Souveränität – ein problematischer Begriff aus vordemokratischer Zeit

Im Kontext der aktuellen Kontroverse im Vereinigten Königreich (UK) bezüglich des „Brexit“ und der nationalistischen Tendenzen in anderen Staaten der Europäischen Union erläutere und kritisiere ich den populistischen Missbrauch des Begriffes „Souveränität“ (des Staates, der Nation, auch des Volkes). Es wird die gefährliche Illusion geschürt, dass die (wiederherzustellende oder zu stabilisierende) Souveränität des einzelnen Staates für das Leben der Menschen in der jeweiligen Gesellschaft Vorteile bringe. Genau das Gegenteil ist im heutigen Europa der Nationalstaaten der Fall! Die Idee der Staatssouveränität (gegenüber anderen Staaten) wird zur Ideologie, die begründen soll, warum und wieso es sinnvoll und nützlich ist, sich „grenzmäßig“ abzuschließen und abzusichern, um die phantasierte Selbstbestimmung zu erhalten.

Selbst das sinnvolle „Gewaltmonopol des Staates“ ist nicht von der vordemokratischen Souveränität (der jeweiligen Herrschaft) abzuleiten, sondern dient allein dem Schutz menschenwürdigen Lebens aller in der Gesellschaft; also der friedlichen und gerechten Konfliktlösung. Auch hat der demokratisch verfasste Staat – für mich die Republik – kein uneingeschränktes Gewaltmonopol, sondern es gilt die unauflösbare Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative.

Hinzu kommen die für alle – Menschen wie Institutionen – gültigen Menschenrechte; mit dem obersten Imperativ, dass die Würde des Menschen (nicht nur der sog. „Staatsbürger“) unantastbar ist.

Artikel 1 (1) des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland sagt unmissverständlich: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Daher ist – um ein extremes Beispiel zu nennen – meiner Überzeugung nach die sog. „Todesstrafe“ (als staatliche Sanktion, selbst als Gerichtsurteil) menschenrechtswidrig; unabhängig von Artikel 102 GG, der sie in der Bundesrepublik Deutschland abschafft. Staaten, in denen die Todesstrafe möglich ist oder sogar praktiziert wird, haben ein Demokratie-Defizit. Die Todesstrafe ist ethisch nicht verantwortbar; auch nicht durch das Notwehrrecht, das ich nur im Rahmen eines individuellen Schutzrechtes diskutieren und problematisieren kann.

Zu den Grundsätzen der Demokratie gehört auch ein parlamentarisch verfasstes Gesetzgebungssystem, das regelmäßige freie Wahlen voraussetzt und die Wirksamkeit populistischer Vorstellungen ausschließt. Volksbefragungen, Volksabstimmungen und auch interessengebundene Bürgerinitiativen sind sinnvolle Ergänzungen unterschiedlich gestalteter Systeme des Parlamentarismus; aber Beratungsabläufe, Kompromissfähigkeit und Kompromissbereitschaft müssen strukturell erhalten bleiben (Mehrheitsentscheidung und Minderheitenschutz).

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, so sagt Artikel 20 (2) des Grundgesetzes. Aber die „Macht des Volkes“ ist in der Demokratie weder grenzenlos noch ungeordnet (Demokratie und Anarchie sind daher streng unterschieden). Daher heißt es im Grundgesetz weiter: „Sie – die Staatsgewalt – wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“. Und nur „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“, haben „alle Deutschen das Recht zum Widerstand“ – „gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen“. Ich zitiere diese Passagen des Grundgesetzes, um die antipopulistische Orientierung unserer Verfassung zu verdeutlichen.

Menschenrechte und Gewaltenteilung, wie auch die Bereitschaft, Kompromisse zu akzeptieren und das Gemeinwohl über das Einzelinteresse zu stellen (ausgleichende Gerechtigkeit) sind für demokratische Gesellschaften konstitutiv. Der Kompromiss verlangt eine argumentative Vorbereitung, einen kommunikativen Austausch sowie ein akzeptables und akzeptiertes Verfahren.

