also keine Tempel- und Opfer-orientierte Religionsgemeinschaft sind. Diese Gemeinschaften haben keine „bleibende polis“, sondern erinnern sich an und bekennen sich zu Jesus aus Nazaret als ihren Messias und suchen eine „neue polis“.

Christen können sich also – im religiösen Sinn – nicht auf ein räumliches Zentrum rückbeziehen; weder auf Jerusalem (mit dem Tempel), noch Konstantinopel noch Rom. Denn sie leben und handeln weltweit „außerhalb des Lagers“; das ist ihr universaler Auftrag. Überall, wo sie sich im Namen und Auftrag des Messias (Christos) Jesus zusammenfinden und sich seiner kenosis erinnern und seiner Erlösung (der Welt) gedenken und diese durch ihr Verhalten bezeugen, sind sie zu hause.

Religionen beziehen sich auf ein religiöses Zentrum; daher spreche ich von religio als Rückbezug. Judentum wie Christentum sind durch die Exodus-Struktur gekennzeichnet; kennen aber auch – sekundär – den Schöpfungsmythos (erzählt im Buch Genesis). Das Christentum erwartet und erfährt (als kairologisches Ereignis – in der Deutung des Paulus aus Tarsus) den Beginn der „Gottesherrschaft“. Übersetzt vom theozentrischen Weltbild in das anthropozentrische Weltverständnis bedeutet das die konkrete Utopie der Erlösung, die befreit und verhindert, dass Zweifel und Endlichkeit in Verzweiflung und Vernichtung umschlagen.

Daher akzeptieren aufgeklärte Christen keine „Lagermentalität“; sie ziehen sich nicht in ihre „Kirchen“ zurück, sondern ihre Form der „Entweltlichung“ bedeutet, sich nicht den bestehenden Verhältnissen anzupassen, sondern Verantwortung für die Menschen und die Welt zu übernehmen.

Zum Hintergrund der Argumentation des „Briefes an die Hebraier“

Der Text des „Hebräerbriefes“ ist seiner Argumentation nach ein Traktat eines Gelehrten der Priestertheologie des hellenistischen Judentums, der gelernt hat, mit der biblischen Tempel- und Opfertheolgie zu argumentieren. Die Schärfe seiner Kritik am Tempeldienst und Opferkult (in Jerusalem) besteht darin, dass er diese Opfertheologie allein auf Jesus, den Messias, bezieht und die Adressaten seiner Argumentation, sog. „Judenchristen“, vor einem Rückfall in die Opferpraxis des Tempels in Jerusalem schützen will. Der Kontext im 13. Kapitel des Hebräerbriefes verdeutlicht dies:

Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit.

Lasst euch nicht durch schillernde und fremdartige Lehren verführen. Denn es ist gut, dass das Herz gefesselt wird durch Gnade, nicht durch Speisegebote; die sie befolgten, hatten keinen Nutzen davon.

Wir haben einen Altar, von den zu essen keine Vollmacht hat, wer dem Zelt dient. Denn die Leiber der Tiere, deren Blut der Hohe Priester als Sühnopfer ins Heiligtum hineinbringt, werden außerhalb des Lagers verbrannt.

Darum hat auch Jesus, um durch sein eigenes Blut das Volk zu heiligen, außerhalb des Tores gelitten.

Lasst uns also vor das Lager hinausziehen zu ihm und seine Schmach tragen, denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Durch ihn wollen wir Gott allezeit als Opfer ein Lob darbringen, das heisst die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen.

Vergesst nicht, einander Gutes zu tun und an der Gemeinschaft festzuhalten, denn an solchen Opfern findet Gott Gefallen.

(Hebr. 13,8-16 in der Übersetzung der Zürcher Bibel)

Schärfer kann die Kritik an den Speisegeboten und der Opfertheologie in der Sprache der jüdischen Priestertheologie (Nutzlosigkeit der Speisegebote und die Hinrichtung Jesu außerhalb des Tempelbezirks als einzig sinnvolles Blutopfer der „Heiligung“) nicht formuliert werden, auch wenn für aufgeklärte Menschen (auch Christen) unserer Zeit diese weltbildbezogene Denkweise fremd und unverständlich bleibt. Diese Kritik muss also in Bezug auf unsere Lebenspraxis übersetzt werden.

