Universalismus statt Tribalismus

Susan Neiman, amerikanische Philosophin und seit 2000 Direktorin des Einstein Forums in Potsdam hat zum 50. Jahrestag der Grundwertekommission der SPD einen Vortrag gehalten, der in verkürzter Form in der Frankfurter Rundschau (FR Nr. 281 vom 2./3. Dezember 2023) veröffentlicht wurde: „Wer die Hoffnung auf Fortschritt aufgibt, ist nicht mehr links“, in dem sie im Sinne der Aufklärung und der jüdischen Tradition in Deutschland den Tribalismus, und damit alle Formen des Rassismus verurteilt. Sie erinnert in diesem Kontext an Moses Mendelsohn, Heinrich Heine, Karl Marx, Eduard Bernstein, Albert Einstein, Walter Benjamin und Hannah Arendt.

Ich stimme der grundsätzlichen Kritik an jeder Form von Tribalismus (inklusive Antisemitismus und Nationalismus) zu und verweise zusätzlich auf Hermann Cohen (aus dem Neukantianismus kommend) und Franz Rosenzweig (Stern der Erlösung) und das aus den Propheten-Erzählungen der jüdisch-christlichen Bibel stammende messianische Denken.

Ich habe in meinen Überlegungen zur Anthropologie der Aufklärung (siehe: Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän, Münster 2023) versucht, das Programm der Aufklärung mit dem Messianischen Denken der Erlösung des Judentums wie des Christentums zu verknüpfen, um so „Stammesdenken“ und Nationalismus wie Rassismus, als auch „Volkstümelei“ zu überwinden.

Erlösung (als konkrete Utopie) weltweit zu denken und zu erhoffen und das religiös geprägte Stammesdenken zu überwinden, verbindet aufgeklärte Christen und Juden mit allen aufgeklärten Menschen, denn der Universalismus hat eine entscheidende Wurzel in den prophetischen Schriften der jüdischen Bibel.

Das messianische Denken widerspricht nicht den Exodus-Erzählungen des „Volkes Gottes“, sondern diese sind der konkrete (geschichtliche) Ausgangspunkt der messianischen Erwartungen. Auch wenn bis heute die Differenz zwischen dem erschienenen und dem zu erwartenden Messias bei Christen und Juden erhalten bleibt, verbindet beide das messianische Denken und Hoffen (wenn auch in unterschiedlichen Vorstellungen) als Utopie der Erlösung für die Menschheit und die Welt.

Schon zur Zeit des Jesus aus Nazaret existierten jüdische Gemeinden in der weltweiten Diaspora, in Distanz zur Tempelfrömmigkeit in Jerusalem.Schon weit vor der „Zeitenwende“ (im christlichen Verständnis) leben jüdische Gemeinden „zerstreut“ im Römischen Reich und auch die Dynamik des Christentums entwickelt sich in Kleinasien; verstärkt durch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch römische Truppen um 70 n.Chr. Die Botschaft der Erlösung im Sinne der Messias-Erwartung ist universal und nicht mehr stammes- oder tempel-gebunden.

Schon im Hebräerbrief – vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels verfasst – wird argumentiert, dass die Hinrichtung des Messias am Kreuz und seine erlösende Wirkung („Auferstehung“) außerhalb des Tempelbezirkes stattgefunden hat.

Das messianische Denken bei Diaspora-Juden wie bei Christen ist nicht mehr tempelgebunden bzw. kultgebunden (Beschneidung). Paulus aus Tarsus in Kleinasien ist ein typischer jüdischer Schriftgelehrter des Diaspora-Judentums, der in griechischer Sprache argumentiert und nach dem Scheitern der Reform der jüdischen Gemeinden zum „Weltapostel“ des Christentums wird.

Seine Erlösungsbotschaft hat sich radikal von kultischen Stammesvorstellungen gelöst. Die jüdisch-christliche Ablehnung des Tribalismus erlaubt und ermöglicht aufgeklärten Menschen, auch im 21. Jahrhundert Jude oder Christ zu sein. Zwischen der Bedeutung von „Volk“. „Raum“ und „Heimat“ muss unterschieden werden.

Nationalistische, rassistische Positionen, religiös begründet, widersprechen dem messianischen Denken der Bibel grundsätzlich. Daher müssen auch die jüdische „Orthodoxie“ wie christlich-dogmatische Kirchenideologien kritisch hinterfragt werden.

Zur Spezifik der Geschichte des menschlichen Bewusstseins und zum Ziel des erdweiten Projektes der Aufklärung

Die aktuelle Frage (in Philosophenkreisen), ob es einen „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ gibt – so problematisiert Peter Tawny in seinem Buch „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“ (Frankfurt/Main 2015, 3.A.) –, ist (für mich) schon deswegen sinn-los, weil die Frage nach der Geschichte des Seins sinnlos ist. Das Sein (auch wenn es Seyn geschrieben wird) hat keine Geschichte – im Sinne der Geschichte der Menschen auf dem Planeten Erde. Allein das Dasein des homo sapiens wie der Menschheit lässt sich – biografisch wie gesellschaftlich – als Geschichte rekonstruieren, verstehen und erzählen.

Die Konstruktion der Seinsgeschichte (bei Heidegger) unterstellt eine „Seinsvergessenheit“, deren Erinnerung dem (auserwählten) Philosophen erlaubt, mit Hilfe der Ideologieproduktion des menschlichen Bewusstseins im Labyrinth dieses Bewusstseins zu „stöbern“ und ziellos (sinnlos) zu phantasieren. Unter dieser Perspektive wird „Heimatlosigkeit zum Weltschicksal“ (siehe Heideggers „Humanismusbrief“, Erstfassung 1946) und der Antisemitismus entpuppt sich als wirksame Ideologie mit langer Geschichte realer Machtverhältnisse.

Seinsgeschichte ist ein sinnloser Begriff, denn das Sein dessen, was ist – und auch nicht ist –, hat keine Geschichte; denn menschliche Geschichte (in meinem Verständnis) ist bewusste (auch missverstandene wie verlogene)  Konstruktion gesammelter Erkenntnis; auf der Basis überprüfbarer Erinnerung.

Meine Kritik an der Ideologie der Seinsgeschichte etabliert aber kein naives Geschichtsverständnis. Denn zwei weitere Geschichts-Ideologien sind in der heutigen Diskussion wirksam: der Konstruktivismus und der Naturalismus. Die erste Ideologie reduziert die Geschichte der Menschheit (der menschlichen Gesellschaften und des Erkenntnisfortschritts) auf (spätere) subjektive Interessen, die die Wahrheitsfrage ausklammern oder relativieren. Die zweite Ideologie verwechselt den Ablauf (und die Widersprüche) menschlicher Geschichte mit (biologischer) Evolution des Lebens auf der Erde und des Kosmos insgesamt.

Zwar entsteht und entstand menschliches Bewusstsein – individuell wie sozial – aus der gemeinsamen Schnittmenge von Natur (im Sinne der evolutiven Entwicklung des Lebens auf der Erde) und der sozialen Strukturen des Zusammenlebens der Menschen (Bildung von Normen und wiederholbare, erfolgreiche Lösung von Problemen), aber daraus bildete und bildet sich eine eigenständige, spezifisch begreifbare und beschreibbare Struktur des Erkenntnisfortschritts (mit allen Rückschlägen): die Geschichte der Menschheit.

Diese Geschichte der Menschheit – wie auch die biografische Entwicklung des homo sapiens zur Mündigkeit, zur Menschenwürde und zur Empathie – lassen sich in Weltbildern zusammenfassen und in einem weltweiten Projekt der Aufklärung begreifen und beschreiben. Unter der Bedingung des anthropologischen Weltbildes (an Ende des Anthropozän) versuche ich diese Zusammenfassung:

(1) in einer Metatheorie des Aufgeklärten Realismus, die den Atheismus – als Methode, nicht als Weltanschauung – einschließt:

(2) in einer Anthropologie der Aufklärung (aus der Peripherie heraus), die einen dreifachen (kategorischen) Imperativ erdweit einfordert und als Lernprozess organisiert: Mündigkeit, Würde, Empathie.

 

p.s.

Die „Heimat“ des homo sapiens (als homo praestans) ist einerseits die „Entsterblichung“ seiner Natur (oder die „Entmachtung“ seiner Sterblichkeit), andererseits die „Vermenschlichung“ des Unsterblichen (Gottes).

Der „Holzweg“ ist nicht die Lösung des Problems (der Erlösung), sondern ein Irrweg, der (bestenfalls) als Umweg erkannt werden kann.

Erlösung als Erfahrung – in Form der messianischen Utopie – beginnt mit dem Schweigen, aber endet nicht in der „Heimatlosigkeit“, sondern hat Grund und Ziel: Menschliche Schöpferkraft und Sterblichkeit des Menschen (als eines natürlichen Lebewesens) lösen sich.

Grund ist die menschliche Schöpferkraft. Ziel ist die Entmachtung des Todes.

Der Holzweg ist keine Lösung

Holzwege sind nicht die Lösung des Problems der Erlösung. Holzwege sind spezielle Irrwege im Labyrinth des menschlichen Lebens. Irrwege sind Umwege, die nicht aufgeben, das erhoffte Ziel zu erreichen. Auf dem Umweg wird das Ziel nicht geleugnet, nicht vergessen oder sogar aufgegeben, sondern – bei aller Anstrengung – die Zielorientierung bleibt erhalten. Sie gibt dem Mäandern im Feld des Lebens Sinn. Demgegenüber ist die Aussage, der Weg sei schon das Ziel, sinnlos.

Ich verstehe diese Zielorientierung als die Dynamik des Vorläufigen in allem alltäglichen, gesellschaftlichen und forschendem Problemlösen. Die Struktur des Lösens von Problemen – das zeigt sich sowohl bei den Lösungswegen, als auch bei den Lösungen – ist provisorisch und antizipativ zugleich.

Daher ist auch der Holzweg eine spezielle Form des Umweges, den zu gehen, Mut, Anstrengung und Ausdauer verlangt. Insbesondere verlangt dieses Gehen, mit dem Zweifel umzugehen, ohne zu verzweifeln, und bereit zu sein, umzukehren. Denn der Holzweg ist eine Sackgasse. Er verlangt Umkehr – um im Bild zu bleiben: damit das geschlagene Holz aus dem Wald entfernt und entsorgt werden kann.

Das messianische Denken versteht das menschliche Leben als Bewegung in einem labyrinthartigen Feld. Der Ausgang – die Lösung bzw. Erlösung – ist existenziell erfahrbar, aber nicht erzwingbar oder begreifbar. Diese Erfahrung beginnt mit dem Schweigen, kann als konkrete Utopie beschrieben und in Oxymora erzählt werden.

Ein fatales Missverständnis: Die Differenz zwischen messianischem Bekenntnis und kirchlicher Institution

In einem Gastkommentar der NZZ (13. August 2022) behauptet der ehemalige Generalvikar des Bistums Chur, Martin Grichting, dass der „Synodale Weg“ der römisch-katholischen Kirche in Deutschland ein „Irrweg“ sei, der zu einer (weiteren) Kirchenspaltung führe, so dass sich schon jetzt zwei Bekenntnisse gegenüberstehen. Dabei greift er auf die Erfahrungen der Schweizer Landeskirchen zurück.

Dabei ist für mich klar: Die Praxis wie Legitimation der römisch-katholischen Kirche – als aktuelle Situation einer lang andauernden Ideologie- und Kriminalgeschichte – verlangen unwiderruflich eine rechtliche wie institutionelle Erneuerung. Diese notwendige Reform – übrigens ein Postulat der „ecclesia semper reformanda“ – führt nicht (weder praktisch noch zwingend) zu einem „abgeschwächten“ oder „liberalisierten Bekenntnis“. Sondern im umgekehrten Sinn gilt: das sachgemäße messianische Bekenntnis und seine konsequente und uneingeschränkte Übersetzung (in Theorie und Praxis) erzwingen die Reform der Institution Kirche.

Vordemokratische Macht- und Entscheidungsstrukturen sowie überholte Formen des „Staatskirchentums“ sowie überholte Formen bürokratischer Prachtgestaltung (mit dogmatischen Engführungen des 19. Jahrhunderts) sind ersatzlos abzuschaffen. Dabei sind bezüglich der römisch-katholischen Kirche als weltweiter Organisation die (ebenfalls) weltweit unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen und staatlichen Machtverhältnisse zu beachten, um die Unabhängigkeit wie Wirksamkeit der Kirche – im Interesse der Menschen – herzustellen bzw. zu sichern. So bedürfen der erst historisch spät durchgesetzte Pflichtzölibat und die überholten (der Gegenreformation geschuldeten) Beichtpraktiken, um nur zwei Beispiele zu nennen, dringend der Reform, weil sie die frühchristlichen Bekenntnisse des Christentums verunklaren und das messianische Bekenntnis aller Christen in den Hintergrund drängen, ja verdecken.

Eine entscheidende Aufgabe aller christlichen Kirchen, die sich nicht in Sekten verwandelt haben, bleibt es, das frühchristliche Bekenntnis bis hin zu den verbindlichen „Glaubensbekenntnissen“ („Credo“) in Theorie und Praxis so zu übersetzen, dass das Christentum in der heutigen Welt glaubwürdig bleibt.

Wird der Mangel an Glaubwürdigkeit erkannt, ist die Reform der Institution „Kirche“ überfällig. Dies gilt insbesondere – in der katholischen Kirche in Deutschland – für unaufgearbeitete Missbräuche gegenüber den getauften Mitgliedern, angesichts verordneter Unmündigkeit und politischer Abhängigkeit durch weitergeltende Praktiken des überholten „Staatskirchentums“.

Das messianische Credo der ersten Christen und ihrer Gemeinschaften kann nur unverfälscht erhalten bleiben – ich wiederhole, wenn es in Theorie und Praxis glaubwürdig übersetzt wird, ohne verfälscht oder relativiert zu werden. Das bedeutet auch, es von dogmatischen Engführungen der letzten Jahrhunderte zu befreien, um den Ursprung der Messias-Botschaft zu erhalten und um zu „verstehen“, was „Erlösung“ im 21. Jahrhundert bedeuten kann und muss.