Unter diesen Bedingungen hat Demokratie – als Gesellschaftsform – keine statische Struktur, sondern ist ein dynamischer Prozess (Demokratisierung), der jede Form von notwendiger Machtausübung begrenzt (vor allem ökonomische Macht); orientiert an Freiheit, Gleichheit (vor dem Gesetz) und Gerechtigkeit. Ohne die Verbindlichkeit zu relativieren, gilt diese Dynamik für die Grundrechte und ihre Entstehungsgeschichte selbst: ich erinnere an die Kontroverse über Artikel 14 und 15 GG im Parlamentarischen Rat (Eigentum und Vergesellschaftung). Es wäre möglich und – meiner Überzeugung nach – sinnvoll gewesen, den Eigentumsbegriff grundsätzlicher zu differenzieren; denn persönliches Eigentum, Eigentum an Produktionsmitteln, Erbe und Finanzkapital sind begrifflich (in Bezug auf ihre Wirkungsweise) zu trennen. Aber dies war (mehrheitlich) nicht gewollt und theoretisch kontrovers (vgl. die kritischen Analysen der Politischen Ökonomie).

Die Dynamik der Demokratisierung kann nur erhalten bleiben, wenn der Grundkonsens an Empathie und Solidarität nicht zerstört wird oder verloren geht. Das bedeutet, dass Probleme und Konflikte gewaltfrei, friedlich gelöst werden (müssen). Die Einsicht in die Vorläufigkeit der jeweiligen Lösungen, und damit die Möglichkeit der Veränderung und Verbesserung darf nicht verloren gehen.

Alle Macht (Staatsgewalt) geht vom Volke aus; dieser Imperativ kann missverstanden und missbraucht werden (die Differenz zwischen Macht und Staatsgewalt beachte ich hier nicht):

(1) wenn die Aussage „wir sind das Volk“ interessenmäßig missbraucht wird;

(2) wenn sich hinter dieser Aussage ideologische Positionen und Vorstellungen verstecken (insbesondere mit dem problematischen Begriff „Volk“ verknüpft), die Kompromisse verhindern oder denunzieren, oder Menschenrechte (insbesondere Minderheitsrechte) außer Kraft zu setzen versuchen;

(3) wenn demokratische Institutionen zerstört oder eingeschränkt werden (z.B. die Pressefreiheit oder das Recht auf umfassende Information).

p.s. Zum Begriff „Souveränität“ als populistischer Kampfbegriff

Nach einem Diktum von Martin Luther kommt es darauf an, den Leuten aufs Maul zu schauen, aber nicht nach dem Munde zu reden – eine Anregung für verständliches und verstehbares Übersetzen. Populisten gebrauchen/missbrauchen sinnvolle Begriffe als „Kampfbegriffe“, um Seriosität vorzutäuschen, wollen aber emotionale Zustimmung erreichen. Das gilt auch für den Begriff „Souveränität“, der historisch (wie möglicherweise juristisch) sinnvoll gebraucht werden kann, aber innerhalb der Demokratie-Theorie unbrauchbar ist. Bei Carl Schmitt zeigt sich die Doppelbödigkeit dieses Begriffes in seiner vordemokratischen/faschistoiden Staatsauffassung.

Kinder Abrahams und Erben der (abgebrochenen bzw. unvollendeten) Aufklärung

Europäische Gedanken zum Neuen Jahr 2019

Vor einigen Tagen erhielt ich zum Jahreswechsel ein Chronogramm, in dem es heißt, Europa solle sich seiner christlichen Wurzeln (radicis christianae) erinnern, um seine Einigkeit und seinen Bestand zu sichern. Diese Forderung ist gut gemeint, aber einseitig und in historischer Perspektive problematisch.