Ich fasse zusammen:

Der Verfasser der Argumentation des sog. Hebräerbriefes polemisiert gegen die „Lagermentalität“ derer in seinem Freundeskreis (der getauften messianischen Juden), die sich weiterhin am Tempelkult des Hohen Priesters und der dort stattfindenden Opferpraxis orientieren. Ich unterstelle, der Tempel in Jerusalem ist noch nicht durch die römischen Legionäre zerstört ( und das spricht für eine Entstehung des Briefes eindeutig vor 70 n. Chr.). Die Gegenargumentation in der Sprache der Priestertheologie ist:

(1) Es gibt nur einen Hohen Priester, und das ist Jesus aus Nazaret, der vor den Toren der Stadt (außerhalb der Mauern) hingerichtet wurde;

(2) Sein Tod ist das einzige sinnvolle Opfer zur Erlösung der Menschen;

(3) Und deshalb haben die Messias-Vertrauten (die Christen) hier (in Jerusalem) keine „bleibende polis“, sondern sie sind Suchende der „zukünftigen polis“.

Christen haben keinen heiligen Ort, kein Kultzentrum – nur Erinnerungsorte -, denn als „Erlöste“, als freie Menschen können sie überall „Gott loben“ – für die Befreiung danken (Eucharistie als Danksagung), sich sozial (für ihre Mitmenschen) engagieren (Diakonie/Caritas als Konsequenz) und (um der Erinnerung und Bezeugung der Erlösung willen) Gemeinschaft halten (ekklesia).

Ich bin ein Querleser.

Ein Marginalist ist ein Mensch, der einen Text – sei es Buch oder Aufsatz – beim Lesen mit Randglossen (Marginalien) kommentiert. Ich überlege, wie ein Mensch zu bezeichnen ist, der die Unart hat, ein Sachbuch von hinten her zu lesen.

Ich frage mich vorab, wie er sich verhält, wenn das Buch in hebräischer Sprache geschrieben und daher von hinten nach vorn gestaltet ist. Da ich diese Unart habe und sie bei Sachbüchern meiner Fachgebiete praktiziere, steht meine Antwort aus.

Meine Antwort ist komplizierter, als es zunächst den Anschein hat. Zwar könnte ich scheinbar problemlos mit der Umkehrung antworten: Bücher im Hebräischen, wie z.B. die Bibel, blättere ich von vorn nach hinten auf. Aber mit dieser bloßen Umkehrung (das Aufschlagen der hebräischen Bibel von vorne nach hinten ist sinnlos) gegenüber erworbenen Sachbüchern ist nicht ausreichend begründet, warum ich diese Unart pflege.

Mich interessiert als erstes das Literaturverzeichnis am Ende eines Sachbuches: Gibt es Hinweise auf die von der Autorin oder dem Autor gelesene – oder eingesehene – Literatur oder ist allein die im Text zitierte Literatur aufgeführt? Und zweitens: Wie korrekt bzw. konkret wurden die Literaturtitel angegeben; wurde zwischen Primär- und Sekundärliteratur unterschieden; welche Auflage eines Buches wurde, wenn von Bedeutung, benutzt; welche (kritische) Gesamtausgaben wurden herangezogen?

Um zwei Beispiele zu nennen: Bei einer Schrift zur Kritik der Politischen Ökonomie des Karl Marx ist es für mich schon informativ, ob nur die MEW-Ausgabe oder auch die MEGA-Ausgaben (alt wie neu) gebraucht wurden. Oder bei einer neuen Heidegger-Monografie ist es für mich schon wesentlich, ob die erst im vorletzten Jahr veröffentlichten „Schwarzen Hefte“ mit beachtet wurden.

Eine weitere Einsicht in das Literaturverzeichnis lässt erkennen, welche wesentliche Literatur nicht aufgenommen wurde; aus Nachlässigkeit oder aus Absicht? Diese Einsicht ist auch durch meine Neugierde und Eitelkeit begründet: Warum hat der Autor mich nicht zitiert, obwohl er doch hätte wissen müssen …

Umfang und Inhalt eines Literaturverzeichnisses sind immer auch Ausdruck der Schulenbildung in der scientific community – und Beachtung oder Missachtung einer Schrift ist auch Ausdruck der Wertschätzung. Daher ist ein Sach- und Personenverzeichnis nützlich und interessant: Wie häufig werden z.B. Marx, Kant oder Hegel zitiert? Oder die Gegenfrage: Wieso werden in einer 2014 erschienenen Schrift über die Sinnfrage („Das Göttliche“) Bloch und Hegel nicht genannt?