Wer die derzeitige Herrschaftsstruktur der römisch-katholischen Kirche in Frage stellt und im Interesse der Glaubwürdigkeit dieser Institution verändern will und muss, der relativiert nicht die Überzeugung, dass Jesus aus Nazaret der Messias ist, der die Welt erlöst, sondern befreit dieses 2000 Jahre alte Bekenntnis von falschen, missverstandenen Vorstellungen.

Die Übersetzungstreue gegenüber dem jüdischen Messianismus und der kenosis-Überzeugung kann – meiner Überlegung nach – so weit gehen, dass der (methodische) Atheismus als eine Grundlage für das Lösen von Problemen in der heutigen Zeit akzeptiert werden kann. Daher kann der heute lebende homo sapiens Christ sein; im Sinne der konkreten Utopie der Erlösung der Welt.

Die von mir geforderte Übersetzungstreue der messianischen Botschaft, wie sie z.B. in den synoptischen Evangelien durch die spezielle „basileia tou theou“-Verkündung erklärt wird oder von Paulus aus Kleinasien in seiner kenosis-Theologie entwickelt wird oder in den Bekenntnissen der frühen Konzilien („Credo“) formuliert wird, muss einerseits das Abgleiten in Formen des Aberglaubens verhindern, andererseits das Weltverständnis der Aufklärung (von Kant bis Freud) beachten.

Ein gutes Beispiel für die Abwehr von Missverständnissen bezüglich der Kreuzes- und Opfer-Theologie ist meine Argumentation zum Verständnis des Kreuzes in meinem Buch: „Nachdenken aus der Peripherie des Anthropozän. Anhang“, Münster 2023. Die messianische Botschaft kann auch im anthropozentrischen Weltbild sachgemäß gedeutet und erzählt werden.

Zur Versöhnung von Atheismus und Christentum

oder
Die Ergebnisse der Aufklärung zuende denken

Eine Argumentation im Sinne des Aufgeklärten Realismus; gegen alle Spielarten von Naturalismus und Konstruktivismus sowie Theismus

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus
Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf., Münster 2020 (agenda Verlag, 160 Seiten)

Wer bei dem Wort „Versöhnung“ sofort in eine sog. „Identitätskrise“ verfällt und aus Gründen einer sprachlichen correctness an Wörtern wie „Vertöchterung“ oder „Vergeschwisterung“ bastelt, verkennt nicht nur die etymologische Herkunft des Begriffes, sondern pervertiert auch meine Absicht, über und im Projekt Versöhnung von Atheismus und Christentum nachzudenken, um eine sinnvolle Argumentation präsentieren zu können.

Das Verb „versöhnen“ ist eine Vokalmodulation des älteren Verbs „versühnen“ im Sinne von „Frieden stiften, ausgleichen, vermitteln“ – und eine Vermittlung schlage ich vor: die Position des Atheismus, wenn er streng methodisch verstanden wird, und die Praxis und Lehre des Christentums, wenn es von seinem Ursprung her, den die jüdischen Täufergemeinden (des 1. Jahrhunderts nach Christus) bezeugen, beschrieben wird. Diese Gemeinden, und insbesondere Paulus aus Tarsus, bezeugen, dass der am Kreuz hingerichtete Wanderprediger Jesus aus Nazaret der erwartete Messias/Christus ist.

Die messianische Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft sowie von der erlösenden Funktion der Menschwerdung Gottes (dokumentiert im kenosis-Hymnus des Philipperbriefes) relativieren das theozentrische Weltverständnis (im damaligen Römischen Reich). Denn das jüdisch-messianische Denken greift auf die Exodus-Struktur der Bibel zurück. Und dies führt schon bei manchen Gelehrten im damaligen Römischen Reich zu dem Vorwurf, dass die „Christus-Gläubigen“ Atheisten seien.

Ich übersetze die messianische Botschaft unter den Bedingungen des heutigen, aufgeklärten, anthropozentrischen Weltverständnis als „konkrete Utopie der Erlösung“. Und diese Übersetzung schließt den methodischen Atheismus (zur Lösung von Problemen) nicht aus. Aufgeklärte Christen sind in ihrem Denken und Handeln (zunächst) methodische Atheisten; sie müssen – mit allen Menschen – denken und handeln, als wenn es Gott nicht gäbe (sic deus non datur). Und sie können so denken und handeln, da sie unter dem Vertrauensvorschuss der (konkreten Utopie der) Erlösung befreit sind von religiösem Zwang und gesellschaftlichen Vorurteilen.

Im Gegensatz zum gnostischen Denken (der Selbsterlösung) steht das messianische Denken (im Sinne der kenosis), in dem Erlösung als zu erwartende „Gabe“, als Geschenk gedacht wird, die befreit – aber in einem radikal anderen Sinn als in der Gnosis. Übrigens bleibt Hegel, wenn er in seiner Philosophie des Geistes von Versöhnung spricht, im gnostischen Verständnis.

Für das messianische Denken sind existenzielle Erfahrungen kairologischer Struktur, und damit im strengen Sinn zeitlos, also ewig; während historische oder zukünftige Erwartungen apokalyptischer Art oder als Apokatastasis oder als Weltgericht (am Weltende) in chronologischen Strukturen erzählt werden. Chronologische Rekonstruktionen (z.B. Schöpfungsmythen oder Gerichtsszenarien am Ende der Welt) sind an ein theozentrisches Weltverständnis gebunden.

Schöpfungsmythen wie Paradiesvorstellungen bedürfen daher eines Schöpfers, sind „metaphysisch“ strukturiert. Demgegenüber bestimmt das anthropozentrische Weltbild der Aufklärung (und der heutigen Erfahrungswissenschaften) den Menschen als Schöpfer – und religiöse/metaphysische Sprachspiele als seine Projektionen.

Der Mensch (als Vernunftwesen) versucht, alle Probleme dieser Welt zu lösen (durch Begreifen und Eingreifen), aber diese „Potenz“ (diese Möglichkeit) ist an seine Leiblichkeit und Sterblichkeit gebunden. Der Mensch ist ‚Vernunft- und Naturwesen. Diese Verknüpfung von Natur (Leiblichkeit) und „Geist“ – im Sinne von „Problemlösungspotenzen“ (individuell wie gesellschaftlich, als lebendiger Organismus wie als Gesellschaftsformation) schafft Bewusstsein und Selbstbewusstsein.

In diesem und durch dieses Bewusstsein (in mehrfacher Ausprägung: als Gesprächs-, Reflexions-, Erinnerungs- und Planungsfähigkeit inklusive der Entwicklung von Selbstbewusstsein/Mündigkeit) sind Menschen fähig, ihre Lebensprobleme zu lösen, ihre Natur (Leiblichkeit) und ihre Welt (die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos) zu erkennen und zu gebrauchen.

Für ihre Fähigkeiten („Potenzen“ – Aufbewahrung und Gebrauch) sind die Menschen allein verantwortlich. Diese Verantwortung beim Lösen ihrer Probleme (im Alltag und in der Wissenschaft) und der Sicherung ihrer Erkenntnisse können sie – zusammenfassend – als ihre Autonomie bzw. Mündigkeit reflektieren. In diesem Sinn sind sie notwendigerweise „methodische Atheisten“, die weder auf andere Instanzen oder mythologische Erzählungen zurückgreifen. Sie haben gelernt, von dieser (methodischen) Erkenntnisarbeit Ideologien und deren Wirkung zu unterscheiden. Dies gilt für alle Spielarten von Theismus, Naturalismus, Materialismus und Konstruktivismus.

Menschen sind weiterhin in der Lage, Teile und Ergebnisse ihrer Potenzen „auszulagern“; ich denke z.B. an Bibliotheken. Heutzutage sprechen wir von „künstlicher Intelligenz“. Das menschliche Erinnerungsvermögen ist damit weltweit sicherbar und abrufbar. Dies gilt auch in zunehmendem Maße für die Planungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Die Grundlage dieser Potenzen ist das Bewusstsein. Seine Entstehung und Entwicklung bleibt an den „lebenden, selbstgesteuerten Organismus Mensch“ gebunden, selbst wenn eine funktionsbestimmte Loslösung vom menschlichen Organismus (in „Maschinen“) möglich wird.

Selbst die Bildung des geschlechtlichen Ich-Bewusstseins (geschlechtliche Identität) ist zwar an den individuellen Organismus, die Leiblichkeit, gebunden, setzt aber als Selbstaussage der je eigenen Erfahrung Selbstbewusstsein (im Sinne der Mündigkeit) voraus.

Für die Fortpflanzungsmöglichkeit und die Erziehung der Nachkommen gilt die gemeinsame Verantwortung von Vater und Mutter. Gesprächskompetenz ist mehr als Sprachkompetenz und Rechtsbewusstsein ist nicht einfach die Summe individuellen Selbstbewusstseins, sondern ein Lernprozess der Konsensbildung, der sich auf der Basis der Gleichheit an Freiheit und Gerechtigkeit orientiert.

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus
Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf., Münster 2020 (agenda Verlag, 160 Seiten)

Bewusstsein entsteht (bildlich vorgestellt) als Schnittmenge von Natur und Kultur (als Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklung) bei Zeugung und Geburt und endet für das einzelne Individuum durch seinen Tod. Leiblichkeit wie Sterblichkeit sind für das Bewusstsein eines jeden Menschen konstitutiv. Mit Hannah Arendt fasse ich diese Erkenntnis in die Aussage zusammen: Menschen sind sterbliche Schöpfer.

Diese Erkenntnis korrigiert ideologisch geprägte und/oder durch das vorherrschende Weltbild bestimmte Vorstellungen davon, was der Mensch und seine Welt seien. Daher postuliere ich: der Prozess der Aufklärung (als Antwort auf die Frage, was der Mensch sei) muss konsequent zuende gedacht werden. Das Ziel dieses Projektes – als Resultat metatheoretischer Reflexion – fasse ich unter dem Titel „Aufgeklärter Realismus“ zusammen. Erste Ergebnisse dieser Metareflexion (im Sinne einer aufgeklärten Anthropologie) habe ich in meinem gleichnamigen Buch (Münster 2020) veröffentlicht.

Wann und wo ist ein Buch überholt?

Biografische Episode während der Pandemie mit reflexivem Einschub zum Raum-Begriff

Wann und wo ist ein Buch überholt?

Wer gelernt hat, über lange Zeit in seinem Arbeitszimmer an seinem Schreibtisch zu sitzen und zu schreiben, dem ist – zusätzlich als Bibliophiler – die aktuelle Nötigung zur Häuslichkeit in Zeiten der Pandemie nicht ungewohnt, wenn auch grenzwertig.

Ich arbeite, informiere mich online und schreibe in meinem Gehäus; so nennt und zeichnet Albrecht Dürer die Studierstube des Hieronymus. Ich empfinde diesen Zustand als gewohnt, wenn auch nicht gesundheitsfördernd. Kein Engel über mir und kein Löwe vor mir schützen mich; obwohl: auch ein dämmernder Löwe ist wachsam und ein schwebender Engel stiftet himmlischen Duft.

Statt Löwe und Engel schützen mich – wie Barrikaden – Bücherreihen, Bücher- und Manuskriptstapel (wenn auch auf fragile Weise) und Bücherregale voller Bücher. Ein explizierter Bibliophiler ist eben ein implizierter Biblioman.

Meine Bücher verströmen nicht nur einen unterscheidbaren Geruch (ich kann Bücher riechen und dieses Phänomen druck- und klebetechnisch erklären), sondern sie haben eine unterschiedliche visuelle Gestalt; selbst Paperbacks und Taschenbücher sind (u.a. dank der edition suhrkamp) individuell unterscheid- und erkennbar.

Seit meiner Jugend – und den regelmäßigen Besuchen in der Stadtbücherei – habe ich die Fähigkeit, Bücher an Gestalt und Farbe wiederzuerkennen, auch wenn die Reihenfolge in den Bücherregalen eher chaotisch ist. Das alles ist eine Frage der Geduld.

Von Zeit zu Zeit frische ich meine visuelle Fähigkeit auf, indem ich ein Buch aus dem Regal nehme, es (insgeheim) berieche und mich schnell wieder an Autor und Inhalt erinnere; selbst wenn ich das Buch nur flüchtig gelesen oder durchblättert habe.

Soweit die Hinweise zu meinem praktischen Alltag. Grenzwertig ist dieser durch Pandemie erzwungene Alltag, weil die wöchentliche Flucht vom Dorf in die Stadt, in ihre Buchgeschäfte und Cafés unmöglich und verboten ist, so dass nur Routinegang mit Ausweis und Gesichtsmaske in die Universitätsbibliothek bleibt. Das ist schon frustrierend; beinahe hätte ich „kastrierend“ geschrieben.

Eine Universitätsstadt voller Bücher ist ohne geöffnete Cafés und Bistros und ohne Kommunikation halbtot; auch die geschlossenen Museen (wie die menschenleeren Kirchen) verlieren ihre Attraktion. Doch zurück in mein Gehäus.

Gestern griff ich, um meine Wahrnehmung zu prüfen und die Fähigkeit wiederzuerkennen zu stärken, zu einem kleinen, gebundenen Buch des Kölner DuMont Bücherverlages aus dem Jahr 2010: Alexander Marguier: Das Lexikon der Gefahren. Marguier, westdeutscher Journalist, hat in diesem Buch Anekdoten zur Gefährdung von A wie Alkohol bis Z wie Zusatzstoffe in Lebensmitteln gesammelt und Gottfried Müller hat sie jeweils präzise illustriert.

Bevor ich anhand dieses in Leinen gebundenen Taschenbuches „für die Hosentasche“ die Frage beantworte, ob es „überholte“ Erzählungen in „veralteten“ Büchern gibt, muss ich klären, ob und was es bedeutet, im Gehäus zu sitzen und zu schreiben; in der Tradition von Hieronymus (in der Phantasie Dürers), von Luther (auf der Wartburg) oder Hans Blumenberg (in seiner Münsteraner Wohnung in literarischer Verarbeitung durch Sibylle Lewitscharoff). Wie beeinflusst der Raum des Erzählers, Übersetzers, des Aufschreibers die Erzählung und die Geschichte ihrer Überlieferung – auch ohne Engel oder Löwe?