Wir Jetzt-Menschen in Europa/Vorderasien/Nordafrika sind alle „Kinder Abrahams“: Juden, Christen und Muslime. Und zu unserer Geschichte gehören von Anfang an Religionsspaltungen, Konfessionsbildungen, Religionskriege (die immer auch Machtauseinandersetzungen und Interessenkonflikte zur Grundlage hatten und haben), Pogrome und ideologischer Streit und Feindschaft. Gemeinsamer Anspruch der abrahamitischen Religionen und die historische wie gesellschaftliche Wirklichkeit widersprechen sich und bis heute bedarf es gemeinsamer Anstrengung und Empathie, diese Widersprüche und Gegensätze von den gemeinsamen Wurzeln her zu überwinden. Karl-Josef Kuschel, ein Theologe, der sich seit langem dem interreligiösen Dialog widmet, hat eindringlich darauf hingewiesen, „dass wir alle Kinder Abrahams sind“. (1)

Wir Jetzt-Menschen sind darüber hinaus alle „Erben der Aufklärung“, gleich welcher Konfession wir zugehören (durch Geburt oder/und Entscheidung) oder ohne Zugehörigkeit zu einer Konfession. Diese Aussage bedarf der Erläuterung, da wir oft diese Herkunft und Wirklichkeit verdrängen, verleugnen, verharmlosen oder gegen unsere religiöse Herkunft ausspielen. (2)

Wenn ich von „Aufklärung“ spreche, dann umfasst dieser Begriff nicht nur einen unabgeschlossenen historischen Prozess in Europa (mit sehr unterschiedlichen Resultaten und Wirkungen), sondern die grundlegende Möglichkeit und Notwendigkeit, begreifbare Probleme in Wissenschaft und Gesellschaft (Alltag) auf der Basis von Erfahrung (nicht Spekulation) zu lösen; mit Hilfe erfahrungswissenschaftlicher Methoden und unter dem Postulat von Mündigkeit und Autonomie. Dieser Prozess wird ideologiekritisch begleitet, ausgehend von Roger Bacon über Immanuel Kant und die Kritik der Politischen Ökonomie des Karl Marx bis hin zu einer zeitgemäßen Sprachkritik. (3)

Wir im Sinne dieser Aufklärung ausgebildete Jetzt-Menschen haben die zum Teil widersprüchlichen Arbeitsweisen und Erfahrungen verinnerlicht; zum Teil müssen wir lernen, mit ihnen zu arbeiten, und zu einem weiteren Teil leben wir in überholten Weltvorstellungen oder klammern uns an ideologischen Konstruktionen der Wirklichkeit. Ich erinnere – pars pro toto – an die umwerfende Bedeutung der Einführung der „arabischen Null“ in das beschränkte römische Zahlensystem, ich denke an Raimundus Lullus und seinen Versuch der Synthese unterschiedlicher Weltvorstellungen, ich verweise auf jüdische, christliche und muslimische Formen der Mystik, ich hebe jüdische, christliche und muslimische Denker im Zeitalter der Aufklärung hervor und verweise auf den impliziten wie expliziten Atheismus (im Sinne einer theologia negativa) in Judentum und Christentum.

Diese Lebens-, Erfahrungs- und Reflexionsprozesse prägen unser heutiges Welt- und Menschenbild. Ich kennzeichne dieses Weltbild als „anthropozentrisch“ (inklusive eines methodischen Atheismus) und spreche beim zugehörigen Menschenbild von „Autonomie“. Dieser Begriff bedeutet für mich – auf der Erfahrungsebene – nicht absolute Unabhängigkeit oder Freiheit, sondern ausschließliche Verantwortung des Menschen und der Menschen für ihr Denken, Handeln und Verhalten. Es gibt meiner Überzeugung nach keinen entlastenden Rückgriff auf eine „andere“ Wirklichkeit, auf den sog. Zufall (casus non datur) oder ein grundsätzlich „anonymes“ Schicksal.

