Die jüdisch-christliche Bibel beginnt in ihrem ersten Buch (der Genesis) mit dem Schöpfungsmythos, doch strukturell wie existenziell ist diese Erzählung rückblickend sekundär, während der Erlösungsmythos vorausschauend primär ist. Damit meine ich, dass die entscheidende Struktur des Judentums wie des Christentums der Auszug, der Exodus ist; der Auszug aus dem status quo in der Hoffnung auf Erlösung. Diese messianische Struktur relativiert Religion als Rückzug, Rückblick, als Rückbezug.
Meine Unterscheidung zwischen „primär“ und „sekundär“ bleibt missverständlich, wenn sie als chronologische Aussage verstanden wird. Daher konnte die Erzählung von der kommenden „Gottesherrschaft“ (als „Ende der Welt“, als „Endgericht“) in die Irre führen und apokalyptisch ausgemalt werden.
Heutzutage sind (wir) Menschen in der Lage, sich auf der Erde insgesamt selbst zu zerstören, aber diese Möglichkeit der Vernichtung ist mitnichten das „Jüngste Gericht“. „Erlösung“ als Aufhebung allen (vorläufigen) Problemlösens verstehe ich als kairologisches Ereignis. In der Erzählung vom kenosis-Mythos (der radikalen Entäußerung Gottes als Mensch) ist der Messias kein König, kein absoluter Herrscher, sondern ein gewaltloser, mitleidender Mensch, der als Verbrecher hingerichtet wird.
Seine Erhöhung (erzählt im theozentrischen Weltverständnis als „Auferstehung“) bedeutet im anthropozentrischen Weltbild (aufgeklärter Menschen): Erlösung ist die Macht der Ohnmacht, beschreibbar als Oxymoron; radikale Umkehr der menschlichen Machtverhältnisse. Diese existenzielle Erfahrung ist allein beschreibbar als konkrete Utopie. Sie bleibt den Philosophen dieser Welt eine Torheit, den messianischen „Christen“ aber eine befreiende Überzeugung, die ihr Leben verändert und eine weltweite (grenzenlose) Empathie begründet, ohne ihre Sterblichkeit in dieser Welt aufzuheben. Diese Empathie ist im heutigen anthropozentrischen Weltverständnis als kategorischer Imperativ formulierbar: Handle stets so, dass die Würde aller Menschen unantastbar bleibt. Dass dieses Regulativ bis heute weltweit nicht durchgesetzt ist und stets in allen Gesellschaften der Umsetzung und Überprüfung bedarf, ist offensichtlich.
Wenn „Erlösung“ als konkrete Utopie erzählt werden kann, dann muss unter den Bedingungen heutiger Welterfahrung (im Sinne der Aufklärung, die zu Ende gedacht und nicht abgebrochen wird) auch diese Vorstellung entmythologisiert werden, um sie sowohl vor dem chronologischen Missverständnis am Ende des individuellen Lebens, als auch vor der Hoffnung auf ein „Jenseits“(das das „Diesseits“ ablöst) zu schützen.
Ich erinnere an die Reflexion von Dietrich Bonhoeffer (in „Widerstand und Ergebung“):
„Man sagt, das Entscheidende sei, daß im Christentum die Auferstehungshoffnung verkündigt würde, und daß also damit eine echte Erlösungsreligion entstanden sei. Das Schwergewicht fällt nun auf das Jenseits der Todesgrenze. Und eben hierin sehe ich den Fehler und die Gefahr. Erlösung heißt nun Erlösung aus Sorgen, Nöten, Ängsten und Sehnsüchten, aus Sünde und Tod in einem besseren Jenseits. Sollte dies aber wirlich das Wesentliche der Christusverkündigung der Evangelien und des Paulus sein? Ich bestreite das. Die christliche Auferstehungshoffnung unterscheidet sich von den mythologischen darin, daß sie den Menschen in ganz neuer und gegenüber dem Alten Testament noch verschärfter Weise an sein Leben auf der Erde verweist. Der Christ hat nicht wie die Gläubigen der Erlösungsmythen aus den irdischen Aufgaben und Schwierigkeiten immer noch eine letzte Ausflucht ins Ewige, sondern er muß das irdische Leben wie Christus ganz auskosten und nur indem er das tut, ist der Gekreuzigte und Auferstandene bei ihm und ist er mit Christus gekreuzigt und auferstanden. Das Diesseits darf nicht vorzeitig aufgehoben werden. Darin bleiben Neues Testament und Altes Testament verbunden. Erlösungsmythen entstehen aus den menschlichen Grenzerfahrungen. Christus aber faßt den Menschen in der Mitte seines Lebens.“
Dieser Reflexion von Dietrich Bonhoeffer stimme ich zu, wenn ich von einem kairologischen Ereignis spreche. Erlösung im messianischen Denken ist kein (altorientalischer) Mythos; sondern die konkrete Utopie verweist auf das zu ändernde und geänderte Leben auf dieser Erde, auf die Freiheit (besser: Befreiung) aller Menschen. Der Mensch bleibt sterblich, aber er ist befreit zu radikaler Menschenliebe; denn der Tod hat keine Herrschaft mehr über ihn, obwohl sein Leben endlich bleibt.
Dieses Ereignis ist (nur) existenziell erfahrbar und widersprüchlich erzählbar. Daher sprechen manche Denker von einer Torheit. Das gilt für (traditionelle) Metaphysiker, als auch für (moderne) Konstruktivisten, wenn diese die Vorläufigkeit des Problemlösens für endgültig halten. Letztere leugnen die Dynamik des Vorläufigen, provisorisch und antizipativ zugleich zu sein.