Bemerkungen zur Randglosse. Bekenntnis eines Marginalisten

Vorbemerkung:

Unter dem Stichwort: „Peripherie 2020“ fasse ich Vorüberlegungen zu einem neuen Buchprojekt zusammen, in dem ich Kommunikationsprozesse untersuche und bewerte; und zwar aus der Peripherie des Alltags unserer Gesellschaft. Wie erfahren und bewerten Menschen „vom Rande aus“ Aktionen und Erregungen im Zentrum der Gesellschaft?

Raumphilosophische Reflexionen und soziologische Beobachtungen sollen die ungelöste Frage klären: „Was denken und was tun, wenn es den Archimedischen Punkt nicht gibt – weder im Zentrum noch an der Peripherie -, um die Welt aus den Angeln zu heben?“ Oder nüchtern gefragt: Ist, und wenn ja, wie ist Umkehr (sinnvoll, nachhaltig und verantwortlich) möglich?

Bemerkungen zur Randglosse. Bekenntnis eines Marginalisten

 Randglossen (Marginalien) sind Kurzkommentare, meist stichwortartig, die verstärken, in Frage stellen, bestreiten, zustimmen oder ergänzen; wie immer auch: sie beziehen sich auf einen seitlich vorgegebenen TEXT (oder auch ein Bild oder eine Grafik). Der Randglossenschreiber – ich nenne ihn einen Marginalisten – beabsichtigt zu erklären, zu erläutern, den nebenseitigen Text im besonderen zu beachten. Die Marginalie dient also dem besseren Verständnis; sie verbessert es (bestenfalls) oder verschlimmbessert das Verständnis. Zumeist ist sie nicht aus sich selbst verständlich – es sei denn, sie enthält eindeutig wertende Urteile; entweder pejorativ (unsinnig!, sinnlos!) oder lobend (klasse! o.k.!) oder sie weist auf Unklarheiten hin (???). Diese müssen aber nicht dem Text geschuldet sein, sondern können auch durch die mangelnden Kompetenzen des Lesenden entstehen: durch einen Mangel an Verstehen oder Verständnis.

Alles in allem: die Randglosse hat einen mehrdeutigen und wankelmütigen Stand; vor allem aber, sie ist, was die Differenzierung angeht, von der Breite des Randes abhängig. So stellt sich schon bei der Buchgestaltung – dem Druckbild – die Frage, wie viel Raum dem Rand auf der jeweiligen Druckseite eingeräumt wird.

Extrem ist in dieser Hinsicht die Tageszeitung: sie kennt keinen Rand, sie will keine Randglossen, obwohl bei der Flüchtigkeit und Einseitigkeit von Zeitungsartikeln Bemerkungen notwendig wären. Weiterhin ist die Vorstellung extrem, ein Buch bestände nur aus Randglossen, entweder schon in gedruckter Form vorliegend oder als Leerseite. Aber welcher Verlag würde ein solches Monstrum herausgeben? Auch wenn in manchen Verlagen sog. Leerbücher, die aus leeren Blättern in Buchdeckel gebunden bestehen, Konjunktur haben. Vor mir, auf dem Schreibtisch liegt ein solches Exemplar aus dem Suhrkamp-Taschenbuch-Verlag: Leerbuch und Verwirrbuch zugleich: Auf den schwarzen Buchdeckel des „Notizbuchs“ ist mit grüner Farbe eingeprägt: Die Lust am Text und auf der Rückseite wird Roland Barthes zitiert: „Den Text, den Sie schreiben, muss mir den Beweis erbringen, dass er mich begehrt.“ Ich bin nicht sicher, ob dieses Cover stimuliert oder abschreckt; immerhin ist es bei mir schon in Gebrauch. Auf der ersten Seite habe ich mit blauer Tinte eingetragen: Leben an und in der Peripherie. Autobiografisches Projekt. Januar 2020.

Peripherie – wir sind im Thema: Eine Zwischenlösung ist denkbar. Ein einzelnes Wort auf der Textseite bedarf umfassender Kommentierung am Rand. Ich konstruiere ein Beispiel: Auf der Textseite ist gedruckt HERBSTZEITLOSE; dann würde in meinem Fall (Ich als Leser) der Rand mit Bemerkungen überquellen.