Diese Überzeugung auf der Basis von Autonomie und aufgeklärtem Realismus (4) bedeutet im Detail:

  1. Wir sind notwendigerweise „methodische Atheisten“ (sic deus non datur), wenn wir Probleme lösen und damit wir sachgemäß Probleme lösen können; in Wissenschaft und Alltag (öffentlich wie privat).
  2. Wir erfahren – und wissen um – die Vorläufigkeit allen Problemlösens. Daher sind wir notwendigerweise kritisch und zweifelnd (ohne zu verzweifeln); ansonsten verfallen wir den Ideologien, den Illusionen und dem Aberglauben.
  3. Wenn wir die Dynamik des Vorläufigen erfahren und erkennen, sind wir implizit und/oder (im Einzelfall) Mystiker, die die „Utopie der Erlösung“ andenken, ohne in „Gottesgeplapper“ zu verfallen. Wir enträtseln die Oxymora unserer Sprachen und unserer Welt, ohne das „beredte Schweigen“ aufheben zu können. (5)
  4. Als Christ bin ich überzeugt (im Sinne von Vertrauen), dass auf der Basis und in der Form des jüdischen Messianismus die „Utopie der Erlösung“ konkretisiert ist.
  5. Die Botschaft der konkreten Utopie des Christentums ist in zweifacher Hinsicht formulierbar:
    • Jesus aus Nazaret ist der Messias;
    • Gott ist Liebe (agape/caritas); in der Interpretation des Johannesbriefes.

Die Konsequenzen aus dieser Doppelbotschaft für den Menschen bedürfen, um realisiert zu werden, der steten Übersetzung und Aktion; in messianischer Vorstellung und Sprache bedeutet das den Anbruch und die spezifische Gegenwart des „Reiches Gottes“. Wir Jetzt-Menschen sind (so formuliert Hannah Arendt) sterbliche Schöpfer. Das ist unsere Freiheit und Verantwortung.