Der Raumbegriff ist ein Konstruktion des menschlichen Bewusstseins. Räume prägen unsere alltäglich Wahrnehmung, wie auch unser Erzählen im Gespräch. Naturwissenschaftlich gesehen ist der Raumbegriff sekundär, also abgeleitet. Grundlegend ist heute nicht mehr der physikalische Raum (der sog. Klassischen Physik), primär ist der Feldbegriff. Durch seine

Differenzierung können verschiedene Räume (bis hin zum Schwarzen Loch) eindeutig begriffen und beschrieben werden.

Erfahrungswissenschaftlich (raumsoziologisch) ist der Raumbegriff sekundär, da er ohne Zeit nicht gedacht, nur in der Zeit (chronologisch) wahrgenommen und beschrieben werden kann. Erfahrungen werden also verstanden, indem sie sprachlich (in Sprachspielen) ausgedrückt/verfasst werden. Dies gilt in einem ursprünglichen Sinn: nur in einer sprachlichen Verfassung können sie verstanden und (natürlich) erzählt werden.

An der sprachlichen Verfassung von Erfahrung lässt sich ablesen, ob sie begriffen werden kann oder (als Utopie bei religiösen Sprachspielen) erzählt werden muss. Bestimmte Erfahrungen (z.B. Märchen) sind nicht an Ort und Zeit gebunden, auch und da sie in fiktiven Orten und zu fiktiven Zeiten spielen. Diese Erfahrungen können von der erzählten Zeit und den erzählten Orten gelöst werden; in diesem Sinn sind sie ort- und zeitlos, aber Weltbild-abhängig.

Ich nenne begreifbare Erfahrungen hinsichtlich ihrer Dimension „chronologisch“; erzählbare Erfahrungen „kairologisch“. Im (heutigen) anthropozentrischen Weltbild sind chronologische Erfahrungen begreifbar, in bestimmten Rahmen reproduzierbar und verbindlich mitteilbar. Kairologische Erfahrungen sind existenziell erfahrbar und nach einer Pause des Schweigens auf „aenigmatische Weise“ erzählbar (wie in einem Spiegel).

Um die Bedeutung von Sprachspielen aus dem theozentrischen Weltverständnis zu erkennen, müssen diese (überkommenen) Sprachspiele übersetzt werden. Dieser Prozess der Übersetzung schließt kritische Prüfung (auf Sinn oder Sinnlosigkeit) ein. Die mögliche Bedeutung überkommener Sprachspiele (z.B. in religiöser Sprache) kann im Gespräch in Form konkreter Utopie vermittelt werden.

Religiöse Sprachspiele sind rückgebunden an das theozentrische Weltbild. Diese Rückbindung zeigt sich in den zahlreichen Schöpfungtsmythen. Für das aufgeklärte Denken bleibt zu prüfen, ob in den tradierten Botschaften utopische Strukturen konkret erkennbar und erzählbar sind.

Mein (vorläufiges) Ergebnis der Prüfung und Übersetzung der jüdisch-christlichen Tradition und ihrer Sprachspiele ist die konkrete Utopie der messianischen Botschaft. Ihr kann unter den Bedingungen des anthropozentrischen Weltverständnisses vertraut werden und diese Botschaft kann als konkrete Utopie der Erlösung weiter erzählt werden. Auf andere Weise formuliert: Aufgeklärtes Denken und messianisches Denken sind dem Grunde nach kongruent.

Eine Konsequenz messianischen Denkens ist die Raum- und Zeitlosigkeit kairologischer Erfahrung, auch wenn ort- und zeitbedingt erzählt wird. Das bedeutet zugleich die Profanisierung von Raum und Zeit. Es gibt keine heiligen Orte und keine heiligen Zeiten. Arbeitszimmer und Studierstuben dienen der Konzentration menschlichen Bewusstseins; Kirchenräume und Museen dienen der Ruhe und Entspannung, aber auch der gemeinsamen Erinnerung und Danksagung, wie der bewussten Wahrnehmung künstlerisch geschaffener Artefakte.

Zu den Konzentrationsübungen des menschlichen Bewusstseins gehört der abschätzende und verantwortungsvolle Umgang mit den Risiken des Alltags und der Arbeit, im Sinne der Einsicht von Hannah Arendt, dass wir Menschen sterbliche Schöpfer sind. Hier unterstützt – auf launig-satirische Weise das oben genannte Lexikon der Gefahren.

Ich schlage unter dem Stichwort „Pandemien“ nach (Seite 163-168) und erfahre zunächst, dass der Begriff „Pandemie“ „mittlerweile zum Wortschatz der Globalisierung“ gehört. Ich gestehe, bis vor einem Jahr kannte ich dieses Wort nicht und begnügte mich, von „Epidemien“ zu sprechen. Ich lese weiter:

Die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland einer pandemischen Infektionskrankheit zu erliegen, ist heutzutage wegen der enormen medizinischen Fortschritte und aufgrund besserer Hygiene so gering wie nie zuvor. Noch zwischen den Jahren 1918 und 1920 fielen allein im Deutschen Reich schätzungsweise 300 000 Menschen der Spanischen Grippe zum Opfer, gegen die es keinen Impfstoff gab.“ (S. 167)

Dieses Buch erschien im Jahr 2010 auf dem Büchermarkt und die Aussage zur Pandemie ist 2021 überholt. Nun weiß ich nicht, ob Autor und Verlag eine korrigierte Neuauflage planen. Interessant ist die Fehleinschätzung der Risiken vor mehr als 10 Jahren. Zweifellos ist dieses Buch mit dieser Aussage veraltet. Bemerkenswert bleibt, wie wir mit Risikoeinschätzungen in gedruckten Büchern umgehen sollten. Bücherfreunde seien gewarnt.

Das utopische Denken. Zur Dynamik des Vorläufigen

Die Vorläufigkeit des konstruktivistischen Denkens für endgültig zu erklären, ist eine resignative Form der Metaphysik. Vorläufiges Denken und Handeln hat eine Dynamik, die durch utopisches Denken – im heutigen anthropozentrischen Weltverständnis – gekennzeichnet werden kann.

Menschliches Denken und Handeln im Prozess der Aufklärung ist – zusammenfassend – als Problemlösen strukturiert. Diese Struktur als endlich zu analysieren, eröffnet die Utopie der Erlösung, die existenziell erfahren und konkret erzählt werden kann, aber nicht begriffen.

Das Vorläufige ist nicht das Endgültige. Die Endlichkeit alles Menschlichen enthält (verbirgt und eröffnet) eine Dynamik: Provisorium und Antizipation zugleich; Erkenntniszuwachs wie Erkenntnisfortschritt. Der entscheidende Impuls für alles Problemlösen ist die Utopie der Erlösung (als Erwartung: zeit- und ortlos).

Religion, wie sie sich heute präsentiert, ist der Rückzugs-Ort des Heiligen in einer profanen Welt. Demgegenüber umfasst das Utopische Denken den Welt-Raum. Dieses Denken benötigt weder Tempel noch Heiligtümer; es wirkt mitten unter den Menschen, mitten in unserer verdinglichten, entfremdeten Welt. Historisch wie biografisch gesehen hat das Utopische Denken konkret einen Namen: gebunden in der – und übersetzt aus der jüdisch-christlichen Täufer-Tradition: das messianische Denken.

Utopisches Denken wird im Alltag der Menschen erfahrbar und erzählbar, aber bleibt unbegreifbar. Der „Ort“ der Utopie, der einzige Ort des Ortlosen (ein Oxymoron) ist das Gespräch; in ihm kann erzählt und gehört werden, was Erlösung bedeutet (in der Struktur der Antizipation). Die Differenz von chronos und kairos ist erkennbar, erfahrbar, erzählbar, aber nicht aufhebbar.

Das Gespräch dient sowohl der gemeinsamen Rückerinnerung, als auch der gemeinsamen Entwicklung von Perspektiven und Aktionen; es ist der Raum der Umkehr (Revision) und Verantwortung. Entscheidend ist die dialogische Struktur des Gespräches, selbst da, wo der Einzelne sich mit sich selbst verständigt (verständigen muss). Verantwortung ist nicht delegierbar, Selbstkritik und Umkehr befreien.

Was bedeutet strukturell Erlösung in einer Welt ohne Gott?

Über die Differenz zwischen Chronos und Kairos im messianisch-apokalyptischen Denken und die Konsequenzen in einem anthropozentrischen Weltverständnis: methodischer Atheismus und die Utopie der Erlösung

(A) Gliederung mit Thesen

(0) Analyse der Frage: Ist in einer „Welt ohne Gott“ Erlösung denkbar?
Ich antworte mit JA und kläre im Folgenden fünf Voraussetzungen
meiner Grundsatzfrage:

  • der „erlesene“ Hintergrund,
  • ein Irrtum bisheriger Religionskritik: Religion verschwindet nicht,
  • Aufklärung und Übersetzung sind notwendig,
  • die Differenz von Erfahrung und Erkenntnis,
  • Erlösung denken?

(0.1) Der „erlesene“ Hintergrund: Bonhoeffers Widerstand und Ergebung
und Blochs Atheismus im Christentum
(0.2) Sakralität der Person statt Entzauberung der Welt (Zur Position von
Hans Joas)
Religionen können sowohl Hindernis wie Treibmittel kollektiver
Selbstsakralisierung sein. Auch die „Sakralität der Person“ (Joas) ist
ambivalent gegenüber den jeweiligen Machtverhältnissen. Das
Grundrecht auf Menschenwürde muss daher immer wieder
durchgesetzt und ethisch normiert werden.
(0.3) Theorie und Praxis des Christentums bedürfen der Aufklärung und
die christlich/jüdische Botschaft bedarf der Übersetzung
Hannah Arendt fasst das aufgeklärte Menschenverständnis (die
Würde und Autonomie des Menschen; die conditio humana) unter
der Parole zusammen, dass wir „sterbliche Schöpfer“ sind.
(0.4) Zur Differenz von Erfahrung und Erkenntnis im aufgeklärten Denken
Diese Differenz muss bedacht werden, um Ideologisierung und
Verdinglichung jeder religiösen Weltanschauung zu erkennen. Das
gilt auch für Weltanschauungen, die sich atheistisch als Spielarten
von Materialismus oder Naturalismus präsentieren.

(0.5) Erlösung denken?
Nach der Lektüre von Hans-Jürgen Goertz: Bruchstücke radikaler
Theologie heute. Eine Rechenschaft, Göttingen 2010
Was es bedeutet, christliche Theologie heute radikal zu denken, ohne
dies als „Verschwinden der Religion“ misszuverstehen.

(1) Zur Politischen Theologie des Paulus
Gerd Theißen und Petra von Gemünden formulieren: „Paulus wollte
nicht das Christentum begründen. Sein Christentum war ein antikes
messianisches Reformjudentum. Sein Römerbrief wurde aber zu einem
Testament für die ganze Menschheit.“

(2) Chronologischer Prozess oder kairologische Struktur
Die Erlösung der Welt als chronologischen Prozess zu denken, ist unter
den Bedingungen anthropozentrischer Weltvorstellung sinn-los.
Erlösung im Sinne des Messias-Ereignisses hat eine kairologische
Struktur.

(3) Kairologische Struktur als konkrete Utopie
Die Zusage der Erlösung – als Messias-Ereignis – befreit zu
autonomem, verantwortungsvollem Handeln.

(4) Befreiung als ständige Aufgabe im Sinne der conditio humana
Die Erfahrung der Erlösung – als konkreter Utopie – kann nicht erkauft
oder erzwungen werden; aber ohne Arbeit, Verantwortung und
Empathie kann Befreiung nicht gelebt und Erlösung nicht erfahren
werden.

Exkurs (1): Zum Theorie-Praxis-Verhältnis – Problemfall: Muße

Exkurs (2): Tableau der conditio humana

(5) Zur Differenz von Problemlösen und Erlösung
Die Sterblichkeit und Vorläufigkeit des In-der-Welt-Seins in Frage
zu stellen, ist im Lichte der Hoffnung auf Erlösung möglich. Dabei
muss die Struktur der konkreten Utopie beachtet werden, um nicht in
Metaphysik oder Projektion zurückzufallen.

(6) Revision als Metamorphose
Die Utopie der Erlösung ist ort- und zeitlos, aber kann und muss in
der Zeit wirksam werden (als konkrete Utopie erfahrbar).

(7) Gott: ein synsemantischer Ausdruck für Liebe (agape)
„Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und
Gott bleibt in ihm.“ (1 Joh. 4,16)

(8) Orthopraxis statt Orthodoxie
Die Orthopraxis der uneingeschränkten Menschenliebe verbindet
die Christen mit allen Menschen, die sich für Freiheit, Gleichheit
und Gerechtigkeit engagieren.

(9) Zur Vorgeschichte des Atheismus im Christentum
Die theologia negativa hat Selbstdisziplin zur Konsequenz:
Schweigen statt „Gottesgeplapper“.

(10) Metamorphose statt Restitution
– eine Konsequenz aus der kritischen Aufarbeitung
der historischen Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts

(11) Prüfung und Umkehr (metanoia) statt Anpassung
– das fiktive Bekenntnis des Heinrich Krechting

(12) Lob der Inkonsequenz
Jede gelebte Orthopraxie ist verbindlich und vorläufig zugleich.
Gegen falsche Konsequenz, die in Terror umschlägt.

(13) Messianisches Denken in einer Welt ohne Gott
In einer Welt ohne Gott ist Erlösung denk- und erfahrbar,
aber nicht (aussagenlogisch) begreifbar.

Exkurs (3): Maximen für einen aufgeklärten Menschen im 21. Jahrhundert,
sein Denken und Handeln, seinen Alltag und Beruf betreffend.

(B) Essay

(0) Analyse der Frage: Ist in einer „Welt ohne Gott“ Erlösung denkbar?