Ich gebe zu, auch die Literaturhinweise in meinen Schriften sind subjektiv ausgewählt; aber ich bleibe dabei: Literaturverzeichnisse geben einen ersten Eindruck auf den „Hintergrund“ des jeweiligen Textes.

Ich kehre zu meiner Ausgangsfrage zurück. Es mag nun verständlich sein, warum ich beim Lesen eines Buches mit dem Ende beginne. Das gilt natürlich nicht für einen Kriminalroman (den ich sehr selten nur lese), aber bei der Belletristik wirkt meine Unart manchmal nach; aber das tut dem Genuss an sprachlich guter Literatur keinen Abbruch.

Bleibt die Frage, wie ich meine Leidenschaft tituliere. Ich bin nicht nur Marginalist, sondern auch Querleser. Und als aufgeklärter Querdenker mäandere ich mit meinen Gedanken und in meinen Texten. Die Hoffnung bleibt, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.

Bemerkungen zur Randglosse. Bekenntnis eines Marginalisten

Vorbemerkung:

Unter dem Stichwort: „Peripherie 2020“ fasse ich Vorüberlegungen zu einem neuen Buchprojekt zusammen, in dem ich Kommunikationsprozesse untersuche und bewerte; und zwar aus der Peripherie des Alltags unserer Gesellschaft. Wie erfahren und bewerten Menschen „vom Rande aus“ Aktionen und Erregungen im Zentrum der Gesellschaft?

Raumphilosophische Reflexionen und soziologische Beobachtungen sollen die ungelöste Frage klären: „Was denken und was tun, wenn es den Archimedischen Punkt nicht gibt – weder im Zentrum noch an der Peripherie -, um die Welt aus den Angeln zu heben?“ Oder nüchtern gefragt: Ist, und wenn ja, wie ist Umkehr (sinnvoll, nachhaltig und verantwortlich) möglich?

Bemerkungen zur Randglosse. Bekenntnis eines Marginalisten

 Randglossen (Marginalien) sind Kurzkommentare, meist stichwortartig, die verstärken, in Frage stellen, bestreiten, zustimmen oder ergänzen; wie immer auch: sie beziehen sich auf einen seitlich vorgegebenen TEXT (oder auch ein Bild oder eine Grafik). Der Randglossenschreiber – ich nenne ihn einen Marginalisten – beabsichtigt zu erklären, zu erläutern, den nebenseitigen Text im besonderen zu beachten. Die Marginalie dient also dem besseren Verständnis; sie verbessert es (bestenfalls) oder verschlimmbessert das Verständnis. Zumeist ist sie nicht aus sich selbst verständlich – es sei denn, sie enthält eindeutig wertende Urteile; entweder pejorativ (unsinnig!, sinnlos!) oder lobend (klasse! o.k.!) oder sie weist auf Unklarheiten hin (???). Diese müssen aber nicht dem Text geschuldet sein, sondern können auch durch die mangelnden Kompetenzen des Lesenden entstehen: durch einen Mangel an Verstehen oder Verständnis.

Alles in allem: die Randglosse hat einen mehrdeutigen und wankelmütigen Stand; vor allem aber, sie ist, was die Differenzierung angeht, von der Breite des Randes abhängig. So stellt sich schon bei der Buchgestaltung – dem Druckbild – die Frage, wie viel Raum dem Rand auf der jeweiligen Druckseite eingeräumt wird.

