Methodischer Atheismus statt Apatheismus/Erlösung als messianische Denkform

Unter „methodischem Atheismus“ verstehe ich den bewussten Verzicht, im Alltag, in der Gesellschaft und in den Wissenschaften die „Gotteshypothese“ zur Lösung von Problemen jeglicher Art zu gebrauchen. Unter den Bedingungen des heutigen, aufgeklärten Weltverständnisses ( des anthropozentrischen Weltbildes) müssen und können alle Probleme des Denkens und Handelns ohne Rückgriff auf einen „Gottesglauben“ gelöst werden. Denn der homo sapiens ist ein homo praestans, der für sein Denken und Handeln allein verantwortlich ist.

Von dieser Einsicht sind alle atheistischen Weltvorstellungen (vom Agnostizismus bis zum Apatheismus) streng zu unterscheiden; diese unterliegen der Ideologiekritik (im Sinne von Projektion und Entlastung). Dies gilt auch für theistische Vorstellungen (vom Polytheismus bis zum Monotheismus und Pantheismus). Auch sie unterliegen der Religionskritik, wie sie im Projekt der Aufklärung entwickelt wurde. Grundlage des heutigen Denkens und Handelns ist der „aufgeklärte Realismus“ auf der Basis des anthropologischen Weltbildes, das von einem Universum, einer Welt – und ihren Gesetzmäßigkeiten (inklusive der möglichen Wahrscheinlichkeitsrelationen) ausgeht. (siehe meine Argumentation in meiner Schrift: Aufgeklärter Realismus, Münster 2020).

Unter „Apatheismus“ versteht das „freie Wörterbuch“ (Wiktionary) ungebräuchlich eine Weltanschauung, nach der die Frage nach der Existenz eines Gottes (oder Götter) bedeutungslos ist, weil sie keine nachprüfbaren Konsequenzen hat. Jan Loffeld (in seinem Buch „Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt, Freiburg im Breisgau 2024) übersetzt diesen Begriff mit „religiöser Gleichgültigkeit“ und kennzeichnet damit (religionssoziologisch) eine bestimmte „saekulare“ Haltung.

Der Apatheismus ist für einen aufgeklärten Menschen (am Ende des Anthropozän) keine Lösung der Gottesfrage. Der Atheismus als Weltanschauung verallgemeinert die notwendige Religionskritik (Stichworte: Projektion, Opium) zu einer fragwürdigen Immanenz des menschlichen Bewusstseins; reduziert seine Möglichkeiten (Potenzen) und damit die Wahrnehmung der Realität.

Im heutigen Labyrinth des Denkens und Nachdenkens führt diese Immanenz zur Ideologie des Naturalismus oder des Konstruktivismus. Die Struktur des Problemlösens wird nicht ausreichend erkannt. So vermischt und verwechselt der Rückgriff auf die „Natur“ und ihre Prozesse der Evolution diese Evolution mit der Menschheitsgeschichte. Der Konstruktivismus erhebt das Provisorium (die bloße Vorläufigkeit) zum Ziel und behauptet letztendlich, dass der Weg schon das Ziel sei.

Demgegenüber verstehe ich das menschliche Denken und Handeln als „sterbliche Schöpferkraft“, um Probleme im Alltag, in der Gesellschaft und in den Wissenschaften kooperativ zu lösen. Problemlösen ist daher die Tätigkeit (mit Hannah Arendt spreche ich von „Arbeit“ im weitesten Sinn), die die Menschen – ohne Rückgriff auf eine „jenseitige“ Realität – leisten und verantworten (müssen!)

Diese Arbeit bedarf – bezüglich der Methoden und des Erfolgs – des dauernden Zweifels und der Prüfung (Kontrolle). Daher spreche ich von der Vorläufigkeit allen Problemlösens. Der homo sapiens ist also ein homo praestans, der für seine Arbeit und die gemeinsame Leistung einsteht und einstehen muss (Stichwort: Verantwortung).

Die Zurhilfenahme von Gotteshypothesen würde diese Verantwortung schmälern, auch wenn eine entlastende Wirkung unterstellt wird. Gott als „Schöpfer“ – und sein Werk: die „Schöpfung“ sind mythologische Vorstellungen; Projektionen, entnommen aus den religiösen Sprachspielen des theozentrischen Weltbildes. Ich lasse die Frage, ob solche Sprachspiele eine Bedeutung für die heutigen Menschen haben, zunächst unbeantwortet; aber sie sind in Bezug auf die Vorläufigkeit allen Problemlösens sekundär.

Was bleibt dem aufgeklärten Menschen angesichts dieser Einsicht in den methodischen Atheismus? Seine Handlungen, seine Art, Probleme zu lösen, müssen vorläufig bleiben, korrigierbar, umkehrbar, verbesserbar sein, ansonsten schlägt sein Denken in Dogmatik und Aberglauben um und sein Verhalten wird widersprüchlich, unsachgemäß und menschenfeindlich.

Diese bewusste Vorläufigkeit bedeutet gerade nicht, dass menschliches Bewusstsein statisch und ziellos ist. Ich spreche daher von der Dynamik des Vorläufigen. Worin besteht diese Dynamik grundsätzlich? Meine Antwort: in der (nur) utopisch denkbaren und auf spezielle Weise aussprechbaren Hoffnung auf Erlösung.

In meinem Bild des Labyrinthes für die Arbeit des menschlichen Bewusstseins bedeutet das: das Labyrinth hat nicht nur einen Eingang (Schwangerschaft und Geburt), ein Zentrum (die Mündigkeit), sondern auch einen „Ausgang“ während des sterblichen Lebens: die Erlösung.

Diese Dynamik erlaubt, erzwingt und befreit (zu) Umkehr und Korrektur bei Irrwegen, Holzwegen: sie ermöglicht und ermutigt zu neuen Lösungen.

In der messianischen, konkret utopischen Denkform und den entsprechenden Sprachspielen der Bibel des Judentums und Christentums wird die Hoffnung auf Erlösung konkret und universal: in der Messias-Erwartung. Ich frage mich daher, ob jenseits der „Menschwerdung Gottes“ im Messias/Christus noch sinnvoll über „Religion“ gedacht und gesprochen werden kann. Zumindest sind religiöse Denkweisen und Sprachspiele gegenüber der primären Hoffnung auf Erlösung sekundär.