Anmerkungen

  1. Karl-Josef Kuschel lehrte Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs an der Universität Tübingen und stellvertretender Direktor des Instituts für für ökumenische und interreligiöse Forschung. In der Weihnachtsausgabe der Frankfurter Rundschau Nr. 299 (2018) wurde er interviewt unter dem Titel: „Wer Christentum und Islam gegeneinander ausspielt, hat keine Ahnung von den gemeinsamen Wurzeln“. Im Gespräch erzählt Theologe Karl-Josef Kuschel, dass die „Heilige Nacht“ kein Privileg der Christen ist. Vgl. seine neueste Veröffentlichung: Karl-Josef Kuschel: „Dass wir alle Kinder Abrahams sind …“. Helmut Schmidt begegnet Answar as-Sadat. Ein Religionsgespräch auf dem Nil, Düsseldorf 2018
  2. Immanuel Kants Programmschrift von 1783 „Was ist Aufklärung“ trifft alle Menschen, Christen, Nichtchristen und auch Atheisten. Ich habe 2017 ein Buch geschrieben, das zu Gespräch und gemeinsamen Nachdenken auffordert: Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten. Ein Taschenwörterbuch, Münster 2017.
  3. Am unterschiedlichen Verhältnis von Staat und Religion, insbesondere vom jeweiligen Staat und den Kirchen in Europa lässt sich klar ablesen, dass der Prozess der Aufklärung auf unterschiedliche Weise steckengeblieben ist; und das gilt nicht nur für die einzelnen europäischen Gesellschaften, sondern auch für die jeweiligen rechtlichen Konstruktionen und die Theorieproduktion. Deswegen spreche ich von der „abgebrochenen“ Aufklärung. Vgl. die einzelnen Stichworte in meinem „Vademecum“ (für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten). Siehe Anm. 2
  4. Ich beginne in diesen Tagen unter diesem Stichwort des „aufgeklärten Realismus“ einen „Leitfaden zu einem zeitgemäßen Welt- und Menschenbild“ aufzuschreiben (Grundlagen für eine Theorie verantwortungsvollen Handelns und Verhaltens). Vgl. zu der Frage, was ein „zeitgemäßes Welt- und Menschenbild“ sein könnte: Günter Dux: Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Wiesbaden 2017 (4.A.) und Michael Zichy: Menschenbilder. Eine Grundlegung, Freiburg/München 2017. Hannah Arendts Aussage, die Menschen seien „sterbliche Schöpfer“ ist für diesen Leitfaden maßgebend.
  5. Wenn ich hier von „Mystik“ bzw. „mystischer Erfahrung“ spreche, dann nicht in einem religionsspezifischen Sinn, sondern ausgehend von der Position Wittgensteins – schon zu Ende seines Tractatus –, dass es Erfahrungen gibt, die sich „zeigen“ – und nicht „begriffen“ werden können (im sprachkritischen Sinn, aber sehr wohl kritisch analysiert werden können und müssen). Diese mystischen Erfahrungen sind grundsätzlich für alle nachdenkenden Menschen offen, sie sind streng zu unterscheiden von aller Esoterik und allem Aberglauben. Am Anfang dieser Erfahrung steht das Schweigen (nicht das „Gottesgeplapper“), aber es kann zum „beredten Schweigen“ werden – in der sprachlichen Form der Oxymora. Ich halte die Sprache des jüdisch-christlichen Messianismus für ein interessantes, sachgemäßes Ausdrucksmittel – auch in unserem zeitgemäßen anthropozentrischen Weltbild und autonomen Menschenbild – der konkreten Utopie der Erlösung; jenseits, besser: diesseits allen Problemlösens, das Wissenschaft und Alltag kennzeichnet. Daher spreche ich von der „Dynamik des Vorläufigen“ (im Gegensatz zu Siegfried J. Schmidt, der von „Endgültigkeit der Vorläufigkeit“ spricht; vgl. sein gleichnamiges Buch: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit. Prozessualität als Argumentationsstrategie, Weilerswist 2010)

Es lebe die Europäische Republik!

Phantasie für Europa! Daher am Samstag, 10. November, 16 Uhr: Raus auf den Balkon!

Am kommenden Samstagnachmittag, den 10. November 2018, werde ich auf unseren, zugegeben mickrigen Balkon in Metelen hinaustreten und ausrufen: Es lebe die Europäische Republik! Ich weiß, das wird niemanden interessieren und niemand wahrnehmen, aber ich schließe mich persönlich und privat einer europaweiten Aktion an, die Ulrike Guérot, eine deutsche Publizistin, und der international bekannte Schriftsteller Robert Menasse, geboren 1954 in Wien, ins Leben gerufen haben.

In ihrem Manifest heißt es: „Heute, am 10. November 2018, um 16 Uhr, 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges, der auf Jahrzehnte die europäische Zivilisation zerstört hatte, gedenken wir nicht nur der Geschichte, sondern nehmen unsere Zukunft selbst in die Hand. Es ist Zeit, das Versprechen Europas zu verwirklichen und sich an die Gründungsidee des europäischen Einigungsprojekts zu erinnern.“

Und zu Ende dieses Manifestes heißt es: „An die Stelle der Souveränität der Staaten tritt hiermit die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger. Wir begründen die Europäische Republik auf dem Grundsatz der allgemeinen politischen Gleichheit jenseits von Nationalität und Herkunft. Die konstitutionellen Träger der europäischen Republik sind die Städte und Regionen.“

Zugegeben, das Balkon-Projekt ist eine symbolische Geste, wie auch die Forderungen des Manifestes konkrete Utopie sind. Aber mit allen Mitteln, auch den unmöglichsten, müssen wir für ein demokratisches Europa mit einer europäischen Regierung und einem Europäischen Parlament werben und uns für die Weiterentwicklung einsetzen. Die sog. Mönchskrankheit der Schläfrigkeit am Mittag, also der geistigen Trägheit, von der Jürgen Habermas vor kurzem in seiner Preisrede zum Deutsch-Französischen Medienpreis (am 4. Juli 2018 in Berlin) gesprochen hat, muss dringend überwunden werden.