Extrem ist in dieser Hinsicht die Tageszeitung: sie kennt keinen Rand, sie will keine Randglossen, obwohl bei der Flüchtigkeit und Einseitigkeit von Zeitungsartikeln Bemerkungen notwendig wären. Weiterhin ist die Vorstellung extrem, ein Buch bestände nur aus Randglossen, entweder schon in gedruckter Form vorliegend oder als Leerseite. Aber welcher Verlag würde ein solches Monstrum herausgeben? Auch wenn in manchen Verlagen sog. Leerbücher, die aus leeren Blättern in Buchdeckel gebunden bestehen, Konjunktur haben. Vor mir, auf dem Schreibtisch liegt ein solches Exemplar aus dem Suhrkamp-Taschenbuch-Verlag: Leerbuch und Verwirrbuch zugleich: Auf den schwarzen Buchdeckel des „Notizbuchs“ ist mit grüner Farbe eingeprägt: Die Lust am Text und auf der Rückseite wird Roland Barthes zitiert: „Den Text, den Sie schreiben, muss mir den Beweis erbringen, dass er mich begehrt.“ Ich bin nicht sicher, ob dieses Cover stimuliert oder abschreckt; immerhin ist es bei mir schon in Gebrauch. Auf der ersten Seite habe ich mit blauer Tinte eingetragen: Leben an und in der Peripherie. Autobiografisches Projekt. Januar 2020.

Peripherie – wir sind im Thema: Eine Zwischenlösung ist denkbar. Ein einzelnes Wort auf der Textseite bedarf umfassender Kommentierung am Rand. Ich konstruiere ein Beispiel: Auf der Textseite ist gedruckt HERBSTZEITLOSE; dann würde in meinem Fall (Ich als Leser) der Rand mit Bemerkungen überquellen.

Natürlich kann ich mir in diesem Fall eine Alternative überlegen: die Fußnote. Aber sie verschlimmbessert die Problemlage, wie Bücher mit wissenschaftlichem Anspruch im Übermaß dokumentieren: eine Zeile Text, dann die zugehörige Anmerkung über zwei Seiten. Es wäre natürlich möglich, die Fußnoten separat am Ende des Textes zu versammeln; aber diese Anordnung kann das Verstehen des Textes erschweren; wie jeder weiß, der sich mit wissenschaftlichen Texten herumschlagen musste und muss.

Einen spezielles Verhältnis von Text und Anmerkung zeigt sich bei Texten und Schriften, die der Qualifikation der Schreibenden dienen; z.B. Dissertationen, in denen (unsichere) Forschungsergebnisse oder Lektüreerinnerungen in die Fußnoten gepackt werden, während der Text selbst nur das Unproblematische zum Ausdruck bringt. Abgesehen davon, dass der kritische Leser in diesem Fall keine Möglichkeit der Kommentierung am Rande hat (es bleibt nur die Strichbildung mit dem Bleistift), ist die Hypothesenbildung in den Fußnoten eine Mogelpackung, entweder aus Unsicherheit des Autors, oder aus der Unfähigkeit, die Hypothesenbildung präzise bestimmen zu können.

Aber die „gemeine“ Fußnote hat im (internationalen) Qualifikationszirkus noch eine weitere Funktion: sie dient der Quellenangabe (bei Zitaten), deren Anzahl mit quantitativen Methoden geprüft werden kann, um Rückschlüsse auf die bisherige oder zukünftige Reputation der Wissenschaftlerin oder des Wissenschaftlers zu ermöglichen.

Dieses Verfahren (der Umgang mit zitierten Schriften und Zitaten) hat sich in der heutigen scientific community vielfach durchgesetzt und kann trickreich beeinflusst werden, ohne dass die zitierten Quellen zur Hypothesenbildung der Sache nach entscheidend beitragen. Bei Qualifikationsarbeiten kann es entscheidend sein, die Literaturliste der Prüfer zu übernehmen, so dass aus der eigenen Literaturliste (am Ende der Arbeit) schon die Zugehörigkeit zur jeweiligen community erkennbar wird. Wer seine Qualifikationen im jeweiligen Wissenschaftsbetrieb erfolgreich erreicht hat, der streut seine eigenen Veröffentlichungen mehr oder weniger geschickt in den Anmerkungsapparat weiterer Veröffentlichungen.

Kehren wir nochmals von den Anmerkungen, die ein Autor selbst verfasst, zu den Randglossen zurück, die fremde Leser eintragen, sofern das Buch gekauft wurde und nicht ausgeliehen ist. Nichts ist ärgerlicher, als ein Buch mit (kaum lesbaren) Einträgen fremder Hand lesen zu müssen, denn bei solchen Bemerkungen ist oft Besserwisserei mit im Spiel. Es sei denn, der bemerkende Leser ist interessanter als der Autor des Buches. Ich erinnere mich, in Weimar sind die Bemerkungen, die Goethe in die Bücher seiner Handbibliothek eingetragen hat, heute besonders gekennzeichnet und daher nachschlagbar.