Was meine ich mit dem Unterschied von primär und sekundär? Sekundär sind religiöse Vorstellungen über den Kosmos und seine Entstehung, die die Menschen im Laufe ihrer Geschichte gebildet und erzählt haben, um ihre Sterblichkeit und Schuldhaftigkeit zu verstehen. Diese Vorstellungen von „Schöpfung“ im allgemeinen und „Erschaffung des Menschen“ im besonderen werden in erzählenden Sprachspielen umgesetzt (z.B. Schöpfungs- und Paradiesgeschichten), die einerseits die Schuldfrage klären sollen, andererseits das menschliche Leben entlasten.

Religionskritisch analysiert lösen diese Erzählungen das Problem der menschlichen Verantwortung für ihr Tun nicht. Sie sind Projektionen, mythische Erklärungsversuche, die Erlösung nicht bewirken. Daher nenne ich diese Vorstellungen und Sprachspiele „sekundär“. Religion bedarf der Aufklärung. Theistische Weltanschauungen – bis zu den Endformen des Monotheismus – lösen das Problem der Sterblichkeit und Verantwortung nicht.

Auch apokalyptische Vorstellungen vom Ende der Welt und dem Endgericht blicken zwar in die Zukunft, bedürfen aber der Übersetzung, damit chronologische Lösungen nicht mit kairologischen Erfahrungen verwechselt werden.

Erlösung im messianischen Sinn zeigt sich, „offenbart“ sich in existenzieller Erfahrung – jenseits von Raum und Zeit. Daher ist diese Erfahrung nur als Utopie denkbar und (ebenfalls) vorläufig beschreibbar. Sie ist nicht beweisbar, aber kann überzeugen.

Dieses konkret utopische ‚Denken, dieses messianische Denken ist meiner Überzeugung nach (als Resultat meines Nachdenkens) keine Theorie (oder Metatheorie bzw. Weltanschauung), sondern realisiert sich in einem speziellen Theorie-Praxis-Verhältnis: die Erlösung – als Befreiung – in der praktischen Umkehr menschlichen Verhaltens.

Das messianische Denken der jüdisch-christlichen Bibel kennt für diesen Umkehrprozess – in seiner dialogischen Struktur – ein zusammenfassendes Wort: agape – mitmenschliche Liebe. Konsequenz dieser Überzeugung ist die weltweite Durchsetzung der Empathie gegenüber allen Menschen. In dieser Perspektive kann ich das Projekt der (weltweiten) Aufklärung zu Ende denken. Die Realisierung dieses Projektes bleibt eine stetige Aufgabe und Verpflichtung.

Auslagerung

Problemlösungen mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz (KI) sind seit jeher ausgelagerte und optimierte Bewusstseinsleistungen, bleiben vorläufig und bedürfen einer sachgemäßen Kontrolle.

Künstliche Intelligenz ist dem Grunde nach kein neues Phänomen der Gegenwart. Die systematische und erfolgreiche „Auslagerung“ von Möglichkeiten (Potenzen) des menschlichen Bewusstseins kennzeichnet die Entwicklung der Menschheit (die Menschheitsgeschichte) von Anfang an.

Diese Entwicklung des homo sapiens im Anthropozän darf nicht mit der biologischen Evolution des Menschen als sterbliches Naturlebewesen verwechselt werden; auch wenn Entstehung und Sterblichkeit des Individuum „Mensch“ seine „Natur“ prägen. Alle ideologischen Spielarten des Naturalismus verwechseln Natur (die Gesetze der Evolution) und Geschichte (der Menschheit, ihrer Gesellschaften und Kulturen).

Auch die religiösen Sprachspiele (Schöpfungsmythen und Paradiesvorstellungen) verfälschen die realen Bedingungen der Entstehung und Entwicklung der Menschheit auf dem Planeten Erde. Diese Projektionen sind durch theozentrische Weltvorstellungen (Weltbilder) geprägt. Ob, und wenn ja, welche Bedeutung diese Projektionen für das Bewusstsein des homo sapiens hatten und haben, kann erst im Rahmen einer religionskritischen Analyse geklärt werden.

Ein Ergebnis aufgeklärten, religionskritischen Denkens kann ich schon vorwegnehmen: Paradiesvorstellungen im Himmel wie auf Erden sind Projektionen des menschlichen Bewusstseins und keine realen Zielvorgaben.

Zurück zur Entstehungsgeschichte des Bewusstseins der Menschen. Schon Erasmus von Rotterdam (zu Anfang des 16. Jahrhunderts) übersetzt den ersten Vers des Prologs des Johannes-Evangeliums (im Anfang war der logós) vom Griechischen ins Lateinische mit sermo (Gespräch) statt verbum (Wort). Das war sehr mutig und verstieß gegen die Vulgata-Übersetzung des Hieronymus. Ich erweitere für meine Argumentation: Im Anfang war die Kommunikation.

In ihr und durch sie entwickelt sich die einzigartige Intelligenz der Gattung homo sapiens,“die sie zu Empathie, Abstraktion (Jenseitsvorstellungen) und Transitivität (es ist ihm geschehen, es wird allen geschehen) befähigt“. (Zitat aus: T. Pievani, V. Zeitoun: Homo sapiens. Der große Atlas der Menschheit, Darmstadt 2020, S. 115)

Mir geht es in meiner Analyse nicht um die anatomische Sicht des modernen Menschen (innerhalb der biologischen Evolution), sondern um die speziellen Leistungen des menschlichen Bewusstseins (bzw. seines Selbstbewusstseins).

Bevor ich in mehreren Szenarien (1 – 9) die kommunikativen Lernprozesse der   Menschen (vom Anfang ihrer Geschichte bis heute) erläutere, die zu Auslagerung, Regulierung und Arbeitsteilung sowie zur notwendigen Kontrolle dieser Resultate der (vorläufigen, da korrigierbaren) jeweiligen Problemlösung führen, zitiere ich Hannah Arendt (1906-1975):

„Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden.“ (1958)

Die Schöpferkraft des einzelnen Menschen ist zwar begrenzt, da das Individuum (als Naturwesen) sterblich ist, aber durch Kooperation und Auslagerung der Potenzen des menschlichen Bewusstseins können die Probleme des menschlichen Lebens und Überlebens erfolgreich, wenn auch vorläufig gelöst werden.