Der mögliche Sinn dieser Grundsatzfrage ergibt sich aus Bedeutung und Kontext der gebrauchten Wörter. Sind es Begriffe oder synsemantische Ausdrücke oder Beschreibungen von Tätigkeiten oder Oxymora?
Die Bedeutung der Wörter ist gebunden an ihren Verwendungszusammenhang und den Deutungs-Horizont, der sich aus der jeweiligen zeitbedingten Weltanschauung, dem Weltbild ergibt. *) Anm.1

Daher scheint die Antwort auf die eingangs gestellte Frage einerseits einfach: NEIN, denn „Erlösung“ ist nur in einem theozentrischen Weltbild
denkbar. In einem anthropozentrischen Weltbild – in einer Welt ohne Gottesvorstellung (welcher Art auch immer) – ist „Erlösung“ (was immer damit gemeint ist) nicht denkbar (wobei „denkbar“ der Definition bedarf).

Das spontane NEIN impliziert eine bestimmte Weltvorstellung. Auf den ersten Blick ist in einem anthropozentrischen Weltverständnis, also in einer „Welt ohne Gott“ die Frage nach Erlösung sinnlos.

Andererseits erwarten die Leserin oder der Leser, dass ich mit JA antworte; sonst würde ich mich nicht mit dieser Frage beschäftigen und meine Antwort aufschreiben. Mein JA bedarf nicht nur der Begründung, sondern zuvor der begrifflichen wie biographischen Explikation:

  • der Hintergrund meiner Argumentation;
  • das Verschwinden der Religion: ein religionskritischer Irrtum;
  • die Notwendigkeit aufzuklären und zu übersetzen;
  • die Differenz von Erfahrung und Erkenntnis;
  • Erlösung denken.

Der philosophisch geschulte Leser (die Leserin) wird bereits jetzt erkennen, dass die Klärung dieser fünf Vorabklärungen zumindest ansatzweise die Begründung der Antwort auf die Gesamtfrage dieses Essays impliziert.

So ist es im Feld der Metareflexion: Wer über die Voraussetzungen des Denkens nachdenkt, denkt bereits nach; also bewegt sich in den Strukturen der Metareflexion. Dennoch ist es sinnvoll, zunächst die fünf Voraussetzungen meiner Grundsatzfrage zu klären; so ist es möglich, meine Argumentationsstruktur offenzulegen, damit sie nachvollzogen und beurteilt werden kann.. Argumente und ihren Strukturzusammenhang offenzulegen, vermeidet logische Denkfehler und die unreflektierte Weitergabe von Vorurteilen.
Es kommt darauf an, Vorurteile nicht zu leugnen (denn dann reduziert sich der Wahrheitsanspruch auf personenbezogene Glaubwürdigkeit), sondern, Vorurteile zu erkennen und ihre Wirkungen zu prüfen.

(0.1) Der „erlesene“ Hintergrund: Bonhoeffers Widerstand und Ergebung und Blochs Atheismus im Christentum.

Während meines Studiums (1968 in Freiburg/Breisgau) habe ich Ernst Blochs Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs gelesen (Band 14 der Werkausgabe) und (in der Paperback-Ausgabe des Suhrkamp-Verlages) durchgearbeitet. Und – wie es meine Unart ist – habe ich mit schwarzer Tusche den Text kommentiert. Auf dem Titelblatt zitiere ich aus Goethes Faust: „Jeder sonnt sich heute so gern. Sie feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind selber auferstanden.“ Und ich gebe einen Hinweis: „Hiob, der erste Marxist“. Ich zitiere aus dem entsprechenden 24. Kapitel „Grenze der Geduld, Hiob oder Exodus nicht in, sondern aus der Jachwevorstellung selber, Schärfe des Messianismus“ (Seite 165f):
„Der Auszug aus caesarischer Gottesvorstellung, wie ihn Hiob begann, den Menschen über jede Art von Tyrannei setzend, über die fragwürdige einer Gerechtigkeit von oben, auch über die neu-mythische einer Naturmajestät an sich: dieser Auszug ist nicht auch einer aus dem Auszug selbst. Konträr: gerade der Rebell besitzt Gottvertrauen, ohne an Gott zu glauben; das heißt, er hat Vertrauen auf den spezifischen Jachwe des Exodus aus Ägypten, auch wenn jede mythologische Verdinglichung durchschaut wurde, jeder Herrenreflex nach oben ursächlich aufhört.“
Und zwei Sätze weiter heißt es lapidar: „…doch Hiob ist gerade fromm, indem er nicht glaubt“. Am unteren Rand verweise ich auf „Camus – Revolte – Sartre“ und stelle die Frage: „…oder ist der Vater Jesu im Zeugnis Jesu bereits entideologisiert“?
Beim heutigen Durchlesen bleibt die Hiob-Analyse Blochs zutreffender als die verkürzende und einseitig zugespitzte Formulierung, dass nur ein Atheist ein guter Christ sein kann und ein Christ ein guter Atheist. Aber Bloch liebt auch die Zuspitzung und ich denke über meine damalige Begeisterung dieses 1969 neuen Buches von Ernst Bloch nach; dass Hiob fromm ist, indem er nicht glaubt, das überzeugt mich (in ihrer Dialektik) auch heute.

Wenn ich recht erinnere, kannte ich 1969 bereits das Siebenstern-Taschenbuch Nr.1: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hrsg.v. Eberhard Bethge. Seine „nicht-religiöse Interpretation der biblischen Begriffe“ (S.176) beschäftigte mich und meine Freundinnen und Freunde. Als Konsequenz der „weltlichen Interpretation“ (S.178) formuliert Bonhoeffer in dem selben Gefängnisbrief vom 16. Juli 1944:
„Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden; ebenso aber als philosophische und religiöse Arbeitshypothese (Feuerbach!). Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit diese Arbeitshypothese fallen zu lassen bzw. sie so weitgehend wie irgend möglich auszuschalten.“ (S.177, zitiert nach der 5.A., München und Hamburg 1968)
Und zwei Absätze weiter heißt es, dass wir nicht redlich sein können, ohne zu erkennen, dass wir in der Welt leben müssen – „etsi deus non daretur“.
Bonhoeffer sieht in dieser Erkenntnis den „entscheidenden Unterschied“ zu allen Religionen. Und er spitzt seine Erkenntnis zu in die Formel eines unaufhebbaren Widerspruchs, eines Oxymoron: „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.“ (S.178)

Zu beachten ist bei der Aussage von Bonhoeffer das „als ob“ (etsi deus non daretur). Die Frage nach der Existenz Gottes wird gleichsam eingeklammert, da in einem anthropologischen Weltverständnis (in einer „Welt ohne Gott“) nicht beantwortbar; als „moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese abgeschafft“; in meinem Sprachgebrauch sinn-los.

(0.2) Sakralität der Person statt Entzauberung der Welt (Zur Position von Hans Joas)

Auch in modernen (nachindustriellen) Gesellschaften verschwindet Religion nicht; insofern ist das Konzept von der Entzauberung der Welt durch den historischen Prozess der Säkularisierung zu hinterfragen. Hans Joas setzt sich daher zu Recht mit der geschichtsphilosophischen Konstruktion der „Entzauberung der Welt“ bei Max Weber auseinander.

Hier ist Aufklärung notwendig: nicht mit dem irrigen, empirisch falsifizierten Ziel oder der vermeintlichen Hoffnung, Religion zum Verschwinden zu bringen; sei es, als selbstlaufender oder angetriebener Prozess – sondern mit der notwendigen Reflexion, religiöse Aussagen und Strukturen auf ihren Sinngehalt und ihre historische Entwicklung zu prüfen und gegebenenfalls in nichtreligiöse Sprache wie auch partizipative, demokratische Strukturen zu übersetzen und menschenverbindend und -verbindlich („universalethisch“) zu dokumentieren. *) Anm.2

Die berechtigte Kritik an Max Webers Entzauberungsthese (in „Wissenschaft als Beruf“ 1919), wie sie von Hans Joas enwickelt und veröffentlicht wurde (neuestens: Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017), verstehe ich nicht als Rehabilitation unaufgeklärter Religion, sondern verweist auf die fortbestehenden Funktionen von religiöser Theorie und Praxis in modernen, bürgerlichen Gesellschaften. Übrigens gelten diese aus der dreifachen Kritik der Aufklärung gewonnenen Funktionen oft auch für die heute vorherrschenden atheistischen Weltanschauungen des Materialismus und Naturalismus. Ich erinnere an die Kritik der Erkenntnis überhaupt (Kritik jeder Metaphysik), Kritik der Religion (Projektionstheorie) und die moderne Sprachkritik (Bedeutungsanalyse und Struktur von Sprachspielen).

Wenn ich Hans Joas recht verstehe, erkennt auch er die ambivalente Funktion von Religion im Verhältnis zu Macht und Gewalt. Religionen (aus achsenzeitlichen Traditionen) können „sowohl Hindernis wie Treibmittel kollektiver Selbstsakralisierung“ sein (Die Macht des Heiligen, S. 485). Joas bescheinigt allen religiösen und säkularen Traditionen ein „beträchtliches Maß an Flexibilität“, „was ihre Anpassung an Machtverhältnisse betrifft“ (ebd.). „Es gilt der „Hegelschen Versuchung“ teleologischer Geschichtsdeutung zu entgehen, ohne dabei zu vergessen, dass die Menschheit eine einzige Geschichte hat.“ (ebd. ohne Fußnoten)

Ich frage mich daher, ob das Bekenntnis zur „Sakralität der Person“ (so Joas), also, wie ich es verstehe, ob das Postulat und die Unterstellung der Menschenwürde für alle, auch zukünftige Menschen in dieser Welt ein quasi religiöser Grundwert ist. Und was bedeutet diese „Flexibilität“ (Joas) oder pointierter formuliert: diese Ambivalenz? Hans Joas gibt in seiner Schrift „Sind die Menschenrechte westlich?“ (München 2015) eine selbstkritische Antwort. *) Anm.3

Ich ziehe aus diesen Überlegungen folgende Konsequenz: Das Grundrecht auf Menschenwürde und die praktische Umsetzung der Menschenrechte insgesamt müssen immer wieder neu durchgesetzt und als Normen verankert werden. Das meint auch Hannah Arendt, wenn sie davon spricht, dass die Welt täglich neu „eingerenkt“ werden muss. (Vortrag 1958, Die Krise der Erziehung) Und ich formuliere noch grundsätzlicher: So wie das christliche Kreuz als Symbol der Erlösung durch den hingerichteten (radikal „entmachteten“) Messias Jesus auch als Zeichen der Macht und Gewalt missbraucht wurde und wird, so ist auch die Würde jedes Menschen (als universaler Grundwert) in der Gefahr, als Legitimation verbrecherischer Praxis, selbst wenn Staaten sich darauf berufen, missbraucht zu werden.

(03) Theorie und Praxis des Christentums bedürfen der Aufklärung und die christlich/jüdische Botschaft bedarf der Übersetzung

Ich plädiere für die Notwendigkeit der Erkenntnis-, Religions- und Sprachkritik auf der Basis des anthropozentrischen Weltbildes. Sie trifft und betrifft auch die Theorie und Praxis der christlichen Kirchen. Ich beschränke mich auf die Geschichte und Gegenwart des Christentums, weil ich mich biografisch und wissenschaftlich in dieser „Religion“ auskenne.

Uneingeschränktes Kritisches Denken und methodischer Zweifel müssen nicht in die Verzweiflung führen, sondern können die Autonomie des Menschen offenlegen, denn die Menschen sind für ihr Denken, Planen und Handeln veranwortlich. Diese Grundannahme – und Postulat zugleich – bedarf der differenzierten Erörterung und Analyse, um Missverständnisse zu vermeiden. Aber sie erzwingt die Manifestation und Durchsetzung der Würde des Menschen durch die Menschenrechte und seine Partizipation an der Macht durch Begrenzung und Demokratisierung.

Hannah Arendt fasst dieses Menschenverständnis (die conditio humana) unter der Parole zusammen, dass wir sterbliche Schöpfer sind. Demgegenüber entlastet Religion – in Form von Überzeugung und (ritueller) Praxis – auf der Basis theozentrischer Weltauffassung – zwar von der Gesamtverantwortung der Menschen für ihre Erde, aber sie legitimiert zugleich Heteronomie und unkontrollierte, undemokratische Machtausübung.

Meine Auffassung ist: die modernen Gesellschaften und die heutigen Wissenschaften wie auch das zeitgemäße Rechtssystem verlangen, um Erkenntnisfortschritt wie demokratische Partizipation und Chancengleichheit zu sichern, den methodischen Atheismus wie erfahrungswissenschaftlich geprüftes Wissen und erfolgreiche Theorien; aber Erkenntnis und Erkenntnisfortschritt sind von existenzieller Erfahrung zu unterscheiden.

Meine Einschätzung ist: Religion, selbst in ihrer unaufgeklärten Form und in ihren religiös-rituellen Praktiken, verschwindet nicht; gerade deshalb bedarf sie der aufklärenden Analyse, um in der Welt des 21. Jahrhunderts glaubwürdig zu bleiben. Das jüdisch-christliche Konzept der Exodus-Erfahrung schafft diese Möglichkeit, hat es doch den Prozess der (historischen) Aufklärung mitbewirkt; auch wenn die Vorstellung einer „evolutionären Aufhebung“ von Religion in eine säkulare Gesellschaft defizitär ist und diese Vorstellung der Korrektur bedarf. *) Anm.4

(04) Zur Differenz von Erkenntnis und Erfahrung im aufgeklärten Denken

Problemlösen geschieht sachgemäß (metatheoretisch bedenkend) in der „Dynamik des Vorläufigen“. Die jeweiligen Lösungen in den gegenwärtigen Problemlösungsprozessen sind im doppelten Sinn vorläufig: provisorisch und antizipativ zugleich. Diese Struktur meine ich, wenn ich von der Differenz von existenzieller Erfahrung (in der Dimension des kairos) und methodischer Erkenntnis (in der Dimension des chronos) spreche.

Probleme müssen und können wir alltäglich (wie auch in vorgedachten und konstruierten Labors) lösen und müssen sie lösen, um zu leben und zu überleben. Aber erlösen können wir uns nicht. Menschliches Leben ist endlich und vergänglich, auch wenn wir es zeitlich verlängern können und uns (unser Gehirn) in zunehmendem Maß entlasten können und müssen, um unsere Lebensbedingungen als Menschen weltweit zu erhalten und zu verbessern. Von der weltweiten „globalen“ Verbesserung sind wir (die Menschheit) noch meilenweit entfernt.

Auch können wir uns selbst zerstören, aber diese individuelle wie gesellschaftliche Möglichkeit als Macht über den Tod oder als Erlösung zu er- und verklären, ist Selbstbetrug. Erlösung bleibt eine Utopie; auch und gerade im anthropozentrischen Weltverständnis. Soviel können wir durch Nachdenk-Arbeit erkennen: Erlösung ist keine Machtfrage, sondern eine konkrete Utopie. Aus der Sicht des Christentums ist diese konkret erzählte Utopie ein Oxymoron höchster Stufe: ein hingerichteter, absolut machtloser Mensch als Messias/Christus ist erfahrbar im Wort als Beginn und Grund der Erlösung der Welt. Die Wahrheit dieser erzählten Aktion ist existenziell erfahrbar, aber nicht beweisbar und begreifbar. Diese Differenz zwischen Erfahrung und Erkenntnis kann und muss bedacht werden, um Ideologisierung und Verdinglichung jeder religiösen Theorie und Praxis zu erkennen; dies gilt auch für Weltanschauungen, die sich atheistisch als Spielarten von Materialismus oder Naturalismus präsentieren. *) Anm.5

(05) Erlösung denken?
(Nach der Lektüre von Hans-Jürgen Goertz: Bruchstücke
radikaler Theologie heute. Eine Rechenschaft, Göttingen 2010)

Sinn-gebung aus dem Geist des Christentums negiert alle Formen von Hierarchie und Herrschaft. Das vermeintliche Spannungsfeld von Autonomie und Heteronomie ist eine sinn-lose Beschreibung des menschlichen Handlungsfeldes. Basis menschlichen Handelns ist Autonomie – als Verwirklichung von Selbständigkeit und Eigenverantwortung – uneingeschränkt als Prinzip, aber beschränkt in der Umsetzung (unterschiedliche Maße der Realisierung) und Durchsetzung (Möglichkeiten der Willensfreiheit). Die Differenz ist: setze ich Autonomie als Machtstruktur durch oder erfahre ich sie als Befreiung.

In christlicher Sinngebung ist für mich „Gott-denken“ Freiheit realisieren
(in Überwindung von Anpassung an den status quo und als Verwirklichung von Selbständigkeit im Sinne einer Metamorphose). Muss dieser Prozess des Mündigwerdens nicht als Überwindung jeder Form von Religion (als Rückbindung an Konvention, an bestehende Machtstrukturen und theozentrische Weltvorstellung) gedacht werden, ohne dass Religion verschwindet? Der Christ ist „religionslos“, wenn und insoweit er die „Freiheit der Kinder Gottes“ lebt.

Im Rahmen von Religion in der bürgerlichen Gesellschaft und in der Sprache und Vorstellung eines theozentrischen Weltverständnisses kann meiner Überzeugung nach für uns heute „Erlösung“ nicht sinn-voll gedacht und expliziert werden. Aber zu bedenken bleibt: Christliche Kirchen – verstanden als Zuspitzung der jüdischen Orthodoxie und in Abgrenzung und Konkurrenz zum Judentum des 2. nachchristlichen Jahrhunderts – sind trotz allen Fehlverhaltens und trotz allen Rückfalls in religiöse Herrschaftspraxis „Traditionsträger“ der Botschaft von der Erlösung – in der Erzählung vom Exodus und der Menschwerdung Gottes im Messias Jesus aus Nazaret. *) Anm. 5a

H.-J. Goertz ist auf dem Weg, diese Radikalität des Christentums zu denken und auszusprechen; aber ich meine, er ist nicht konsequent genug. Christliche Theologie heute radikal zu denken, bedeutet, sie als im theozentrischen Weltbild argumentierende Theologie „aufzuheben“, ohne diese Notwendigkeit als „Verschwinden der Religion“ misszuverstehen.

Christliche Sinngebung – in einem anthropozentrischen Weltverständnis – denkt das Verhältnis von Gott (als einem synsemantischen Ausdruck) und Mensch nicht als Rückbindung oder als Abhängigkeit (Heteronomie), sondern als Utopie, die nicht erzwungen werden kann, sondern geschenkt ist. Mein Konzept menschlichen Handelns und Verhaltens muss daher (für einen Christenmenschen) das Grundproblem erklären, wie Freiheit und Mündigkeit so umgesetzt werden können, dass sie nicht in neue/alte Abhängigkeiten umschlagen und neue/alte Herrschaftsverhältnisse produzieren oder stabilisieren. Diese Übersetzung in nichtreligiöse Sprache ist notwendig, um Erlösung heute denken zu können

(1) Zur Politischen Theologie des Paulus *) Anm.6

Es ist nicht leicht, die ein wenig chaotisch wirkende Vorlesung des Jacob Taubes zur “Politischen Theologie des Paulus“ in der vorliegenden Buchform (München 1993) zu verstehen. Taubes hat die Vorträge im Februar 1987 vor einer kleinen Gruppe von Zuhörern an der Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg gehalten, wenige Wochen vor seinem Tod. Die schriftliche Fassung wurde von Aleida Assmann nach Tonbandaufzeichnungen redigiert.

Taubes wagt eine „Dekonstruktion“ der paulinischen Briefe nicht nur als jüdischer Gelehrter und Hochschullehrer für Philosophie, sondern versteht Paulus als Schriftgelehrten des messianischen Judentums seiner Zeit. Dabei unterläuft er die christlichen Interpretationen späterer Zeit, die aus Saul/Paulus aus Tarsus einen „christlichen“ Theologen gemacht haben, obwohl es die Selbst- bzw. Fremdbezeichnung „Christ“ zu seiner Missionszeit im Römischen Reich noch nicht gab. Auf der Basis seiner Messias-Erfahrung des gekreuzigten Jesus aus Nazaret verallgemeinert Paulus die jüdische Erlösungsvorstellung für alle Menschen (ob beschnitten oder unbeschnitten), scheitert mit dieser Botschaft in seinem eigenen Volk und öffnet nach längerer Auseinandersetzung mit den jüdischen Vertreterinnen und Vertretern der „Messias-Jesus-Bewegung“ in Jerusalem die judenchristlichen Gemeinden für alle Menschen, die auf den gekreuzigten Jesus aus Nazaret als den erwarteten Messias vertrauen und sich taufen lassen.

Gerd Theißen und Petra von Gemünden haben in ihrer 2016 veröffentlichten Exegese des Römerbriefes (mit dem Untertitel: „Rechenschaft eines Reformators“) Paulus „als einen scheiternden Reformator“ dargestellt. In der Zusammenfassung am Ende ihrer Untersuchung heißt es: „Paulus hinterlässt mit dem Römerbrief einen Rechenschaftsbericht über sein Reformprogramm, das nachträglich zu seinem Testament wurde. Paulus wollte nicht das Christentum begründen. Sein Christentum war ein antikes messianisches Reformjudentum. Sein Römerbrief wurde aber zu einem Testament für die ganze Menschheit.“

Taubes greift in seinen Überlegungen auf Spinozas „Tractatus Theologico-politicus aus dem Jahr 1670 und das Theologisch-politische Fragment von Walter Benjamin (1920/21) sowie den letzten Abschnitt (Nr.153) „Zum Ende“ der Minima Moralia von Theodor W. Adorno (Dritter Teil, 1946/47) zurück. Dabei gibt er dem Fragment von Benjamin den Vorzug, da er die Position Adornos als ästhetisierend kritisiert . Aus einer messianischen Perspektive mag das verständlich sein, da Adorno davon spricht, „alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten“. Demgegenüber geht Benjamin von einer Tatsachenbehauptung aus: „Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft“.

(2) Chronologischer Prozess oder kairologische Struktur

Mich interessiert die Struktur der Argumentation Benjamins. Er fährt in seinem Fragment fort: „ Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden. Historisch gesehen ist es nicht Ziel, sondern Ende.“

Benjamin, wenn ich ihn recht verstehe, trennt also strikt die messianische Vorstellung vom Reiche Gottes von – wie er formuliert – „der Ordnung des Profanen“. Apokalyptische Vorstellungen in einem theozentrischen Weltbild markieren das Ziel geschichtlicher Entwicklung, sei es als Weltgericht und oder Gottesherrschaft. Die Erlösung der Welt, inklusive der Menschheit, wird als ein chronologischer Prozess gedacht. Unter den Bedingungen anthropozentrischer Weltvorstellung, also in einer Welt ohne Gottesvorstellung,, ist dieser Gedanke sinn-los. Erlösung im Sinne des Messias-Ereignisses hat eine kairologische Struktur, die „quer“ zu historischen Entwicklungen mit ihren chronologischen Bestimmungen wirkt. In der Vorstellung des messianischen Judentums wird daher – in einem längeren Erfahrungsprozess – jede chronologische Fixierung der kommenden Gottesherrschaft verworfen und die existenzielle „Nähe“ erfahren und bezeugt. Die zunächst vorhandene (chronologische)„Naherwartung“ der Freunde des hingerichteten Jesus aus Nazaret erweist sich als Missverständnis. Zwar bleibt in den zeitlich späteren „Glaubensbekenntnissen“ der etablierten christlichen Gemeinden (der Kirche) die Erwartung des „Endgerichtes“ und des „kommenden Reiches“ als einprägsames Bild erhalten, aber jede zeitliche Fixierung wird abgelehnt und führt immer wieder in die Sektenbildung.

(3) Kairologische Struktur als konkrete Utopie

Ich interpretiere unter den Bedingungen heutiger Welterfahrung die kairologische Struktur des Messias-Ereignisses als konkrete Utopie: Obwohl die Sterblichkeit ein andauerndes Kriterium für Mensch und Natur in dieser Welt bleibt (und die individuelle Unsterblichkeit eine höchst problematische Illusion), hat der „Tod keine Macht mehr“; dies nennen Christen – in der sprachlichen Form des Oxymoron – „ewiges Leben“.

Benjamin versucht in seinem „Theologisch-politischen Fragment“ das Verhältnis von politischer Ordnung und messianischem Reich durch die Differenzierung der Kategorie des „Glücks“ zu klären. Ich bevorzuge die Kategorie der „Befreiung“. Sie bedeutet autonomes, verantwortungsvolles Handeln unter der „Zusage der Erlösung“.

Paulus aus Tarsus deutet als Schriftgelehrter des messianischen Judentums seiner Zeit und in Abgrenzung und Ablehnung des Unsterblichkeitsgedankens der hellenistischen Philosophie seine Messias/Christus-Erfahrung im ersten Korintherbrief (Kapitel 7) folgendermaßen: „Die Zeit ist zusammengedrängt.“ Und er rät den Mitgliedern seiner Gemeinde: „Und die sich Dinge dieser Welt zunutze machen, sollen sie sich zunutze machen, als nutzen sie sie nicht. Denn die Gestalt (im Griechischen: das Schema) dieser Welt vergeht.“ (Übersetzung der Zürcher Bibel). Und Paulus schließt seinen Rat mit dem Wunsch: „Ich will aber, dass ihr sorglos seid.“

Berger/Nord übersetzen diese Perikope meiner Meinung nach nicht stringent genug; gerade weil sie daran interessiert sind, verständlich zu sein:
„Und wer die Welt in Gebrauch nimmt, soll das so tun, als dürfte er sie nicht verbrauchen, da doch die sichtbare Gestalt dieser Welt sehr schnell vergeht. Ich will nur, dass ihr euch keine überflüssigen Sorgen macht.“
(Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Frankfurt/Leipzig 1999)

Wenn ich – in anderem Zusammenhang – davon spreche, in der Dynamik des Vorläufigen zu denken und zu handeln, dann kann ich diese Verhaltensweise – den Ratschlag des Paulus im Hinterkopf – explizieren:
Handle verantwortungsvoll, aber sorglos. Bezüglich des „Weltverbrauchs“, also im Umgang mit den Ressourcen dieser Welt beachte eine gewisse Vorsicht; halte den Verbrauch „in der Schwebe“; arbeite nicht zerstörend – mit einer scheinbar paradoxen Begründung: denn das „Schema dieser Welt“ vergeht. *) Anm.7

(4) Befreiung als ständige Aufgabe im Sinne der conditio humana

Ich fokussiere meine Überlegung auf unser heutiges, zeit-gemäßes Weltbild. Die paulinische Argumentation mag zunächst noch durch die chronologisch (miss-)verstandene Parusie geprägt sein; in unserem anthropozentrischen Weltverständnis bedeutet die Messias-Erwartung, die unerlöste Welt steht unter der Zusage ihrer Erlösung durch den Messias (Christus), konkret durch den gekreuzigten Jesus aus Nazaret. Diese konkrete Utopie gibt denen, die auf Jesus Christus (als den Messias in der Vorstellungswelt des messianischen Judentums) vertrauen, also den sog. „Christen“ die Möglichkeit, sorglos, befreit die Welt zu „gebrauchen“.

Sie leben in dieser Welt, aber sie stehen nicht mehr unter ihren Zwängen, nicht mehr unter dem „Schema“ dieser Welt; denn sie bezeugen in „utopischer“ Sprache: der Tod hat keine Herrschaft mehr. Die basileia tou theou ist kein zeitlich zu erwartendes Zeitalter, sondern die gemeinsame Erfahrung, gegen Tod und Vergänglichkeit erlöst zu werden. Diese Erfahrung kann nicht gegen Leistung erkauft oder erzwungen werden, aber ohne Arbeit, Verantwortung und Empathie können Befreiung, Sinn und Erlösung nicht erfahren werden.

Und ich füge polemisch hinzu: Befreiung ist nicht Müßiggang. Der Müßiggänger bleibt ein Resultat vorchristlicher wie vordemokratischer Herrschaftsideologie. Das Ideal der Muße (otium) wie das Lob der Faulheit (Lafargue) bedürfen einer speziellen Ideologiekritik. Das „Einrenken der Welt“ (im Sinne von Hannah Arendt) bleibt unsere ständige Aufgabe, ist der Sinn der conditio humana. *) Anm. 8

Exkurs (1)

Zum Theorie-Praxis-Verhältnis – Problemfall: Muße (otium)

In Analogie eines allseitig bekannten Ausspruches des jungen Marx formuliere ich:
Die Philosophen als Müßiggänger haben die WELT nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie als verantwortlich handelnde Menschen zu verändern.
Zum verantwortlichen Handeln gehört aber notwendigerweise das Nachdenken, die Reflexion. Oder im Bild gesprochen:
Was nützt der morgendliche Hahnenschrei, wenn in der Nacht zuvor die Eule der Minerva ihren Flug nicht absolviert hat? In der zeitlichen Korrelation von Aktion und Reflexion steckt u.a. das zu lösende Problem. Oder nochmals im Tierbild ausgedrückt: wie kommen Tagesaktivist und Nachtschwärmer produktiv zusammen? *) Anm. 9

Es geht mir darum, eine Theorie des Verhaltens und Handelns der Menschen im zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext zu konzipieren und zu skizzieren, um das Verhältnis von Reflexion und Aktion präzise und wirksam zu bestimmen. Das Theorie-Praxis-Verhältnis „dialektisch“ zu nennen, klärt noch nichts; es bedarf der erfahrungsbasierten Analyse und der Offenlegung (Transparenz) der einzelnen Arbeitsschritte, ihrer Muster, Normen und Maximen.

Diese Maximen (Handlungsanleitungen) „fallen nicht vom Himmel“, sondern sind im historisch-gesellschaftlichen Kontext an das jeweilige Weltverständnis rückgekoppelt, das sich im jeweiligen WELTBILD (zusammengefasst) ausdrückt.
Bezogen auf die Summe der jeweiligen Denk- und Handlungsweisen spreche ich von der conditio humana, zeit- und gesellschaftsgebunden und zumeist in unterschiedlichen Mischformen auftretend; zusammengestellt in einem aktuellen Tableau der conditio humana.

Die Aufforderung, als verantwortlich handelnde Menschen die Welt zu verändern, hat mehrere notwendige Voraussetzungen oder Bedingungen:

  • Aufklärung (i.S. Kants): Überwindung der selbstverschuldeten Unmündigkeit.
  • Nonkonformität (i.d.S. „Entweltlichung“).
  • Aufhebung der Arbeitsteilung in „Freie“ und „Sklaven“.
  • Demokratie i.S.d. Partizipation aller.
  • Problematisierung der Begriffe „Muße“ (otium) und „Müßiggang“.

Exkurs (2)

Ich habe in meinem 2017 veröffentlichten „Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten“ das aktuelle „Tableau der conditio humana“ zusammengefasst:

Der Mensch im 21. Jahrhundert in einer Welt ohne GOTT

(5) Zur Differenz von Problemlösen und Erlösung

Den metaphorischen Begriff „Einrenken“ von Hannah Arendt übersetze ich mit „Problemlösen“. Problemlösen (problem solving) hat eine chronologische Struktur, ist menschliche Arbeit (am Erhalt der Welt) und damit „Anstrengung“. Menschliche Arbeit ist vorläufig, korrigier- und revidierbar, zielorientiert. Sie ist schöpferische Tätigkeit sterblicher Menschen, die Vernunftwesen und Naturwesen zugleich sind. *) Anm. 10

Demgegenüber kann Erlösung sinnvoller Weise nur in einer kairologischen Struktur gedacht werden; sie ist Geschenk, endgültig, unbegreifbar, aber existentiell erfahrbar, in Oxymora beschreibbar („ewiges Leben“); ist verstehbar als konkrete Utopie, erfahrbar und ortlos zugleich.

Der Prozess des Problemlösens kann im Folgenden im Detail als Verhältnis von Weg und Ziel erörtert werden. Im Nachdenken über die Struktur des Problemlösens wird die Dynamik des Vorläufigen erkennbar. Die Menschen sind – im Sinne von Hannah Arendt – „sterbliche Schöpfer“. Dass sie „Geschöpfe Gottes“ oder „Produkte der Naturentwicklung“ sind, ist, ideologiekritisch analysiert, eine Projektion. Dass sie „sterbliche Schöpfer“ sind, kann vom Standpunkt der Hoffnung auf Erlösung erkannt und erfahren werden. Adorno spricht daher davon, dass Erkenntnis dieser Art nur vom „Lichte der Erlösung“ her möglich ist.

In meinem Verständnis erzwingt der Atheismus als Methode keine atheistische Weltanschauung (wie z.B. im Naturalismus oder in den Spielarten des Materialismus vorgestellt). Weltbilder dieser Art sind nur (insgeheime) Spiegelbilder des theozentrischen Weltbildes; daher sind naturalistische wie materialistische Welterklärungen Eng- und Irreführungen. Die Sterblichkeit und Vorläufigkeit des In-der-Welt-Seins in Frage zu stellen, ist im Lichte der Hoffnung auf Erlösung möglich. Dabei muss die Struktur der konkreten Utopie beachtet werden, um nicht in Metaphysik oder Projektion zurückzufallen.

Problemlösungsprozesse – wie auch vollständig durchgeführte Lernhandlungen – haben einen konkret zu analysierenden Ausgangspunkt A und eine überprüfbare Problemlösung, das Ziel Z. Der Weg von A nach Z muss rekonstruierbar sein. Die Behauptung, der Weg sei schon das Ziel, ist unsinnig und leugnet die notwendige Stringenz des Weges von A nach Z. Sie ist eine manchmal verständliche, aus der Resignation geborene Schutzbehauptung.

Das bedeutet nicht, dass es keine Um- und Irrwege geben dürfe. Im Gegenteil: jede Stringenz im Weg von A nach Z ist dem Erfolg aus Erfahrung geschuldet oder inkludiert als methodische Stringenz (im Sinne logischer Deduktionen) Idealisierung. So ist die Mathematik – philosophisch oder wissenschaftstheoretisch gesehen – eine idealisierte Sprache; daher in den Erfahrungswissenschaften (der Natur oder Gesellschaft) universal einsetzbar und verstehbar.

(6) Revision als Metamorphose

Zu erfolgreichen Problemlösungsprozessen gehört das bewusste Einplanen möglicher Revision. Umkehr und Neuanfang sind keine Notlösungen, sondern nützen einer wirksamen Problemlösung, die natürlich von der Art des Problembereiches abhängig ist. Ich erinnere nur an die empirische Wahlforschung und die Eindeutigkeit der gefundenen Wahlprognosen. Die Präzision der Vorhersagen ist z.B. abhängig von dem vermuteten Potential an Stammwählern; und dieses Potential hat sich parteispezifisch entscheidend geändert bzw. verringert.

Umwege, Irrwege und Sackgassen zu erkennen und die jeweiligen Gründe zu ermitteln, um zukünftige Fehler möglichst zu vermeiden, hat eine systematische Bedeutung. Ich spreche von der Methode des Mäanderns; so wie ein großer Fluss mäandert, ohne sein Ziel, das offene Meer zu vergessen. Im menschlichen Verhalten spielen die bewusste Umkehr und Metamorphose, die metanoia eine entscheidende Rolle. *) Anm. 11

Der wesentliche Unterschied zwischen der Notwendigkeit, Probleme zu lösen, und der Möglichkeit, die Welt und die in ihr lebenden Menschen zu erlösen, bleibt erhalten. Die Utopie ist ortlos, aber in der Zeit als konkrete Utopie erfahrbar. Des Weiteren ist die Utopie der Erlösung zeitlos, aber kann und muss in der Zeit wirksam werden. Das Gleiche gilt für die Ortlosigkeit der Utopie der Erlösung. Die konkrete Utopie ist nicht nur existenziell erfahrbar, sondern sie kann und muss in der „Welt“, also in Geschichte und Gesellschaft wirksam werden.

Diesen Zusammenhang will ich im Folgenden an zwei wesentlichen Aus-sagen der historischen Jesus-Bewegung verdeutlichen und sie vor Missverständnissen in unserer heutigen aufgeklärten Welterfahrung (zusammengefasst im anthropozentrischen Weltbild, aktualisiert in meinem „Tableau der conditio humana“ – Der Mensch im 21. Jahrhundert in einer Welt ohne Gott“) schützen. Daher müssen diese beiden Grundaussagen aus dem jüdisch-messianischen Kontext verstanden und in unser aufgeklärtes Weltverständnis übersetzt werden: die Verknüpfung, Verschränkung, Gleichsetzung von Gottesliebe und Menschenliebe (GOTT/theos ist agape) und die Ankunft des Gottesreiches (der Gottesherrschaft, der basileia tou theou).

(7) Gott: ein synsemantischer Ausdruck für Liebe (agape)

Die synoptische Tradition der Reich-Gottes-Botschaft reflektiert bereits das Problem eines chronologischen (Miss-)Verständnisses der beginnenden Gottesherrschaft. Der Redakteur des Markus-Evangeliums spricht (in 1,14) vom kairos, der erfüllt ist und bindet das Nahekommen des Reiches Gottes an Umkehr (metanoia) und Vertrauen (pistis). Und im Lukas-Evangelium (17,21) wird das Gottesreich „mitten unter Euch“ oder in der Übertragung von Berger/Nord: „unsichtbar ist Gottes Herrschaft bereits unter euch “ verortet und jede zeitliche Fixierung des Erscheinen des Menschensohns gegenüber den Fragen der Pharisäer abgelehnt.

Der zeitlich früher verfasste erste Johannesbrief (um 55 n. Chr.), der aus einem anderen Kontext als die synoptischen Schriften stammt, radikalisiert das jüdische Gottesverständnis durch die (sprachkritisch gesprochen) synsemantische Erklärung des Gottesbegriffes: „GOTT ist Liebe/agape“ (1 Joh 4, 16: „Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm“.) Alle anderen Vorstellungen und kultischen Praktiken sind, so warnt der Schreiber des Johannesbriefes seine jüdischen Freunde in der Nachfolge Jesu, sind Götzendienst.

(8) Orthopraxis statt Orthodoxie

Der im Römischen Reich des ersten Jahrhunderts n. Chr. erhobene Vorwurf, dass die Anhänger des Jesus aus Nazaret „Atheisten“ seien, ist insofern berechtigt, als alle Gottesvorstellungen, die nicht von der „Menschwerdung Gottes“ in Jesus als dem Messias ausgehen, abgelehnt werden, da sie, so formuliere ich, der konkreten Utopie, dass GOTT Liebe ist, widersprechen. Daraus folgt zwingend, dass die Mitglieder der Jesus-Bewegung „Täter des Wortes“ sind (so der Jakobusbrief, der ebenfalls aus den fünfziger Jahren stammt). Es geht also zu Beginn der Jesus-Bewegung – nach Ende der Auseinandersetzung um Beschneidung und Speisegesetze – um Orthopraxis, nicht um Orthodoxie. Im Zentrum dieser Orthopraxis steht die uneingeschränkte Menschenliebe, gleich ob einer von Hause aus orthodoxer Jude, Hellene, römischer Bürger oder Sklave ist. Im Römischen Reich des ersten Jahrhunderts (nach Christi Geburt) führte diese Überzeugung und Praxis oftmals zu Verspottung (der gekreuzigte Esel) und zu Verurteilung und Hinrichtung. In meiner Überzeugung als aufgeklärter Mensch des 21. Jahrhunderts (der lebt, denkt und arbeitet, „als wenn es GOTT nicht gäbe“ (D.Bonhoeffer), also als methodischer Atheist) ist diese radikale Menschenliebe (agape) Ausdruck der Zusage von „Erlösung“. Diese Zusage ist nicht erzwingbar – weder kultisch noch institutionell, aber sie ist als Befreiung erfahrbar und in Taten der Menschenliebe realisierbar. Sie bedarf der wiederkehrenden (gemeinsamen) Erinnerung an den hingerichteten Jesus als Messias und realisiert sich im Engagement für Gleichheit aller Menschen und Gerechtigkeit.

Diese Orthopraxis verbindet (uns) Christen mit allen Menschen, die sich für Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit engagieren. Auf dieser Basis ist auch das Gespräch mit (nachdenkenden) Atheisten möglich und notwendig. Bei diesen Gesprächen ist zu beachten, dass „Liebe“ (als radikale Sympathie) im menschlichen Leben, das endlich ist, nur vorläufig erfahrbar und „wie in einem Spiegel“ erkennbar ist. Ich nenne diese Erkenntnis in Anlehnung an eine Überlegung des Paulus „aenigmatisch“.

Daher ist die Erfahrung, wie die Praxis der Liebe nur als Oxymoron beschreibbar, um Erlösung (als synsemantischen Ausdruck größter Komplexität – ich sage auch als „Grenzbegriff des In-der-Welt-Seins“) aussprechen, ausdrücken zu können. Aber diese „Beschreibungen“, diese „Bekenntnisse“ stehen meiner Überzeugung nach nicht im Widerspruch zum methodischen Atheismus, wie ich ihn verstehe.

(9) Zur Vorgeschichte des Atheismus im Christentum *) Anm. 12

Der „Atheismus im Christentum“ (vgl. Ernst Bloch) hat eine Vorgeschichte, die – verkürzt gefasst – mit dem biblischen Verbot, den Namen Gottes zu nennen, beginnt, und sich in wiederkehrenden Versuchen der „negativen Theologie“ dokumentiert. Wenn und da „Gott Liebe ist“, schweige ich zunächst, um keine Missverständnisse zu produzieren. Am „Gottesgeplapper“ beteilige ich mich bewusst nicht. Diese Selbstdisziplin sollte nachdenkende Atheisten und aufgeklärte Christen miteinander verbinden. Nur durch Erfahrung und annähernde Beschreibung (in poetischer oder mystischer Sprache) der radikalen Liebe ist erhoffbar und erfahrbar, dass der Tod keine Herrschaft mehr ausübt („And death shall have no dominion“, Dylan Thomas; vgl. Röm 6,9); schon das Hohe Lied ahnte von dieser Erfahrung: „denn stark wie der Tod ist die Liebe, hart wie das Totenreich die Leidenschaft“.

(10) Metamorphose statt Restitution

Diese Überlegungen sind – historisch wie strukturell gesehen – noch im Vorfeld der „Verkehrung“ des messianisch-prophetischen Christentums in eine „imperial-kolonisierende“ Christenheit, wie sie von Urs Eigenmann skizziert und zur Kritik der bestehenden Verhältnisse (vor allem in der römisch-katholischen Kirche – benutzt wird). Dabei ist mir wichtig, dass eine unreflektierte Restitution des nahen Gottesreiches bzw. der urchristlichen Lebenspraxis als heutige Alternative für gesellschaftliche Veränderung vermieden wird.

Die radikalen Reformatoren des 16. Jahrhunderts, insbesondere verschiedene Gruppen der Täuferbewegung, haben mit dieser Strategie der „Restitution“ ihr Verhalten gerechtfertigt und versucht, ein „Neues Jerusalem“ (z.B. Mitte des 16. Jahrhunderts in Münster in Westfalen) zu errichten. Zwar haben Staat (Das Römische Reich) und sowohl die römisch-katholische Kirche wie die entstandenen Kirchen der Reformation in der Folgezeit mit Erfolg versucht, diese Restitutionsbewegungen zu diskriminieren , zu verfolgen und tot zu schweigen, aber selbstkritisch muss festgestellt werden, dass ihre Praxis und ihre Hoffnungen (Utopien) gescheitert sind – nicht nur durch die Gewalt ihrer Gegner, sondern auch ihre Strategien und Konzepte dienten oft der Legitimation, führten in die Irre und – in einigen Gruppen des Täufertums – in die Menschenverachtung. Daher in verkürzter Form meine „Parole“: Metamorphose statt Restitution. *) Anm. 13

In meiner fiktiven Dokumentation gibt der ehemalige Kanzler des Täufer-reiches Heinrich Krechting, der durch besondere Umstände die brutale Eroberung Münsters 1535 überlebte und sich in der Grafschaft Gödens am Schwarzen Brack (dem heutigen Jadebusen an der Nordsee) zum Calvinisten wandelte (Metamorphose!) eine selbstkritische Einschätzung des (melchioritischen) Täufertums und der Restitutionsstrategie. Sein Freund Dr. Gerhard Westerburg schreibt in Erinnerung an das Karfreitagsgespräch und die Osterpredigt 1550 (von Albert Hardenberg) in seine Kladde:
„Es geht nicht um Restitution, also die Wiederherstellung des Reiches Gottes auf Erden, gegebenenfalls mit Gewalt und unter Ausschluss und Vernichtung der ungläubigen; auch geht es nicht nur um Reformation, als wenn es auf eine bestimmte Form des Leben und Handelns ankäme, sondern um Metamorphose, das bedeutet, sich nicht den herrschenden Verhältnissen und Vorstellungen anzupassen – denn diese Vorstellungen sind die Vorstellungen der Herrschenden. Dieses (jetzige) Verhalten ist unser vernünftiger Gottesdienst, wie Paulus im Römerbrief sagt. Der Freie Wille ist kein Naturgesetz (in Erinnerung und in Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam), sondern die Erlösungstat Christi befreit uns, für die Menschen zu handeln; das ist der Wille Gottes. Insofern ist die Wahrheit der Auferstehung Christi untödtlich (so Balthasar Hubmeier), weil sie uns befreit, gerecht und menschenwürdig zu handeln.“ (Der zweifache Exodus, Seite 82)

(11) Prüfung und Umkehr (metanoia) statt Anpassung

Die Aussage des Paulus in seinem Römerbrief, in dem er sein Scheitern als Reformator des messianischen Judentums seiner Zeit rechtfertigt, bedarf natürlich der Übersetzung in unsere Welterfahrung; ich habe das 2013 in meinem Buch „Die radikale Umkehr des Heinrich Krechting am Schwarzen Brack“ für Röm 12, 1u.2 versucht (Seite 15):
„Ich bitte Euch, Schwestern und Brüder, befreit von Zwängen und Ängsten, leidenschaftlich und verantwortlich zu handeln: Das ist unser sinnvolles Engagement. Passt euch nicht den herrschenden gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen an, sondern verändert euch, indem ihr nach-denkt und prüft, was gut für alle Menschen auf dieser Welt ist und was uns dem Traum vom freien, gerechten und guten Leben näher bringt.“

Diese Aufforderung zum Nachdenken und Prüfen verlangt eine umfassen-de Analyse der kapitalistischen Produktionsweise weltweit und eine ideologiekritische Aufarbeitung des Doppelcharakters der Waren in einer all-umfassenden Warengesellschaft, um offenzulegen, dass und wie die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse sich ändern müssen, damit sich Gleichheit und Gerechtigkeit durchsetzen. *) Anm. 14

(12) Lob der Inkonsequenz *) Anm. 15

Alle historisch bedeutsamen und gesellschaftlich relevanten Projekte, von denen in „Großen Erzählungen“ berichtet und oftmals aus unterschiedlichen Interessenlagen „verklärt“ wird, sind in der Gefahr „umzuschlagen“, sich in ihr Gegenteil zu verkehren. Ich erinnere an die Verkehrung der Französischen Revolution in ein inhumanes .Terrorsystem oder grundsätzlich an die Möglichkeit des Umschlags von Aufklärung in Totalitarismus (Stichwort: Dialektik der Aufklärung).

Leszek Kolakowski hat 1958 in seinem „Lob der Inkonsequenz“ formuliert:
„Konsequent sind Soldaten, die ihren gerechten Kampf solange fortsetzen, bis auf der Gegenseite der letzte Soldat gefallen ist; konsequent ist der gesetzestreue Bürger, der nicht vor Denunziation zurückschreckt und voller Selbstachtung mit der Geheimpolizei zusammenarbeitet; konsequent sind auch die Gläubigen, die Scheiterhaufen für Häretiker errichten, da in ihren Augen die himmlische Seligkeit unendlich kostbarer ist als das irdische Wohlergehen. Versuchen Menschen völlig konsequent zu sein, ihre Überzeugung von der absoluten Überlegenheit eines Wertes konsequent in die Tat umzusetzen, dann verwandelt sich die Welt in Schlachtfelder. Dies geschieht auch immer wieder – doch bleibt die Menschheit am Leben, da es stets auch die Inkonsequenten gibt, die Unsicheren, die Wankelmütigen.“

Ich ergänze und lobe die Zweifelnden. Zugegeben, auch Inkonsequenz kann in Opportunismus umschlagen. Ich beharre daher auf der Differenz von Orthopraxis und Orthodoxie: jede Orthopraxis (in meinem Verständnis) ist verbindlich und vorläufig zugleich, weil und wenn sie an der Menschenwürde sich orientiert – oder utopisch formuliert – darauf hofft, dass die Entfremdung der menschlichen Lebensverhältnisse aufgehoben werden kann; dass Erlösung möglich ist – oder in dem eindrucksvollen Oxymoron formuliert: dass der Tod seine Herrschaft verliert.

(13) Messianisches Denken in einer Welt ohne Gott

Religion hat keine Wahrheit, die allgemein begreifbar ist. Der Sinn des Religiösen (als Rückbindung), insbesondere der religiösen Sprache, ist weltbildgebunden. Der Sinn der Rede von GOTT ist in einem theozentrischen Weltbild verstehbar. Demgegenüber ist im anthropozentrischen Weltverständnis die „Rede von GOTT“ als synsemantischer Ausdruck bestimmbar und übersetzbar. Sie bedeutet die Utopie von der „Erlösung der Welt“ und der auf ihr heute und zukünftig lebenden wie bisher gestorbenen Menschen. Diese Utopie ist – als konkrete Utopie – existenziell – erfahrbar und in Oxymora beschreibbar.

Religiöse Denkformen sind an das theozentrische Weltbild gebunden; zumindest in den sog. „monotheistischen“ Religionen. Im Zentrum jüdisch/christlicher Religionsvorstellungen stehen die Exodus-Erzählung und die Messias-Erwartung. Dieses messianische Denken ist in ein anthropozentrisches Weltbild und die zugehörige aufgeklärte Sprache übersetzbar. In einer „Welt ohne Gott“ ist Erlösung denk- und erfahrbar, wenn auch – im sprachkritischen und aussagenlogischem Sinn – nicht begreifbar.

Aufgeklärtes Denken, das die Stadien der Erkenntniskritik (Metaphysik, Religion, Sprache) durchlaufen hat und durchläuft, ist vorläufig, nicht endgültig. Denn die Struktur des Vorläufigen ist dynamisch, da sich Erfahrung bzw. Erwartung und Erkenntnis unterscheiden, auch wenn sie aufeinander bezogen sind. Diese Differenz/dieser Bezug ist beschreibbar und als Utopie konkret erfahrbar. Diese Differenz, diesen Bezug zu leugnen, ist ein Rückfall in die ideologische (und damit reduktive) Position des Materialismus oder Naturalismus. Die Vorgabe und Struktur des Denkens und Handelns „als wenn es Gott nicht gäbe“ nenne ich den methodischen Atheismus und unterscheide ihn konsequent von Ideologien, die instrumentalisieren und/oder legitimieren. *) Anm.(16)

Exkurs (3)

Maximen für einen aufgeklärten Menschen im 21. Jahrhundert,
sein Denken und Handeln, seinen Alltag und Beruf betreffend

Auf die Frage, an welchen Maximen ich mich in meinem Leben, das endlich ist, orientiere, antworte ich wie folgt:
(vorausgesetzt, ich habe zuvor geklärt, was ich unter einer Maxime und unter Orientierung verstehe.)

Zuvor differenziere ich „mein Leben“ in „Alltag“ und „Beruf“ und nehme seine „Endlichkeit“, seine Sterblichkeit vorläufig als eine selbstverständliche Tatsache (des Menschen als Naturwesen, als „sterblicher Schöpfer“ im Sinne von H. Arendt) hin.
Ich nenne zwei Maximen und trenne vorläufig zwischen Alltag und Beruf:

(1) Für den Alltag erinnere ich an Kants kategorischen Imperativ und wähle eine Fassung aus der Einleitung der „Metaphysik der Sitten“:
Handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann. … Jede Maxime, die sich nicht zu einem allgemeinen Gesetz qualifiziert, ist der Moral zuwider.
Ich übersetze in mein Sprachspiel:
Handle verantwortlich unter den Möglichkeiten der Autonomie/der Mündigkeit/des Selbstdenkens, indem du die Würde aller Menschen achtest.

(2) Im Beruf als Lehrer/Philosoph formuliere ich:
Lehre/unterrichte und denke nach/reflektiere, als wenn es GOTT nicht gäbe (im Sinne Bonhoeffers und Blochs). Ich umfasse diese Maxime mit dem Begriff des „methodischen Atheismus“ und spezifiziere „nachdenken“, „aneignen“ und „vermitteln“ zusammenfassend als Problemlösen – ohne Rückgriff auf eine metaphysische/religiöse Instanz. In meinem Sprachspiel lautet daher die zweite Maxime:
Löse Probleme (unterschiedlicher Weite und Tiefe) so, als wenn es GOTT nicht gäbe.

(2a) Alles Problemlösen ist fehlerhaft und vorläufig. Ohne „trial and error“, ohne Zweifel sind Erkenntnis und Erkenntnisfortschritt nicht möglich. Der (methodisch notwendige) Zweifel kann in Verzweiflung umschlagen. Erlösung (als Utopie) bleibt ein Grenzbegriff; ein Oxymoron.

(2b) Weg wie Ziel des Lernens und Lehrens sind das Realisieren von „vollständigen Lernhandlungen“. Soweit stimme ich der konstruktivistischen Lerntheorie zu; denn vorzeitige Abbrüche wie unvollständige Inszenierungen führen zu keinen Problemlösungen.

(2c) Wie kann der (existenzielle) Umschlag von Zweifel in Verzweiflung (und damit als Konsequenz das vorzeitige Ende von Reflexion und Lernprozess) vermieden werden? Menschen (als Vernunft- und Naturwesen) bedürfen der „Hoffnung auf Erlösung“, vorstellbar und erfahrbar als Utopie.

(2d) Als Christ vertraue ich auf die Erlösung der Welt (mich eingeschlossen); wahrgenommen und expliziert als „konkrete Utopie“ im Messias-Ereignis des Jesus aus Nazaret. Dieser Vertrauensvorschuss (daher „konkrete Utopie“) drückt sich individuell und existenziell im Verb „credere“ aus, um das missverständliche Verb „Glauben“ (das auch „putare“ bedeuten kann) zu vermeiden.
Dieser Vertrauensvorschuss erlaubt mir (im Kreis der Mitvertrauenden), Jesus aus Nazaret als Christus, als Erlöser zu bekennen; erfahrbar wie realisierbar ist diese konkrete Utopie als Menschenliebe (agape).

Anmerkungen

(1) Zur Sprachkritik und zur Begriffsbildung vgl. die Einleitung und die entsprechenden Stichwörter in meinem Taschenwörterbuch „Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten, Münster/Westf.2017
Zur Struktur und zur Veränderung der Weltbilder vgl. Günter Dux, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Wiesbaden 2017 (4. Auflage)

(2) Hans Joas bietet in seinem neuesten Buch “Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung“, Frankfurt/Main 2017 eine ausführliche Analyse religionsgeschichtlicher Konzeptionen und hinterfragt mit guten Gründen die These vom zunehmenden „Bedeutungsverlust der Religion“ in der modernen Gesellschaft. Auf der Basis der Analyse des Verhältnisses der Geschichte der Macht und der Geschichte der Religion widerlegt er die teleologische Geschichtsauffassung vom Verschwinden der Religion bzw. ihrer „Aufhebung“ in der säkularen Gesellschaft. Dem stimme ich zu, vermisse aber eine religionskritische Analyse religiöser Theorie und Praxis in modernen Gesellschaften, die nicht nur die „Anpassungsfunktion“ gegenüber den Machtverhältnissen begreift, sondern auch die Ideologieproduktion.

(3) Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011; vgl. Bettina Hollstein/Matthias Jung/Wolfgang Knöbl (Hrsg.), Handlung und Erfahrung. Das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, Frankfurt u.a. 2011; Hermann-Josef Große Kracht (Hg.): Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Sozioöogie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas, Bielefeld 2014

(4) Ob und wie weit Judentum und Christentum den Säkularisierungsprozess verursacht haben, ist in der Literatur und der Wissenschaft umstritten; vgl. Philipp W. Hildmann/Johann Christian Koecke (Hrsg.), Christentum und politische Liberalität. Zu den religiösen Wurzeln säkularer Demokratie, Frankfurt am Main/Bern/Bruxelles 2017

(5) Grundsätzlich und umfassend zum Thema „Ideologiekritik“ vgl. Kurt Lenk (Hrsg.): Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Darmstadt/Neuwied 1978 (8. erweiterte Auflage); Zur Entfaltung der Differenz von Erfahrung und Erkenntnis unter dem Stichwort „Vorläufigkeit“ siehe: Jürgen Schmitter: Die Vorläufigkeit theoretischer Arbeit. Zum Verhältnis von Wissenschaftskritik und Hochschuldidaktik, Osnabrück 1980 (Univ.Diss.)

(5a) Ich verweise zum Problemzusammenhang auf Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015 und für das NT auf den Begriff der „Dahingabe“ als der radikalen Form der Interpretation des Kreuzestodes Jesu: Wiard Popkes: Christus Traditus. Eine Untersuchung zum Begriff der Dahingabe im Neuen Testament, Zürich/Stuttgart 1967. Die hier nicht zu lösende Frage ist: wie kann die radikale Kenosis-Theologie des NT – im Rahmen eines noch theozentrischen Weltverständnisses (Popkes nennt sie „Dahingabe-Christologie“) in ein anthropologisches Weltverständnis übersetzt werden? Schon diese Frage zu denken ist die strukturelle Möglichkeit für einen heutigen Christen, Erlösung als konkrete Utopie zu erfahren.

(6) Zur Differenz von Problemlösen und Erlösung: Ich fasse den Ausdruck „Problemlösen“ (problem solving) sehr allgemein; er soll wissenschaftliche, gesellschaftliche und alltägliche Arbeit umfassen. Expliziert habe ich diese „Methode“ innerhalb eines anthropozentrischen Weltverständnisses an den notwendigen Elementen eines erfolgreichen Lernprozesses (Stichwort: Vollständige Lernhandlung von der sachgemäßen Problemstellung bis zur Evaluation); siehe: Jürgen Schmitter: Grenzen und Möglichkeiten der Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung im System Schule, in: G.Bartsch/R.Gaßmann (Hrsg.): Generation Alkopops, Freiburg im Breisgau 2010.

(7) Wenn ich von der „Dynamik des Vorläufigen“ spreche – den Begriff habe ich von R. Schutz übernommen (Roger Schutz: Dynamik des Vorläufigen, Güterloh 1967; Original: „Dynamique du provisoire“ in: Le Presses de Taizé, 1965), dann auf der Basis des messianischen Denkens, nicht des Konstruktivismus (siehe: Siegfried J. Schmidt: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit, Weilerswist 2010); zum missverständlichen Begriff der „Entweltlichung“ siehe das entsprechende Stichwort in meinem „Vademecum“ und: Paul Josef Cordes/Manfred Lütz: Benedikts Vermächnis, Franziskus Auftrag. Entweltlichung – Eine Streitschrift, Freiburg/Basel/Wien 2013.

(8) Vgl. mein Nachwort „Mit der Torheit leben und sterben?“ in: Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten, Münster 2017

(9) Zum Verhältnis von Reflexion und Aktion verweise ich aus marxistischer Sicht auf: Wolfgang Harich: Zur Kritik der revolutionären Ungeduld. Eine Abrechung mit dem alten und neuen Anarchismus, in: ders.: Schriften zur Anarchie, Marburg 2014

(10) Vgl. auch: Dirk Baecker/Alexander Kluge: Vom Nutzen ungelöster Probleme, Berlin 2003

(11) Ich verweise auf das Stichwort „Orthopraxis“ in meinem „Vademecum“ (2017) und die Reflexion „Zum Verhältnis von Weg und Ziel“ in: „Die radikale Umkehr“ (2013).

(12) Vgl. die entsprechenden Stichworte in meinem „Vademecum“ (2017)

(13) Ich verweise auf die Rechtfertigungsrede des Heinrich Krechting in: „Der zweifache Exodus“ (2017).

(14) Zur Aktualität der Marxschen Konzeption der Kritik der politischen Ökonomie vgl. Michael Quante: Der unversöhnte Marx, Münster 2018 und Thomas Steinfeld: Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx, Frankfurt 2018

(15) Ich verweise nochmals auf mein Stichwort „Orthopraxis“ in meinem „Vademecum“ (2017).

(16) Damit kritisiere und ergänze ich die Aussagen von Siegfried J. Schmidt in seinem Buch: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit. Prozessualität als Argumentationsstrategie, Weilerswist 2010, und verweise auf Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, München 1951/1968, und Roger Schutz: Dynamik des Vorläufigen (Dynamique de provisoire, 1965), Gütersloh 1967; sowie: Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott, Festschrift für Stéphane Mosès, Berlin 2000. Zu meinen metatheoretischen und wissenschaftsdidaktischen Überlegungen siehe: Die Vorläufigkeit theoretischer Arbeit. Zum Verhältnis von Wissenschaftskritik und Hochschuldidaktik, Osnabrück 1980 (Diss.)

Literaturhinweise

Zürcher Bibel 2007

Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Frankfurt/Main und Leipzig 1999

Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: Gesammelte Schriften, Bd.4, Darmstadt 1998

Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Den-ken I, München/Zürich 2000 (2.A.)

Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967

Hannah Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, mit einem Nachwort von Thomas Meyer, München 2018

Jan Assmann, Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015

Jan Assmann, Religio Duplex. Ägyptische Mysterien und Europäische Aufklärung, Berlin 2017

Kurt Appel/Erwin Dirscherl (Hrsg.), Das Testament der Zeit. Die Apokalyptik und ihre gegenwärtige Rezeption, Freiburg/Breisgau 2016

Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt/Main 2006

Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus,München 2002

Dirk Baecker/Alexander Kluge: Vom Nutzen ungelöster Probleme, Berlin 2003

Walter Benjamin, Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt/Main 1961

Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hrsg. v. Eberhard Bethge, München/Hamburg 1968

Ernst Bloch, Geist der Utopie (2. Fassung), Werkausgabe es Bd.3 Frankfurt/Main 1977

Ernst Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Werkausgabe es Bd. 14, Frankfurt/Main 1977

Ernst Bloch, Geist der Utopie (erste Fassung 1918), Werkausgabe es Bd.16, Frank-furt/Main 1977

Paul Josef Cordes/Manfred Lütz: Benedikts Vermächtnis, Franziskus Auftrag, Entweltlichung – Eine Streitschrift, Freiburg/Basel/Wien 2013

Günter Dux, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Wiesbaden 2017 (4. Auflage)

Urs Eigenmann, Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit als himmlischer Kern des Irdischen. Ein Beitrag zur religionskritischen Unterscheidung der Geister, in: Die Kritik der Religion. Der Kampf für das Diesseits der Wahrheit, Münster 2017 (Editi-on ITP-Kompass, Bd. 21

Urs Eigenmann, Von der Christenheit zum Reich Gottes. Beiträge zur Unterscheidung von prophetisch-messianischem Christentum und imperial-kolonisierender Christen¬heit, Luzern 2014 (Edition Exodus)

Dominik Finkelde, Politische Eschatologie nach Paulus, Wien 2007

Hans-Jürgen Goertz: Bruchstücke radikaler Theologie heute. Eine Rechenschaft, Göttingen 2010

Hermann-Josef Große Kracht (Hg.): Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas, Bielefeld 2014

Wolfgang Harich: Schriften zur Anarchie. Zur Kritik der revolutionären Ungeduld und Die Baader-Meinhoff-Gruppe, Marburg 2014
Hans Joas, Sind die Menschenrechte westlich?, München 2015

Philipp W. Hildmann/Johann Christian Koecke (Hrsg.): Christentum und politische Liberalität. Zu den religiösen Wurzeln säkularer Demokratie, Frankfurt am Main/Bern/Bruxelles 2017

Bettina Hollstein/Matthias Jung/ Wolfgang Knöbl (Hrsg.): Handlung und Erfahrung. Das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, Frankfurt am Main u.a. 2011

Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Frankfurt/Main 2017

Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott, Festschrift für Stéphane Mosès, Berlin 2000

Leszek Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative, München 1960

Leszek Kolakowski, Falls es keinen Gott gibt. Die Gottesfrage zwischen Skepsis und Glaube, Gütersloh 2008

Kurt Lenk (Hrsg. u. Einl.): Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Darmstadt/Neuwied 1978 (8. überarb. u. Erw. A.)

Wiard Popkes: Christus Traditus. Eine Untersuchung zum Begriff der Dahingabe im Neuen Testament, Zürich/Stuttgart 1967

Michael Quante: Der unversöhnte Marx. Die Welt in Aufruhr, Münster 2018

Siegfried J. Schmidt: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit. Prozessualität als Argumentationsstrategie, Weilerswist 2010

Jürgen Schmitter: Die Vorläufigkeit theoretischer Arbeit. Zum Verhältnis von Wissenschafskritik und Hochschuldidktik, Osnabrück 1980 (Univ.Diss.)

Jürgen Schmitter, Grenzen und Möglichkeiten der Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung im System Schule, in: G. Bartsch/R. Gaßmann (Hrsg.): Generation Alkopops. Jugendliche zwischen Marketing, Medien und Milieu, Freiburg im Breisgau 2010.

Jürgen Schmitter, Die radikale Umkehr des Heinrich Krechting am Schwarzen Brack, Episoden, Münster/Westf. 2013

Jürgen Schmitter, Der zweifache Exodus des Heinrich Krechting aus Schöppingen im Münsterland zu Beginn der Reformation. Eine fiktive Dokumentation, Münster 2017

Jürgen Schmitter, Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten. Ein Taschenwörterbuch, Münster 2017

Roger Schutz: Dynamik des Vorläufigen, Gütersloh 1967

Spinoza: Tractatus Theologico-politicus, Opera/Werke Bd. 1, Darmstadt 1989

Thomas Steinfeld: Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx, Frankfurt am Main 2018

Jacob Taubes: Die politische Theologie des Paulus, München 1993

Jacob Taubes: Apokalypse und Politik. Aufsätze, Kritiken und kleinere Schriften, hrsg.v. H. Kopp-Oberstebrink u. M. Treml, Paderborn 2017

Gerd Theißen/Petra von Gemünden: Der Römerbrief. Rechenschaft eines Reformators, Göttingen 2016

Gerd Theißen: Der Anwalt des Paulus, Gütersloh 2017

Stichwort: Messianisches Denken in einer Welt ohne Gott

Religion hat keine Wahrheit, die allgemein begreifbar ist (im Sinne aussagenlogisch geprüfter und sprachkritisch bewährter Begriffe und Sprachspiele). Der Sinn des Religiösen (als Rückbindung), insbesondere der religiösen Sprache, ist weltbildgebunden. Der Sinn der Rede von GOTT ist in einem theozentrischen Weltbild verstehbar. Demgegenüber ist im anthropozentrischen Weltverständnis die „Rede von GOTT“ einzig als synsemantischer Ausdruck bestimmbar und übersetzbar. Sie verweist auf die Utopie von der „Erlösung der Welt“ und der auf ihr heute und zukünftig lebenden wie bisher gestorbenen Menschen. Diese Utopie ist – als konkrete Utopie – existenziell – erfahrbar und in Oxymora beschreibbar bzw. erzählbar.
Religiöse Denkformen sind an das theozentrische Weltbild gebunden; zumindest in den sog. „monotheistischen“ Religionen. Im Zentrum jüdisch/christlicher Religionsvorstellungen stehen die Exodus-Erzählung und die Messias-Erwartung. Dieses messianische Denken ist – so meine These – in ein anthropozentrisches Weltbild und die zugehörige aufgeklärte Sprache übersetzbar. In einer „Welt ohne Gott“ ist Erlösung denk- und erfahrbar, wenn auch – im sprachkritischen und aussagenlogischen Sinn – nicht begreifbar.

Aufgeklärtes Denken, das die Stadien der Erkenntniskritik (Kritik der Metaphysik, der Religion und der Sprache) durchlaufen hat und durchläuft, ist vorläufig, nicht endgültig. Denn die Struktur des Vorläufigen ist dynamisch, da sich Erfahrung bzw. Erwartung und Erkenntnis unterscheiden, auch wenn sie aufeinander bezogen sind. Diese Differenz/dieser Bezug ist beschreibbar/erzählbar und als Utopie konkret erfahrbar. Diese Differenz, diesen Bezug zu leugnen, ist ein Rückfall in die ideologische (und damit reduktive) Position des Materialismus oder Naturalismus. Die Vorgabe und Struktur des Denkens und Handelns „als wenn es Gott nicht gäbe“ nenne ich den methodischen Atheismus und unterscheide ihn konsequent von Ideologien, die instrumentalisieren und/oder legitimieren.

p.s.
Damit kritisiere und ergänze ich die Aussagen von Siegfried J. Schmidt in seinem Buch: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit. Prozessualität als Argumentationsstrategie, Weilerswist 2010, und verweise auf Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, München 1951/1968, und Roger Schutz: Dynamik des Vorläufigen (Dynamique de provisoire, 1965), Gütersloh 1967; sowie: Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott, Festschrift für Stéphane Mosès, Berlin 2000. Zu meinen metatheoretischen und wissenschaftsdidaktischen Überlegungen siehe: Die Vorläufigkeit theoretischer Arbeit. Zum Verhältnis von Wissenschaftskritik und Hochschuldidaktik, Osnabrück 1980 (Diss.).

Ausführlich erläutert habe ich meine Überzeugung in meinem 2017 erschienen „Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten. Ein Taschenwörterbuch“ (Münster in Westf.) und neuestens argumentativ zusammengefasst in meinem (noch unveröffentlichten) Manuskript: „Was bedeutet strukturell Erlösung in einer Welt ohne Gott? (Über die Differenz zwischen Chronos und Kairos im messianisch-apokalyptischen Denken und die Konsequenzen in einem anthropozentrischen Weltverständnis: methodischer Atheismus und die Utopie der Erlösung), Metelen (März 2018, 35 S.).

Vgl. zur Gesamtproblematik das Stichwort „Messianismus“ I und II von Ton Veerkamp und Hans-Ernst Schiller in Band 9/I (Maschinerie bis Mitbestimmung) des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus (HKWM), Hamburg 2018 (Sp. 657-682) und speziell im selben Band das Stichwort „materialistische Bibellektüre“ von Kuno Füssel (Sp. 252-266).