Und schließlich bekenne ich mich zu der Unart, während des Lesens neuer Bücher diese auf jedem weißen Fleck mit meinen Bemerkungen voll zu kritzeln. Ich hoffe, den Überschuss an eigenen Gedanken beim Lesen einer fremden Argumentation fixieren zu können, damit er mir nicht verloren geht. So habe ich Ernst Blochs „Atheismus im Christentum“ im Erstdruck (Frankfurt am Main 1968, außerhalb der Werkausgabe) nach Jahren wiedergelesen und war überrascht, wie sehr ich meinen früheren Bemerkungen 50 Jahre später noch zustimmen konnte. Aber diese Einsicht spricht eher für die Qualität der Argumentation, weniger für die Kontinuität meiner Zustimmung.

Bemerkungen zur Schriftform meines Buches „Aufgeklärter Realismus“

In eigener Sache.

Nicht nur die Erstkorrektorin (und Erstleserin) meines Manuskriptes „Aufgeklärter Realismus“ Brigitte Schmitter-Wallenhorst (als Ehefrau), sondern auch die Lektorin des Verlages (als Zweitkorrektorin) sind über meinen individuellen und vielfachen Gebrauch der Zeichensetzung (bezüglich Semikolon, Klammer, Gedankenstrich) und die Länge meiner Sätze irritiert.

Diese Irritation, verbunden mit wiederkehrenden Bemerkungen, ist für mich nichts Neues. Dennoch sehe ich mich (fast und aktuell) gezwungen, mich zu rechtfertigen.

Ich antworte zunächst, meine Freundinnen und Freunde kennen das, mit allgemeinen, provozierenden Aussagen:

  • Auch Goethe benutzte eine eigenwillige Zeichensetzung;
  • Wer mäandernd denkt und nachdenkt, der muss auch mäandernd aufschreiben.

Diese zumutenden Aussagen bedürfen der Erläuterung, um Arroganz zu vermeiden und sprachlichen Hochmut abzuwehren. Natürlich ist ein Vergleich mit Goethe inakzeptabel und beendet jede weitere Argumentation. Auch mein situativ üblicher Nachsatz, Goethe habe weit vor Konrad Duden gelebt und geschrieben bzw. schreiben lassen, verschärft nur die Provokation: ich wolle doch wohl nicht Goethe gegen Duden ausspielen und die notwendige Normierung der Schriftsprache grundsätzlich in Frage stellen.

Bevor ich die Problemlage der Zeichensetzung in der heutigen Schriftsprache auf das Thema der Sprach- und Schreibanarchie erweitere oder auf die Kunst der mittelalterlichen Schriftgelehrten in ihren Klöstern, ganz ohne Satzzeichen und Zwischenräumen zwischen der Wörtern Texte lesen zu können, stelle ich nüchtern fest, dass in einer Demokratie (zumindest) das Lesen und Verstehen von Schrift ein Grundrecht ist, das von allen Menschen erlernt werden kann und muss.

Zum Erlernen einer Sprache und (dazugehörigen) Schreibe gehört – um des Verstehens willen – eine Regelhaftigkeit, die das Verstehen sichert – und zwar durch und von allen Menschen in einer Gesellschaft, in einem Land, in der bewohnten Welt.

Kehren wir zur ausgelösten Irritation durch meine Zeichensetzung zurück:

Selbst die heute gültige Vereinbarung zur Zeichensetzung, die der Duden abdruckt, gibt für die Zeichensetzung einen gewissen Spielraum, soweit die (relative) Verständlichkeit oder – bei bestimmten Texten – Eindeutigkeit nicht gefährdet ist.

Schon früher – seit ich philosophische Texte lese und die Resultate meiner Beobachtung und meines Nachdenkens aufschreibe – habe ich meinen persönlichen, erlernten Denk- , Sprach- und Schreibstil mit dem Mäandern eines Baches oder Flusses verglichen. Ich gebe zu, schon die ungewöhnliche Bildsprache reizt mich bis heute. Und ich erweitere meinen Bildvergleich: Auch schlängerndes, ausuferndes Wasser eines Flusses wie z.B. des Rheins, den ich seit Kindestagen (als Niederrheiner) kenne, erreicht (irgendwann) das Meer. Abstrakt formuliert: Auch auf Umwegen kann ich das gesteckte Ziel erreichen; zumindest solange ich das Ziel nicht aus dem Sinn verliere und mich nicht an der folgenden Ideologie fest beiße: Der Weg sei schon das Ziel.