Bezüglich des Programms der Aufklärung am Ende des Anthropozäns und unter den Bedingungen des anthropozentrischen Weltbildes habe ich daher 2023 (in meinem Buch „Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän“) formuliert:

„Die schöpferische Potenz des menschlichen Bewusstseins besteht darin, Probleme erfolgreich, nachhaltig und überprüfbar zu lösen. Diese Potenz steht unter dem Vorbehalt der Sterblichkeit des Menschen als Individuum und lebt aus der Dynamik des Vorläufigen (provisorisch und antizipativ zugleich).“

In einem summarischen, historisch-kritischen Rückblick (in verschiedenen Szenarien) versuche ich, die Geschichte erfolgreicher Problemlösungen zu skizzieren:

(1) Die ersten Menschen haben gelernt, das Feuer, um das sie in Gruppen saßen, gebrauchsorientiert zu nutzen, nicht nur als Licht- und Wärmequelle, sondern auch zur Nahrungsaufbereitung. Zugleich waren sie (zunehmend) in der Lage, das Feuer zu kontrollieren, insbesondere wenn sie ihr Wissen in Bild und Schrift weitergaben, also nicht nur einander mitteilten, sondern – mitteilbar und anwendbar – fixierten. Die „Auslagerung“ von Wissen aus der Erinnerung im Gespräch – führt zur Arbeitsteilung, Regulierung und der notwendigen Kontrolle, um sich vor Gefahren zu schützen.

Von Anfang an hat der Naturschutz eine doppelte Funktion: er soll die Menschen vor Gefahren schützen und die Natur vor Missbrauch der Natur durch den Menschen.

(2) Während sich die ersten Menschen (nach ihrer Wanderung aus Afrika nach Europa) in ihren Höhlen vor den Naturgefahren schützten, lernten sie auch, sich „die Zeit zu vertreiben“.Sie schnitzten aus Tierknochen und Hörnern Tiere, symbolische Frauenkörper und Flöten, auf denen sie zu musizieren lernten. Zum gemeinsamen Problemlösen gehört auch die künstlerische Tätigkeit: malen, schnitzen, musizieren.

(3) Die ersten Menschen entwickelten ihr Bewusstsein im Umgang mit den verstorbenen Mitmenschen und mit ihrer eigenen Sterblichkeit. Es entstehen Praktiken und Kulturen der Trauer und Erinnerung, sowie Vorstellungen in religiösen Sprachspielen und speziellen Begräbnisformen.

Das Nachdenken über die Sterblichkeit ermöglicht dem aufgeklärten homo sapiens, die Differenz zwischen chronologischen Vorstellungen und Erwartungen und kairologischen Erfahrungen (am Ende des Anthropozän) zu erkennen und auf dieser Basis – in Form konkreter Utopie – die Überzeugung von der Erlösung zu  gewinnen.

Vielleicht können auf diese Weise sowohl aufgeklärte Christen als auch aufgeklärte Atheisten (jenseits der Weltanschauungen des Polytheismus, Monotheismus oder Pantheismus sowie des Atheismus) Erlösung denken und ihrer Überzeugung bedeutsamen Ausdruck geben.

(4) Die ersten Menschen haben gelernt und lernen bis heute, ihren Alltag und ihre Zukunft zu regulieren. Dazu gehört auch die Sicherung und die Wissensvermittlung an die Nachkommen. Zeugung, Geburt und Aufzucht werden geplant und gesichert. Ich polemisiere: am Anfang der Menschheitsentwicklung steht nicht die Prostitution, sondern der Hebammen-Beruf.

(5) Die ersten Menschen haben gelernt (und lernen bis heute), alte und kranke Mitmenschen zu versorgen und zu pflegen. Diese Sorge wurde teilweise im Laufe der Jahrhunderte ausgelagert in Spitale und Krankenhäuser und in spezielle Berufe der Pflege und der ärztlichen Versorgung.

(6) Die Menschen haben gelernt und lernen bis heute, ihre Problemlösungen durch Bild, Schrift und Buch systematisch (und für andere erlernbar) auszulagern: von der Bibliothek (des Altertums) über die Vervielfältigung des Wissens durch den Buchdruck bis zum weltweiten Internet.

(7) Auf der Ebene des Handwerks und der Produktion der für das Leben der Menschen notwendigen Güter zeigt sich, dass ihr Charakter als „Ware“ keine Kontrolle im Sinne von Menschenschutz und Naturschutz ist. Auch die weltweite Güterproduktion durch Maschinen ersetzt nicht die Kontrolle, sondern verlangt sie auf sachgemäße Weise.

(8) Die bewusste Wahrnehmung durch die menschlichen Sinnesorgane kann ebenfalls ausgelagert werden. So ist die Wahrnehmung der Umwelt durch einen Roboter (und seine Kommunikation durch künstliche Sprache) imitierbar und als einzelne Sinnesleistung (auch durch sprachliche Reaktion) optimierbar. Diese Formen der Imitation (Auslagerung als homunkulus-Konstruktion) irritieren und regen die Phantasie an, können aber z.B. als Drohnen zu Zerstörung und Vernichtung (im Krieg) missbraucht werden.

(9) Den Menschen gelingt es, durch „affective computing“ die emotionale Wirkung von Gefühlen zu imitieren und diese Wirkung gezielt auszulagern. Solche KI-Programme können die Autonomie des einzelnen Menschen gefährden. Für alle Mensch-Maschine-Systeme gilt: Rückschlüsse von wahrgenommener Gestik und Mimik auf emotionale Zustände sind nie eindeutig und bedürfen der Überprüfung, um Missverständnisse (gewollt oder ungewollt) und Missbrauch auszuschließen. Das gilt übrigens sowohl für den Automaten (hinter den menschliche Interessen stecken) wie den Menschen.