Natürlich kann ich mir in diesem Fall eine Alternative überlegen: die Fußnote. Aber sie verschlimmbessert die Problemlage, wie Bücher mit wissenschaftlichem Anspruch im Übermaß dokumentieren: eine Zeile Text, dann die zugehörige Anmerkung über zwei Seiten. Es wäre natürlich möglich, die Fußnoten separat am Ende des Textes zu versammeln; aber diese Anordnung kann das Verstehen des Textes erschweren; wie jeder weiß, der sich mit wissenschaftlichen Texten herumschlagen musste und muss.

Einen spezielles Verhältnis von Text und Anmerkung zeigt sich bei Texten und Schriften, die der Qualifikation der Schreibenden dienen; z.B. Dissertationen, in denen (unsichere) Forschungsergebnisse oder Lektüreerinnerungen in die Fußnoten gepackt werden, während der Text selbst nur das Unproblematische zum Ausdruck bringt. Abgesehen davon, dass der kritische Leser in diesem Fall keine Möglichkeit der Kommentierung am Rande hat (es bleibt nur die Strichbildung mit dem Bleistift), ist die Hypothesenbildung in den Fußnoten eine Mogelpackung, entweder aus Unsicherheit des Autors, oder aus der Unfähigkeit, die Hypothesenbildung präzise bestimmen zu können.

Aber die „gemeine“ Fußnote hat im (internationalen) Qualifikationszirkus noch eine weitere Funktion: sie dient der Quellenangabe (bei Zitaten), deren Anzahl mit quantitativen Methoden geprüft werden kann, um Rückschlüsse auf die bisherige oder zukünftige Reputation der Wissenschaftlerin oder des Wissenschaftlers zu ermöglichen.

Dieses Verfahren (der Umgang mit zitierten Schriften und Zitaten) hat sich in der heutigen scientific community vielfach durchgesetzt und kann trickreich beeinflusst werden, ohne dass die zitierten Quellen zur Hypothesenbildung der Sache nach entscheidend beitragen. Bei Qualifikationsarbeiten kann es entscheidend sein, die Literaturliste der Prüfer zu übernehmen, so dass aus der eigenen Literaturliste (am Ende der Arbeit) schon die Zugehörigkeit zur jeweiligen community erkennbar wird. Wer seine Qualifikationen im jeweiligen Wissenschaftsbetrieb erfolgreich erreicht hat, der streut seine eigenen Veröffentlichungen mehr oder weniger geschickt in den Anmerkungsapparat weiterer Veröffentlichungen.

Kehren wir nochmals von den Anmerkungen, die ein Autor selbst verfasst, zu den Randglossen zurück, die fremde Leser eintragen, sofern das Buch gekauft wurde und nicht ausgeliehen ist. Nichts ist ärgerlicher, als ein Buch mit (kaum lesbaren) Einträgen fremder Hand lesen zu müssen, denn bei solchen Bemerkungen ist oft Besserwisserei mit im Spiel. Es sei denn, der bemerkende Leser ist interessanter als der Autor des Buches. Ich erinnere mich, in Weimar sind die Bemerkungen, die Goethe in die Bücher seiner Handbibliothek eingetragen hat, heute besonders gekennzeichnet und daher nachschlagbar.

Und schließlich bekenne ich mich zu der Unart, während des Lesens neuer Bücher diese auf jedem weißen Fleck mit meinen Bemerkungen voll zu kritzeln. Ich hoffe, den Überschuss an eigenen Gedanken beim Lesen einer fremden Argumentation fixieren zu können, damit er mir nicht verloren geht. So habe ich Ernst Blochs „Atheismus im Christentum“ im Erstdruck (Frankfurt am Main 1968, außerhalb der Werkausgabe) nach Jahren wiedergelesen und war überrascht, wie sehr ich meinen früheren Bemerkungen 50 Jahre später noch zustimmen konnte. Aber diese Einsicht spricht eher für die Qualität der Argumentation, weniger für die Kontinuität meiner Zustimmung.