Probleme lösen geschieht nicht auf einem schmalen und geraden Weg, der vorgegeben ist, sondern in einer unübersichtlichen und vielfältigen Landschaft. In dieser Landschaft dienen Wege zur Orientierung, schließen auch Irrwege, Sackgassen und Trampelpfade ein. Es bedarf der Spürnase, aber auch der Vorbereitung durch Landkarte und Kompass sowie gesicherter Vorinformationen, um das Ziel nicht zu verfehlen oder zu verlieren.

Nun will ich im Rahmen meiner Rechtfertigung des speziellen Gebrauchs der Zeichensetzung nicht unterstellen, dass der Umweg die einzig effektive und produktive Strategie ist, Probleme zu lösen. Durch die mäandernde Arbeitsweise kann auch Komplexität vorgetäuscht werden, während einfache Lösungswege Zeit und Energie sparen und dennoch erfolgreich sind. Auch kann meine Ungeduld oder die Erwartung schneller Lösungen (nach den bekannten und eingeübten Schemata) mich dazu verführen, auf lieb gewonnene Gewohnheiten zurück zu greifen.

Zu meiner Verteidigung und zur Klärung erinnere ich an die mittelalterliche „questio disputata“ mit ihrem Wiederholungszwang, um Missverständnisse möglichst zu vermeiden und eine sachgemäße und sinnvolle Argumentation, die alle verstehen, zu ermöglichen. Umständliches Argumentieren – um des Verstehens willen – kann nützlicher sein als subjektives Für-wahr-halten und das Beharren auf der eigenen Meinung.

Verzichtet habe ich in diesen Bemerkungen auf meine Unart, durch kursive oder fette Schreibweise die Bedeutung bestimmter Wörter oder Sätze hervorzuheben (so auch in diesem Text). Ich sehe ein, das Schriftbild wird durch fett gedruckte oder kursiv gesetzte Wörter oder Sätze verschandelt. Dennoch bleibt meine Einsicht, dass Wörter bzw. Sätze nicht gleich bedeutungsvoll sind; und muss dieser Tatbestand nicht gekennzeichnet werden?

In diesem Kontext erinnere ich an die mittelalterlichen Schriftgelehrten in den Klöstern, die in der Lage waren, bedeutende Wörter oder Namen optisch hervorzuheben und alltägliche Phrasen abzukürzen. Aber ich muss dagegen halten: für die gemeine Frau und den gemeinen Mann wurde das Lesen und Verstehen zur Qual und sie waren auf das Hörensagen angewiesen; das ist einer demokratischen Gesellschaft unwürdig.

Der Ursprung des Christentums ist messianisch. Erlösung bedarf der Entmythologisierung und Übersetzung.

Die jüdisch-christliche Bibel beginnt in ihrem ersten Buch (der Genesis) mit dem Schöpfungsmythos, doch strukturell wie existenziell ist diese Erzählung rückblickend sekundär, während der Erlösungsmythos vorausschauend primär ist. Damit meine ich, dass die entscheidende Struktur des Judentums wie des Christentums der Auszug, der Exodus ist; der Auszug aus dem status quo in der Hoffnung auf Erlösung. Diese messianische Struktur relativiert Religion als Rückzug, Rückblick, als Rückbezug.

Meine Unterscheidung zwischen „primär“ und „sekundär“ bleibt missverständlich, wenn sie als chronologische Aussage verstanden wird. Daher konnte die Erzählung von der kommenden „Gottesherrschaft“ (als „Ende der Welt“, als „Endgericht“) in die Irre führen und apokalyptisch ausgemalt werden.

Heutzutage sind (wir) Menschen in der Lage, sich auf der Erde insgesamt selbst zu zerstören, aber diese Möglichkeit der Vernichtung ist mitnichten das „Jüngste Gericht“. „Erlösung“ als Aufhebung allen (vorläufigen) Problemlösens verstehe ich als kairologisches Ereignis. In der Erzählung vom kenosis-Mythos (der radikalen Entäußerung Gottes als Mensch) ist der Messias kein König, kein absoluter Herrscher, sondern ein gewaltloser, mitleidender Mensch, der als Verbrecher hingerichtet wird.