(vgl. E. Weber-Guskar: Gefühle der Zukunft. Wie wir mit emotionaler KI unser Leben verändern, Berlin 2024)

Alle „Auslagerungen“ der Potenzen des individuellen Bewusstseins sind ein Fortschritt in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften, aber zugleich ein Risiko, das der Kontrolle der Menschen vom Anfang „ihrer“ Geschichte bedarf. Die heute vorherrschenden Ideologien des Naturalismus und Konstruktivismus be- und verhindern die Einsicht, dass Auslagerung und Kontrolle zusammen gehören.

Aus der Erkenntnis, Probleme des Lebens und Überlebens gemeinsam erfolgreich lösen zu können, aus der Einsicht in die Vorläufigkeit aller Lösungen und aus der notwendigen Vorsicht, also Kontrolle des eigenen Verhaltens während der Problemlösungsprozesse, sowie der Erkenntnis, Gebrauch und Missbrauch aller „Werkzeuge“ unterscheiden und bewerten zu können, entwickelt sich das eigenständige Bewusstsein des homo sapiens und bilden sich die gesellschaftlichen Normen.

In meiner „Anthropologie der Aufklärung“ stelle ich die Möglichkeiten des menschlichen Bewusstseins als gemeinsame Schnittmenge von Natur (ES) und Gesellschaft/Norm (ÜBERICH) in der Geschichte dar. Daraus wird deutlich, dass die Geschichte der Menschheit anders verläuft als die Evolution der Natur. Auch versuche ich in meiner Anthropologie der Aufklärung zu zeigen, dass der Prozess der menschlichen Geschichte nicht ziellos verläuft, wie konstruktivistische Weltanschauungen vermuten, sondern „Erlösung“ als Utopie gedacht werden kann.

Der homo sapiens zeigt sich am Ende des Anthropozän als homo praestans, der für sein Denken und Handeln einsteht; seine Verantwortung ist ungeteilt.

Die Menschen lernen, ihre „sterbliche Schöpferkraft“ einzuschätzen und zu regulieren. Dieser Lernprozess verläuft nicht zwangsläufig, sondern entscheidungsorientiert.

Ich fasse zusammen:

Von Anfang an ist Verantwortung in kommunikativen Strukturen die einzige Möglichkeit, Konsequenzen aus der Dynamik des Vorläufigen bei allen Problemlösungen zu ziehen und den „Fortschritt“ der Menschheitsentwicklung zu sichern. Dabei ist dieses Wort problematisch, weil es das Risiko der Dynamik des Vorläufigen in allen Problemlösungsprozessen (im Alltag, in der Gesellschaft, in der Wissenschaft) unterschlägt. Dass ein zunehmend großer Teil dieser Problemlösungsprozesse seit jeher ausgelagert und optimiert wird, ändert nichts an der Verantwortung der Menschen für diesen Prozess.

Um es pointiert zu formulieren:

Der zerstörerische Brand der Bibliothek von Alexandria im Altertum bleibt genau so verantwortungslos wie die Produktion von (imitierten) fakenews im weltweiten Internet.

Und ich füge hinzu: die mythologischen Erzählungen von der Schöpfung (inklusive der Paradiesvorstellungen) setzen ein – historisch gesehen – überholtes theozentrisches Weltverständnis voraus; auch wenn die Bedeutung der religiösen Sprachspiele der (möglichen) Übersetzung bedarf. Für den aufgeklärten Menschen bleibt klar: es gab  und gibt und wird nicht geben: das Paradies im Himmel wie auf Erden.

Die heute fortschreitende Auslagerung von menschlichen Bewusstseinsleistungen verlangt eine angemessene und wirksame Kontrolle. Diese Kontrolle ist nicht ziellos, sondern orientiert sich zuerst an dem, was eine erfolgreiche und sachgemäße Problemlösung bedeutet, und zuletzt bzw. grundsätzlich, was die Utopie der Erlösung verheißt.

Notwendige und Sinn-erschließende Übersetzung der Leistungen des menschlichen Bewusstseins vom theozentrischen ins anthropozentrische Weltbild

In einem Weltbild lassen sich die grundsätzlichen Erkenntnismöglichkeiten des menschlichen Bewusstseins in einer jeweiligen Epoche (Weltverständnis) aufzeigen und zusammenfassen. Ich unterscheide die Vorstellungen, Denkmöglichkeiten (Potenzen) und Sprachformen (Sprachspiele) vor und nach der Aufklärung und kennzeichne sie zusammenfassend als theozentrisches und anthropozentrisches Weltbild.

Die Ablösung der Weltbilder lässt sich sowohl historisch als auch strukturell beschreiben. Der Ablösungsprozess verläuft sowohl chronologisch als auch gleichzeitig – in struktureller Konkurrenz – ab.

Im theozentrischen Weltbild (der zwei Wirklichkeiten) sind Theophanie, Apotheose und Adoptionismus vorstellbar und in religiösen Sprachspielen erzählbar. Die Welt der Götter/des Gottes und die Welt der Menschen auf der Erde stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander und werden in vielfältigen Schöpfungsmythen erzählt. Paradieserzählungen stehen oft am Anfang oder werden zukünftig erwartet.

Im anthropozentrischen Weltbild wird die Trennung von Himmel und Erde (und Unterwelt) als Mythos entziffert. Aufgeklärte Menschen halten auf der Basis dieser Welterkenntnis Paradiesvorstellungen (sowohl im Himmel wie auf der Erde) für eine erklärbare Illusion.

Die Frage ist: Bleibt dem aufgeklärten homo sapiens am Ende des Anthropozän nur der allgemeine Pantheismus oder eine vielfältige Form des Atheismus als mögliche Weltanschauung? Meine Antwort ist: Nein!

Zumindest die hebräische Bibel – als Grunddokument von Judentum und Christentum – und ihre griechische Übersetzung (LXX) kennen das Messianische Denken; die Propheten erwarten den Messias als (konkrete) Utopie in vielfältigen apokalyptischen (und damit chronologisch erzählten) Sprachspielen. Die Zeit/Wiederkehr des Messias/Christus ist nahe (als Naherwartung oder in kairologischer Erfahrung – jenseits von Raum und Zeit. In dieser Utopie ist Erlösung universal denkbar, konkret vorstellbar und überzeugend (als Credo/Glaube) mitteilbar.