Übrigens erinnert der 10. November nicht nur an das Ende des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren, sondern auch daran, dass einen Tag zuvor um 14 Uhr der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Balkon des Berliner Reichstags die Weimarer Republik ausgerufen hat und Friedrich Ebert Reichskanzler wurde. Und es sollte nicht vergessen werden, dass zwei Stunden später, um 16 Uhr, vor dem Berliner Schloss Karl Liebknecht die sozialistische Republik ausgerufen hat; aber dies blieb – trotz Münchener Räterepublik und Spartakusaufstand – auf Dauer wirkungslos, schwächte aber die Weimarer Demokratie.

Sicher ist das EUROPEAN BALCONY PROJECT nur symbolisch zu verstehen, aber auch so müssen die nationalen Verhältnisse und Fixierungen „zum Tanzen“ gebracht werden. Daher wünsche ich mir, dass über dieses Projekt in allen Gremien, Parteien und Zirkeln diskutiert wird.

Und zum Schluss meiner Aufforderung, sich auf dem Balkon zu zeigen oder, wenn das nicht möglich ist, vor die Tür zu treten, stelle ich klar, dass auch in einer Europäischen Republik konstitutionelle Monarchien oder die Französische Republik als regionale Institutionen erhalten bleiben. Ich phantasiere, dass auch die Dänische Königin oder der spanische König auf ihren Balkon treten und ausrufen, jeweils in ihrer Sprache: „Es lebe die Europäische Republik!“

Zu weiteren Informationen: https://europeanbalconyproject.eu/en/

Überlegungen zu KAIROS oder der AUGENBLICK (nach Kierkegaard)

Søren Kierkegaard brachte die Zeitschrift „Augenblick“ (dänisch Ojeblikket) 1855 in Kopenhagen heraus; er war ihr Redakteur und einziger Beitragsschreiber. Neun Nummern erschienen in diesem Jahr 1855; die zehnte erst 26 Jahre nach dem Tode Kierkegaards (im November 1855). 1988 ist diese „Zeitschrift“ DER AUGENBLICK auf Deutsch in Nördlingen erschienen; hrsg. Von H.M. Enzensberger in seiner Reihe „Die andere Bibliothek“.

Ich wurde durch einen Vortrag in der letzten Woche, in dem ein Bogen von Hegel und Marx zu Kierkegaard geschlagen wurde, an diesen exzentrischen dänischen Theologen und Existenzphilosophen erinnert und hoffte, dass der von mir gebrauchte Begriff „kairos“ (im Gegensatz zu chronos) bei Kierkegaard eine spezielle Auslegung fände. Zunächst fand ich die mir bekannte (und im Alter gesteigerte) Polemik Kierkegaards gegen das verwaltete Christentum und dessen Repräsentanten: die dänisch-lutherische Staatskirche und ihre Bischöfe und Pfarrer. Diese ätzende Kritik ist der „rote Faden“ aller Beiträge dieser fiktiven Zeitschrift.

In dem Beitrag vom 29. Mai 1855 beantwortet Kierkegaard die Frage: Wann ist der „Augenblick“?