Seine Erhöhung (erzählt im theozentrischen Weltverständnis als „Auferstehung“) bedeutet im anthropozentrischen Weltbild (aufgeklärter Menschen): Erlösung ist die Macht der Ohnmacht, beschreibbar als Oxymoron; radikale Umkehr der menschlichen Machtverhältnisse. Diese existenzielle Erfahrung ist allein beschreibbar als konkrete Utopie. Sie bleibt den Philosophen dieser Welt eine Torheit, den messianischen „Christen“ aber eine befreiende Überzeugung, die ihr Leben verändert und eine weltweite (grenzenlose) Empathie begründet, ohne ihre Sterblichkeit in dieser Welt aufzuheben. Diese Empathie ist im heutigen anthropozentrischen Weltverständnis als kategorischer Imperativ formulierbar: Handle stets so, dass die Würde aller Menschen unantastbar bleibt. Dass dieses Regulativ bis heute weltweit nicht durchgesetzt ist und stets in allen Gesellschaften der Umsetzung und Überprüfung bedarf, ist offensichtlich.

Wenn „Erlösung“ als konkrete Utopie erzählt werden kann, dann muss unter den Bedingungen heutiger Welterfahrung (im Sinne der Aufklärung, die zu Ende gedacht und nicht abgebrochen wird) auch diese Vorstellung entmythologisiert werden, um sie sowohl vor dem chronologischen Missverständnis am Ende des individuellen Lebens, als auch vor der Hoffnung auf ein „Jenseits“(das das „Diesseits“ ablöst) zu schützen.

Ich erinnere an die Reflexion von Dietrich Bonhoeffer (in „Widerstand und Ergebung“):

Man sagt, das Entscheidende sei, daß im Christentum die Auferstehungshoffnung verkündigt würde, und daß also damit eine echte Erlösungsreligion entstanden sei. Das Schwergewicht fällt nun auf das Jenseits der Todesgrenze. Und eben hierin sehe ich den Fehler und die Gefahr. Erlösung heißt nun Erlösung aus Sorgen, Nöten, Ängsten und Sehnsüchten, aus Sünde und Tod in einem besseren Jenseits. Sollte dies aber wirlich das Wesentliche der Christusverkündigung der Evangelien und des Paulus sein? Ich bestreite das. Die christliche Auferstehungshoffnung unterscheidet sich von den mythologischen darin, daß sie den Menschen in ganz neuer und gegenüber dem Alten Testament noch verschärfter Weise an sein Leben auf der Erde verweist. Der Christ hat nicht wie die Gläubigen der Erlösungsmythen aus den irdischen Aufgaben und Schwierigkeiten immer noch eine letzte Ausflucht ins Ewige, sondern er muß das irdische Leben wie Christus ganz auskosten und nur indem er das tut, ist der Gekreuzigte und Auferstandene bei ihm und ist er mit Christus gekreuzigt und auferstanden. Das Diesseits darf nicht vorzeitig aufgehoben werden. Darin bleiben Neues Testament und Altes Testament verbunden. Erlösungsmythen entstehen aus den menschlichen Grenzerfahrungen. Christus aber faßt den Menschen in der Mitte seines Lebens.“

Dieser Reflexion von Dietrich Bonhoeffer stimme ich zu, wenn ich von einem kairologischen Ereignis spreche. Erlösung im messianischen Denken ist kein (altorientalischer) Mythos; sondern die konkrete Utopie verweist auf das zu ändernde und geänderte Leben auf dieser Erde, auf die Freiheit (besser: Befreiung) aller Menschen. Der Mensch bleibt sterblich, aber er ist befreit zu radikaler Menschenliebe; denn der Tod hat keine Herrschaft mehr über ihn, obwohl sein Leben endlich bleibt.

Dieses Ereignis ist (nur) existenziell erfahrbar und widersprüchlich erzählbar. Daher sprechen manche Denker von einer Torheit. Das gilt für (traditionelle) Metaphysiker, als auch für (moderne) Konstruktivisten, wenn diese die Vorläufigkeit des Problemlösens für endgültig halten. Letztere leugnen die Dynamik des Vorläufigen, provisorisch und antizipativ zugleich zu sein.