Ich behaupte, auch für aufgeklärte Menschen – nicht nur aufgeklärte Juden und Christen – ist Erlösung denkbar. Das bedeutet: Atheismus muss keine Weltanschauung sein, sondern auf die „Gotteshypothese“ (so Bonhoeffer) beim Lösen von Problemen im Alltag, in der Gesellschaft und in der Wissenschaft kann verzichtet werde. Ich spreche daher vom „methodischen Atheismus“.

Da alles Problem-Lösen vorläufig ist (Provisorium und Antizipation zugleich), kann und muss Erlösung im heutigen Bewusstsein der Menschen mitgedacht werden. In das anthropozentrische Weltverständnis übersetzt, bedeutet das: Erlösung (konkret: der Erlöser) kann kairologisch erfahren und mitgeteilt werden: als Befreiung und Umkehr.

Für aufgeklärte Christen ist die Botschaft des Messias Jesus aus Nazaret maßgebend (dokumentiert in den „Evangelien“ des Neuen Testamentes als Explikation der prophetischen Verheißungen) und es gilt der kategorische Imperativ des exil-jüdischen Schriftgelehrten Paulus aus Tarsus: „Euer Leben sei ein ‚vernünftiger Gottesdienst‘“ (eine griech. latreia logiké).

p.s.

Chronologisch erzählte Messias-Erwartungen müssen in kairologisch erfahrene Befreiung übersetzt werden.

Gerade habe ich gelesen:

(1) Daniel Boyarin, Die jüdischen Evangelien. Die Geschichte des jüdischen Christus, Würzburg 2015, Judentum, Christentum, Islam. Interreligiöse Studien, Bd. 12 (übersetzt aus dem Amerikan., New York 2012)

Von der Notwendigkeit doppelten Naturschutzes und der Kritik an missverständlichen Katastrophenszenarien

Konsequenzen aus dem Gastkommentar in der nzz.ch vom 1. Januar 2022: Apocalypse now? Die Menschheit ist gross, doch das Klima grösser.

These: Der Naturschutz hat eine doppelte Aufgabe: Die Natur, unsere Umwelt, vor ihrer Ausbeutung und Zerstörung zu schützen; aber auch: die Menschheit vor den Naturgewalten zu schützen.

Diese doppelte Aufgabe verlangt eine differenzierte Balance im menschlichen Verhalten; das Bewusstsein der Menschen im Anthropozän ist notwendigerweise das eines, „sterblichen Schöpfertums“; denn „um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden“. (Hannah Arendt, 1958)

Die heutigen Katastrophenszenarien lassen eine klare Unterscheidung zwischen „Naturgeschichte“ und „Menschengeschichte“ vermissen, bzw. lamentieren mit unsachgemäßen Katastrophenszenarien. Diese Verwirrung beruht auch auf der Verwechslung von kosmischer Naturentwicklung, Evolution auf dem Planeten Erde und den Möglichkeiten bzw. Verfehlungen menschlicher Geschichte. Ich spreche in diesem Zusammenhang von den widersprüchlichen Potenzen der Problemlösung des menschlichen Bewusstseins.

Wir Menschen am Ende des Anthropozäns beherrschen nicht die sog. „Naturgeschichte“, auch wenn uns unser Bewusstsein ermöglicht, sowohl die kosmischen Abläufe der Eiszeiten auf der Erde sowie die Evolution des Lebens auf der Erde zunehmend zu erkennen. Als Naturwesen sind die Menschen in diese Naturprozesse einbezogen, ohne sie entscheidend beeinflussen zu können. Auch wird mit Recht gesagt, dass die „heutige Krisenrhetorik verkennt, dass das Menschsein seit je krisenhaft ist“.

Wir Menschen als Naturwesen sind daher in doppelter Weise sterblich: sowohl unsere individuelle Lebenszeit ist begrenzt; wie alles Leben auf der Erde, wenn auch in unterschiedlichen Zeitdimensionen (man vergl. die mögliche Lebensdauer eines Bakteriums mit der eines Säugetieres). Aber auch die Lebensbedingungen des homo sapiens – als Gattung – sind zeitlich begrenzt, da an die „Naturzustände“ des Planeten Erde in unserem Sonnensystem unwiderruflich gebunden. Eine Flucht des Menschen vom Planeten Erde als Überlebensstrategie der Gattung Mensch ist zwar phantasierbar (und ansatzweise individuell konstruierbar), aber unter den bestehenden Problemlösungsmöglichkeiten nicht realistisch.

Realistisch – im Sinne des Aufgeklärten Realismus – ist sowohl die menschlich verursachte Selbstzerstörung der bewohnbaren Erde (durch bewusste Freisetzung von welterschütternden Kräften wie der Atomenergie), aber auch die „schleichende“ bewusst zu machende Verschlechterung der Lebensbedingungen (wie z.B. durch Luftverschmutzung, Erderwärmung, unkontrolliertes Bevölkerungswachstum – ohne ausreichende Verbesserung der Lebensbedingungen; aber auch durch – durch nichts zu rechtfertigende – Kriege und Hungersituationen; also durch Ausbeutung und Verelendung.

Diese (sicher unzureichende) Zustandsbeschreibung der menschlichen Geschichte – ihrem Mangel und ihren Möglichkeiten an menschengerechten Problemlösungen – verlangt darüber hinaus für eine humane Überlebensstrategie die Organisation und Sicherung einer menschenwürdigen Gesellschaftsstruktur – und einen doppelten Naturschutz: einen nachhaltigen Schutz vor erkennbaren Naturgewalten (wie z.B. den Dammbau in den Niederlanden) und den Schutz der Natur vor menschlicher Zerstörung (z.B. der Ökosysteme) durch Waldvernichtung oder durch kurzfristige „Verbesserung“ der menschlichen Lebensgrundlagen, deren Nachteile langfristig überwiegen.

Menschen sind als bewusste Lebewesen in der Lage, die Probleme im Sinne des doppelten Naturschutzes und auf der Basis, die Menschenwürde universal durchzusetzen, zu lösen, auch wenn alle Problemlösung vorläufig bleibt und immer neuer Anstrengung bedarf. In dieser Perspektive sind die Menschen für ihre Zukunft am Ende des Anthropozäns verantwortlich. Daher spreche ich (in Form eines kategorischen Imperativs) davon, dass der homo sapiens nur überleben kann, wenn er ein homo praestans wird, ein Mensch, der für andere und sich einsteht.