„Denn der Augenblick ist eben das, was nicht in den Umständen liegt, das Neue, der Einschlag der Ewigkeit (Hervorhebung von mir) – aber im selben Nu beherrscht es die Umstände in dem Grade, dass es trügerischerweise (darauf berechnet, weltliche Klugheit und Mittelmäßigkeit zum Narren zu halten) so aussieht, als ginge der Augenblick aus den Umständen hervor.“

Im weiteren nennt Kierkegaard den Augenblick das „Geschenk des Himmels“ und schließt seine Antwort mit der für ihn typischen überspitzten Aussage:

„Weltliche Klugheit ist ewig ausgeschlossen, im Himmel mehr verachtet und verabscheut als alle Laster und Verbrechen, wie sie ist; denn sie gehört ihrem Wesen nach von allem am meisten dieser elenden Welt an und ist am meisten von allen davon entfernt, mit dem Himmel und dem Ewigen zu tun zu haben.“ (a.a.O. S. 254)

Hier wird das „Lob der Torheit“ in der Kierkegaardschen Fassung besungen; anders als bei Erasmus von Rotterdam, obwohl sich beide auch auf Paulus aus Tarsus beziehen. Kierkegaard verweist in seinen Beiträgen zum „Augenblick“ auf die Tradition: er beginnt mit seinem „Kronzeugen“ Sokrates (ich weiß, dass ich nichts weiß) und kulminiert in der Demontage der Klugheit jüdischer Schriftgelehrter durch Jesus aus Nazaret.

Ich ergänze die Tradition dieser Denkschule und ihrer Lebenspraxis mit Hinweis auf Diogenes und die Kyniker aus hellenistisch-jüdisch-römischer Zeit. Heutzutage formuliert Bernhard Lang (2015):

„Wir können Jesus als eine Diogenesgestalt sehen. Er verdient einen Platz unter den Philosophen der antiken Welt“. (S. 46, B. Lang: Jesus, der Philosoph, Gütersloh 2015; vgl. Bernhard Lang: Jesus, der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, München 2010) Und auch die Vision und Botschaft des Paulus aus Tarsus in Kleinasien – in seiner Kenntnis und Auseinandersetzung mit der Stoa und den Kynikern seiner Zeit gehören in diesen Kontext.

Ich kehre zu der Auffassung von Kierkegaard zurück, Ewigkeit (oder Erlösung) nicht als chronologischen Wende- oder Endpunkt zu deuten, oder – aus der jüdisch-christlich-apokalyptischer Tradition heraus – als Wiederkunft Christi am Ende der Zeit chronologisch misszuverstehen. Kierkegaard spricht vom „Einschlag der Ewigkeit“, der nicht aus den „Umständen“ der Geschichte erklärt werden kann, sondern ein Ereignis sui generis ist.

Aber anders als Kierkegaard ziehe ich aus diesem Ereignis eine entgegengesetzte Konsequenz: dieser „Einschlag“ bedeutet nicht Abschied oder Trennung von der „elenden Welt“, sondern metanoia, Metamorphose. Entweltlichung ist keine Weltflucht, sondern im Sinne Jesu und seines Botschafters Paulus Befreiung – im Sinne der Nachfolge Jesu, unkonventionell, als radikale Menschenliebe. Ich erkenne im Neuen Testament, in der Botschaft wie im Verhalten Jesu, als auch in Theorie und Praxis seines Botschafters Paulus keine dualistische Tendenz (wie z.B. in Teilen der Gnosis oder des Manichäismus).

Menschen, die das Ereignis vom Einschlag der Ewigkeit erfahren und bekennen, sind befreit, passen sich dem herrschenden Äon dieser Welt nicht an, sondern schaffen eine neue Welt in der bestehenden. Paulus nennt dieses Verhalten in Theorie und Praxis im Römerbrief einen vernünftigen Gottesdienst (latreia logiké): „Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt, sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr zu prüfen vermögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“ (Röm 12,2)

Kierkegaard ist meiner Überzeugung nach in der Gefahr, dieses Ereignis – ich spreche in anderem Zusammenhang von konkreter Utopie – gnostisch/manichäistisch misszuverstehen. Daher führt seine Position der Entweltlichung in den Rückzug aus der (bösen) