oder
Die Ergebnisse der Aufklärung zuende denken
Eine Argumentation im Sinne des Aufgeklärten Realismus; gegen alle Spielarten von Naturalismus und Konstruktivismus sowie Theismus
Wer bei dem Wort „Versöhnung“ sofort in eine sog. „Identitätskrise“ verfällt und aus Gründen einer sprachlichen correctness an Wörtern wie „Vertöchterung“ oder „Vergeschwisterung“ bastelt, verkennt nicht nur die etymologische Herkunft des Begriffes, sondern pervertiert auch meine Absicht, über und im Projekt Versöhnung von Atheismus und Christentum nachzudenken, um eine sinnvolle Argumentation präsentieren zu können.
Das Verb „versöhnen“ ist eine Vokalmodulation des älteren Verbs „versühnen“ im Sinne von „Frieden stiften, ausgleichen, vermitteln“ – und eine Vermittlung schlage ich vor: die Position des Atheismus, wenn er streng methodisch verstanden wird, und die Praxis und Lehre des Christentums, wenn es von seinem Ursprung her, den die jüdischen Täufergemeinden (des 1. Jahrhunderts nach Christus) bezeugen, beschrieben wird. Diese Gemeinden, und insbesondere Paulus aus Tarsus, bezeugen, dass der am Kreuz hingerichtete Wanderprediger Jesus aus Nazaret der erwartete Messias/Christus ist.
Die messianische Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft sowie von der erlösenden Funktion der Menschwerdung Gottes (dokumentiert im kenosis-Hymnus des Philipperbriefes) relativieren das theozentrische Weltverständnis (im damaligen Römischen Reich). Denn das jüdisch-messianische Denken greift auf die Exodus-Struktur der Bibel zurück. Und dies führt schon bei manchen Gelehrten im damaligen Römischen Reich zu dem Vorwurf, dass die „Christus-Gläubigen“ Atheisten seien.
Ich übersetze die messianische Botschaft unter den Bedingungen des heutigen, aufgeklärten, anthropozentrischen Weltverständnis als „konkrete Utopie der Erlösung“. Und diese Übersetzung schließt den methodischen Atheismus (zur Lösung von Problemen) nicht aus. Aufgeklärte Christen sind in ihrem Denken und Handeln (zunächst) methodische Atheisten; sie müssen – mit allen Menschen – denken und handeln, als wenn es Gott nicht gäbe (sic deus non datur). Und sie können so denken und handeln, da sie unter dem Vertrauensvorschuss der (konkreten Utopie der) Erlösung befreit sind von religiösem Zwang und gesellschaftlichen Vorurteilen.
Im Gegensatz zum gnostischen Denken (der Selbsterlösung) steht das messianische Denken (im Sinne der kenosis), in dem Erlösung als zu erwartende „Gabe“, als Geschenk gedacht wird, die befreit – aber in einem radikal anderen Sinn als in der Gnosis. Übrigens bleibt Hegel, wenn er in seiner Philosophie des Geistes von Versöhnung spricht, im gnostischen Verständnis.
Für das messianische Denken sind existenzielle Erfahrungen kairologischer Struktur, und damit im strengen Sinn zeitlos, also ewig; während historische oder zukünftige Erwartungen apokalyptischer Art oder als Apokatastasis oder als Weltgericht (am Weltende) in chronologischen Strukturen erzählt werden. Chronologische Rekonstruktionen (z.B. Schöpfungsmythen oder Gerichtsszenarien am Ende der Welt) sind an ein theozentrisches Weltverständnis gebunden.
Schöpfungsmythen wie Paradiesvorstellungen bedürfen daher eines Schöpfers, sind „metaphysisch“ strukturiert. Demgegenüber bestimmt das anthropozentrische Weltbild der Aufklärung (und der heutigen Erfahrungswissenschaften) den Menschen als Schöpfer – und religiöse/metaphysische Sprachspiele als seine Projektionen.
Der Mensch (als Vernunftwesen) versucht, alle Probleme dieser Welt zu lösen (durch Begreifen und Eingreifen), aber diese „Potenz“ (diese Möglichkeit) ist an seine Leiblichkeit und Sterblichkeit gebunden. Der Mensch ist ‚Vernunft- und Naturwesen. Diese Verknüpfung von Natur (Leiblichkeit) und „Geist“ – im Sinne von „Problemlösungspotenzen“ (individuell wie gesellschaftlich, als lebendiger Organismus wie als Gesellschaftsformation) schafft Bewusstsein und Selbstbewusstsein.
In diesem und durch dieses Bewusstsein (in mehrfacher Ausprägung: als Gesprächs-, Reflexions-, Erinnerungs- und Planungsfähigkeit inklusive der Entwicklung von Selbstbewusstsein/Mündigkeit) sind Menschen fähig, ihre Lebensprobleme zu lösen, ihre Natur (Leiblichkeit) und ihre Welt (die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos) zu erkennen und zu gebrauchen.
Für ihre Fähigkeiten („Potenzen“ – Aufbewahrung und Gebrauch) sind die Menschen allein verantwortlich. Diese Verantwortung beim Lösen ihrer Probleme (im Alltag und in der Wissenschaft) und der Sicherung ihrer Erkenntnisse können sie – zusammenfassend – als ihre Autonomie bzw. Mündigkeit reflektieren. In diesem Sinn sind sie notwendigerweise „methodische Atheisten“, die weder auf andere Instanzen oder mythologische Erzählungen zurückgreifen. Sie haben gelernt, von dieser (methodischen) Erkenntnisarbeit Ideologien und deren Wirkung zu unterscheiden. Dies gilt für alle Spielarten von Theismus, Naturalismus, Materialismus und Konstruktivismus.
Menschen sind weiterhin in der Lage, Teile und Ergebnisse ihrer Potenzen „auszulagern“; ich denke z.B. an Bibliotheken. Heutzutage sprechen wir von „künstlicher Intelligenz“. Das menschliche Erinnerungsvermögen ist damit weltweit sicherbar und abrufbar. Dies gilt auch in zunehmendem Maße für die Planungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Die Grundlage dieser Potenzen ist das Bewusstsein. Seine Entstehung und Entwicklung bleibt an den „lebenden, selbstgesteuerten Organismus Mensch“ gebunden, selbst wenn eine funktionsbestimmte Loslösung vom menschlichen Organismus (in „Maschinen“) möglich wird.
Selbst die Bildung des geschlechtlichen Ich-Bewusstseins (geschlechtliche Identität) ist zwar an den individuellen Organismus, die Leiblichkeit, gebunden, setzt aber als Selbstaussage der je eigenen Erfahrung Selbstbewusstsein (im Sinne der Mündigkeit) voraus.
Für die Fortpflanzungsmöglichkeit und die Erziehung der Nachkommen gilt die gemeinsame Verantwortung von Vater und Mutter. Gesprächskompetenz ist mehr als Sprachkompetenz und Rechtsbewusstsein ist nicht einfach die Summe individuellen Selbstbewusstseins, sondern ein Lernprozess der Konsensbildung, der sich auf der Basis der Gleichheit an Freiheit und Gerechtigkeit orientiert.
Bewusstsein entsteht (bildlich vorgestellt) als Schnittmenge von Natur und Kultur (als Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklung) bei Zeugung und Geburt und endet für das einzelne Individuum durch seinen Tod. Leiblichkeit wie Sterblichkeit sind für das Bewusstsein eines jeden Menschen konstitutiv. Mit Hannah Arendt fasse ich diese Erkenntnis in die Aussage zusammen: Menschen sind sterbliche Schöpfer.
Diese Erkenntnis korrigiert ideologisch geprägte und/oder durch das vorherrschende Weltbild bestimmte Vorstellungen davon, was der Mensch und seine Welt seien. Daher postuliere ich: der Prozess der Aufklärung (als Antwort auf die Frage, was der Mensch sei) muss konsequent zuende gedacht werden. Das Ziel dieses Projektes – als Resultat metatheoretischer Reflexion – fasse ich unter dem Titel „Aufgeklärter Realismus“ zusammen. Erste Ergebnisse dieser Metareflexion (im Sinne einer aufgeklärten Anthropologie) habe ich in meinem gleichnamigen Buch (Münster 2020) veröffentlicht.
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