Zur Versöhnung von Atheismus und Christentum

oder
Die Ergebnisse der Aufklärung zuende denken

Eine Argumentation im Sinne des Aufgeklärten Realismus; gegen alle Spielarten von Naturalismus und Konstruktivismus sowie Theismus

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus
Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf., Münster 2020 (agenda Verlag, 160 Seiten)

Wer bei dem Wort „Versöhnung“ sofort in eine sog. „Identitätskrise“ verfällt und aus Gründen einer sprachlichen correctness an Wörtern wie „Vertöchterung“ oder „Vergeschwisterung“ bastelt, verkennt nicht nur die etymologische Herkunft des Begriffes, sondern pervertiert auch meine Absicht, über und im Projekt Versöhnung von Atheismus und Christentum nachzudenken, um eine sinnvolle Argumentation präsentieren zu können.

Das Verb „versöhnen“ ist eine Vokalmodulation des älteren Verbs „versühnen“ im Sinne von „Frieden stiften, ausgleichen, vermitteln“ – und eine Vermittlung schlage ich vor: die Position des Atheismus, wenn er streng methodisch verstanden wird, und die Praxis und Lehre des Christentums, wenn es von seinem Ursprung her, den die jüdischen Täufergemeinden (des 1. Jahrhunderts nach Christus) bezeugen, beschrieben wird. Diese Gemeinden, und insbesondere Paulus aus Tarsus, bezeugen, dass der am Kreuz hingerichtete Wanderprediger Jesus aus Nazaret der erwartete Messias/Christus ist.

Die messianische Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft sowie von der erlösenden Funktion der Menschwerdung Gottes (dokumentiert im kenosis-Hymnus des Philipperbriefes) relativieren das theozentrische Weltverständnis (im damaligen Römischen Reich). Denn das jüdisch-messianische Denken greift auf die Exodus-Struktur der Bibel zurück. Und dies führt schon bei manchen Gelehrten im damaligen Römischen Reich zu dem Vorwurf, dass die „Christus-Gläubigen“ Atheisten seien.

Ich übersetze die messianische Botschaft unter den Bedingungen des heutigen, aufgeklärten, anthropozentrischen Weltverständnis als „konkrete Utopie der Erlösung“. Und diese Übersetzung schließt den methodischen Atheismus (zur Lösung von Problemen) nicht aus. Aufgeklärte Christen sind in ihrem Denken und Handeln (zunächst) methodische Atheisten; sie müssen – mit allen Menschen – denken und handeln, als wenn es Gott nicht gäbe (sic deus non datur). Und sie können so denken und handeln, da sie unter dem Vertrauensvorschuss der (konkreten Utopie der) Erlösung befreit sind von religiösem Zwang und gesellschaftlichen Vorurteilen.

Im Gegensatz zum gnostischen Denken (der Selbsterlösung) steht das messianische Denken (im Sinne der kenosis), in dem Erlösung als zu erwartende „Gabe“, als Geschenk gedacht wird, die befreit – aber in einem radikal anderen Sinn als in der Gnosis. Übrigens bleibt Hegel, wenn er in seiner Philosophie des Geistes von Versöhnung spricht, im gnostischen Verständnis.

Für das messianische Denken sind existenzielle Erfahrungen kairologischer Struktur, und damit im strengen Sinn zeitlos, also ewig; während historische oder zukünftige Erwartungen apokalyptischer Art oder als Apokatastasis oder als Weltgericht (am Weltende) in chronologischen Strukturen erzählt werden. Chronologische Rekonstruktionen (z.B. Schöpfungsmythen oder Gerichtsszenarien am Ende der Welt) sind an ein theozentrisches Weltverständnis gebunden.

Schöpfungsmythen wie Paradiesvorstellungen bedürfen daher eines Schöpfers, sind „metaphysisch“ strukturiert. Demgegenüber bestimmt das anthropozentrische Weltbild der Aufklärung (und der heutigen Erfahrungswissenschaften) den Menschen als Schöpfer – und religiöse/metaphysische Sprachspiele als seine Projektionen.

Der Mensch (als Vernunftwesen) versucht, alle Probleme dieser Welt zu lösen (durch Begreifen und Eingreifen), aber diese „Potenz“ (diese Möglichkeit) ist an seine Leiblichkeit und Sterblichkeit gebunden. Der Mensch ist ‚Vernunft- und Naturwesen. Diese Verknüpfung von Natur (Leiblichkeit) und „Geist“ – im Sinne von „Problemlösungspotenzen“ (individuell wie gesellschaftlich, als lebendiger Organismus wie als Gesellschaftsformation) schafft Bewusstsein und Selbstbewusstsein.

In diesem und durch dieses Bewusstsein (in mehrfacher Ausprägung: als Gesprächs-, Reflexions-, Erinnerungs- und Planungsfähigkeit inklusive der Entwicklung von Selbstbewusstsein/Mündigkeit) sind Menschen fähig, ihre Lebensprobleme zu lösen, ihre Natur (Leiblichkeit) und ihre Welt (die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos) zu erkennen und zu gebrauchen.

Für ihre Fähigkeiten („Potenzen“ – Aufbewahrung und Gebrauch) sind die Menschen allein verantwortlich. Diese Verantwortung beim Lösen ihrer Probleme (im Alltag und in der Wissenschaft) und der Sicherung ihrer Erkenntnisse können sie – zusammenfassend – als ihre Autonomie bzw. Mündigkeit reflektieren. In diesem Sinn sind sie notwendigerweise „methodische Atheisten“, die weder auf andere Instanzen oder mythologische Erzählungen zurückgreifen. Sie haben gelernt, von dieser (methodischen) Erkenntnisarbeit Ideologien und deren Wirkung zu unterscheiden. Dies gilt für alle Spielarten von Theismus, Naturalismus, Materialismus und Konstruktivismus.

Menschen sind weiterhin in der Lage, Teile und Ergebnisse ihrer Potenzen „auszulagern“; ich denke z.B. an Bibliotheken. Heutzutage sprechen wir von „künstlicher Intelligenz“. Das menschliche Erinnerungsvermögen ist damit weltweit sicherbar und abrufbar. Dies gilt auch in zunehmendem Maße für die Planungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Die Grundlage dieser Potenzen ist das Bewusstsein. Seine Entstehung und Entwicklung bleibt an den „lebenden, selbstgesteuerten Organismus Mensch“ gebunden, selbst wenn eine funktionsbestimmte Loslösung vom menschlichen Organismus (in „Maschinen“) möglich wird.

Selbst die Bildung des geschlechtlichen Ich-Bewusstseins (geschlechtliche Identität) ist zwar an den individuellen Organismus, die Leiblichkeit, gebunden, setzt aber als Selbstaussage der je eigenen Erfahrung Selbstbewusstsein (im Sinne der Mündigkeit) voraus.

Für die Fortpflanzungsmöglichkeit und die Erziehung der Nachkommen gilt die gemeinsame Verantwortung von Vater und Mutter. Gesprächskompetenz ist mehr als Sprachkompetenz und Rechtsbewusstsein ist nicht einfach die Summe individuellen Selbstbewusstseins, sondern ein Lernprozess der Konsensbildung, der sich auf der Basis der Gleichheit an Freiheit und Gerechtigkeit orientiert.

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus
Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf., Münster 2020 (agenda Verlag, 160 Seiten)

Bewusstsein entsteht (bildlich vorgestellt) als Schnittmenge von Natur und Kultur (als Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklung) bei Zeugung und Geburt und endet für das einzelne Individuum durch seinen Tod. Leiblichkeit wie Sterblichkeit sind für das Bewusstsein eines jeden Menschen konstitutiv. Mit Hannah Arendt fasse ich diese Erkenntnis in die Aussage zusammen: Menschen sind sterbliche Schöpfer.

Diese Erkenntnis korrigiert ideologisch geprägte und/oder durch das vorherrschende Weltbild bestimmte Vorstellungen davon, was der Mensch und seine Welt seien. Daher postuliere ich: der Prozess der Aufklärung (als Antwort auf die Frage, was der Mensch sei) muss konsequent zuende gedacht werden. Das Ziel dieses Projektes – als Resultat metatheoretischer Reflexion – fasse ich unter dem Titel „Aufgeklärter Realismus“ zusammen. Erste Ergebnisse dieser Metareflexion (im Sinne einer aufgeklärten Anthropologie) habe ich in meinem gleichnamigen Buch (Münster 2020) veröffentlicht.

Wann und wo ist ein Buch überholt?

Biografische Episode während der Pandemie mit reflexivem Einschub zum Raum-Begriff

Wann und wo ist ein Buch überholt?

Wer gelernt hat, über lange Zeit in seinem Arbeitszimmer an seinem Schreibtisch zu sitzen und zu schreiben, dem ist – zusätzlich als Bibliophiler – die aktuelle Nötigung zur Häuslichkeit in Zeiten der Pandemie nicht ungewohnt, wenn auch grenzwertig.

Ich arbeite, informiere mich online und schreibe in meinem Gehäus; so nennt und zeichnet Albrecht Dürer die Studierstube des Hieronymus. Ich empfinde diesen Zustand als gewohnt, wenn auch nicht gesundheitsfördernd. Kein Engel über mir und kein Löwe vor mir schützen mich; obwohl: auch ein dämmernder Löwe ist wachsam und ein schwebender Engel stiftet himmlischen Duft.

Statt Löwe und Engel schützen mich – wie Barrikaden – Bücherreihen, Bücher- und Manuskriptstapel (wenn auch auf fragile Weise) und Bücherregale voller Bücher. Ein explizierter Bibliophiler ist eben ein implizierter Biblioman.

Meine Bücher verströmen nicht nur einen unterscheidbaren Geruch (ich kann Bücher riechen und dieses Phänomen druck- und klebetechnisch erklären), sondern sie haben eine unterschiedliche visuelle Gestalt; selbst Paperbacks und Taschenbücher sind (u.a. dank der edition suhrkamp) individuell unterscheid- und erkennbar.

Seit meiner Jugend – und den regelmäßigen Besuchen in der Stadtbücherei – habe ich die Fähigkeit, Bücher an Gestalt und Farbe wiederzuerkennen, auch wenn die Reihenfolge in den Bücherregalen eher chaotisch ist. Das alles ist eine Frage der Geduld.

Von Zeit zu Zeit frische ich meine visuelle Fähigkeit auf, indem ich ein Buch aus dem Regal nehme, es (insgeheim) berieche und mich schnell wieder an Autor und Inhalt erinnere; selbst wenn ich das Buch nur flüchtig gelesen oder durchblättert habe.

Soweit die Hinweise zu meinem praktischen Alltag. Grenzwertig ist dieser durch Pandemie erzwungene Alltag, weil die wöchentliche Flucht vom Dorf in die Stadt, in ihre Buchgeschäfte und Cafés unmöglich und verboten ist, so dass nur Routinegang mit Ausweis und Gesichtsmaske in die Universitätsbibliothek bleibt. Das ist schon frustrierend; beinahe hätte ich „kastrierend“ geschrieben.

Eine Universitätsstadt voller Bücher ist ohne geöffnete Cafés und Bistros und ohne Kommunikation halbtot; auch die geschlossenen Museen (wie die menschenleeren Kirchen) verlieren ihre Attraktion. Doch zurück in mein Gehäus.

Gestern griff ich, um meine Wahrnehmung zu prüfen und die Fähigkeit wiederzuerkennen zu stärken, zu einem kleinen, gebundenen Buch des Kölner DuMont Bücherverlages aus dem Jahr 2010: Alexander Marguier: Das Lexikon der Gefahren. Marguier, westdeutscher Journalist, hat in diesem Buch Anekdoten zur Gefährdung von A wie Alkohol bis Z wie Zusatzstoffe in Lebensmitteln gesammelt und Gottfried Müller hat sie jeweils präzise illustriert.

Bevor ich anhand dieses in Leinen gebundenen Taschenbuches „für die Hosentasche“ die Frage beantworte, ob es „überholte“ Erzählungen in „veralteten“ Büchern gibt, muss ich klären, ob und was es bedeutet, im Gehäus zu sitzen und zu schreiben; in der Tradition von Hieronymus (in der Phantasie Dürers), von Luther (auf der Wartburg) oder Hans Blumenberg (in seiner Münsteraner Wohnung in literarischer Verarbeitung durch Sibylle Lewitscharoff). Wie beeinflusst der Raum des Erzählers, Übersetzers, des Aufschreibers die Erzählung und die Geschichte ihrer Überlieferung – auch ohne Engel oder Löwe?

Der Raumbegriff ist ein Konstruktion des menschlichen Bewusstseins. Räume prägen unsere alltäglich Wahrnehmung, wie auch unser Erzählen im Gespräch. Naturwissenschaftlich gesehen ist der Raumbegriff sekundär, also abgeleitet. Grundlegend ist heute nicht mehr der physikalische Raum (der sog. Klassischen Physik), primär ist der Feldbegriff. Durch seine

Differenzierung können verschiedene Räume (bis hin zum Schwarzen Loch) eindeutig begriffen und beschrieben werden.

Erfahrungswissenschaftlich (raumsoziologisch) ist der Raumbegriff sekundär, da er ohne Zeit nicht gedacht, nur in der Zeit (chronologisch) wahrgenommen und beschrieben werden kann. Erfahrungen werden also verstanden, indem sie sprachlich (in Sprachspielen) ausgedrückt/verfasst werden. Dies gilt in einem ursprünglichen Sinn: nur in einer sprachlichen Verfassung können sie verstanden und (natürlich) erzählt werden.

An der sprachlichen Verfassung von Erfahrung lässt sich ablesen, ob sie begriffen werden kann oder (als Utopie bei religiösen Sprachspielen) erzählt werden muss. Bestimmte Erfahrungen (z.B. Märchen) sind nicht an Ort und Zeit gebunden, auch und da sie in fiktiven Orten und zu fiktiven Zeiten spielen. Diese Erfahrungen können von der erzählten Zeit und den erzählten Orten gelöst werden; in diesem Sinn sind sie ort- und zeitlos, aber Weltbild-abhängig.

Ich nenne begreifbare Erfahrungen hinsichtlich ihrer Dimension „chronologisch“; erzählbare Erfahrungen „kairologisch“. Im (heutigen) anthropozentrischen Weltbild sind chronologische Erfahrungen begreifbar, in bestimmten Rahmen reproduzierbar und verbindlich mitteilbar. Kairologische Erfahrungen sind existenziell erfahrbar und nach einer Pause des Schweigens auf „aenigmatische Weise“ erzählbar (wie in einem Spiegel).

Um die Bedeutung von Sprachspielen aus dem theozentrischen Weltverständnis zu erkennen, müssen diese (überkommenen) Sprachspiele übersetzt werden. Dieser Prozess der Übersetzung schließt kritische Prüfung (auf Sinn oder Sinnlosigkeit) ein. Die mögliche Bedeutung überkommener Sprachspiele (z.B. in religiöser Sprache) kann im Gespräch in Form konkreter Utopie vermittelt werden.

Religiöse Sprachspiele sind rückgebunden an das theozentrische Weltbild. Diese Rückbindung zeigt sich in den zahlreichen Schöpfungtsmythen. Für das aufgeklärte Denken bleibt zu prüfen, ob in den tradierten Botschaften utopische Strukturen konkret erkennbar und erzählbar sind.

Mein (vorläufiges) Ergebnis der Prüfung und Übersetzung der jüdisch-christlichen Tradition und ihrer Sprachspiele ist die konkrete Utopie der messianischen Botschaft. Ihr kann unter den Bedingungen des anthropozentrischen Weltverständnisses vertraut werden und diese Botschaft kann als konkrete Utopie der Erlösung weiter erzählt werden. Auf andere Weise formuliert: Aufgeklärtes Denken und messianisches Denken sind dem Grunde nach kongruent.

Eine Konsequenz messianischen Denkens ist die Raum- und Zeitlosigkeit kairologischer Erfahrung, auch wenn ort- und zeitbedingt erzählt wird. Das bedeutet zugleich die Profanisierung von Raum und Zeit. Es gibt keine heiligen Orte und keine heiligen Zeiten. Arbeitszimmer und Studierstuben dienen der Konzentration menschlichen Bewusstseins; Kirchenräume und Museen dienen der Ruhe und Entspannung, aber auch der gemeinsamen Erinnerung und Danksagung, wie der bewussten Wahrnehmung künstlerisch geschaffener Artefakte.

Zu den Konzentrationsübungen des menschlichen Bewusstseins gehört der abschätzende und verantwortungsvolle Umgang mit den Risiken des Alltags und der Arbeit, im Sinne der Einsicht von Hannah Arendt, dass wir Menschen sterbliche Schöpfer sind. Hier unterstützt – auf launig-satirische Weise das oben genannte Lexikon der Gefahren.

Ich schlage unter dem Stichwort „Pandemien“ nach (Seite 163-168) und erfahre zunächst, dass der Begriff „Pandemie“ „mittlerweile zum Wortschatz der Globalisierung“ gehört. Ich gestehe, bis vor einem Jahr kannte ich dieses Wort nicht und begnügte mich, von „Epidemien“ zu sprechen. Ich lese weiter:

Die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland einer pandemischen Infektionskrankheit zu erliegen, ist heutzutage wegen der enormen medizinischen Fortschritte und aufgrund besserer Hygiene so gering wie nie zuvor. Noch zwischen den Jahren 1918 und 1920 fielen allein im Deutschen Reich schätzungsweise 300 000 Menschen der Spanischen Grippe zum Opfer, gegen die es keinen Impfstoff gab.“ (S. 167)

Dieses Buch erschien im Jahr 2010 auf dem Büchermarkt und die Aussage zur Pandemie ist 2021 überholt. Nun weiß ich nicht, ob Autor und Verlag eine korrigierte Neuauflage planen. Interessant ist die Fehleinschätzung der Risiken vor mehr als 10 Jahren. Zweifellos ist dieses Buch mit dieser Aussage veraltet. Bemerkenswert bleibt, wie wir mit Risikoeinschätzungen in gedruckten Büchern umgehen sollten. Bücherfreunde seien gewarnt.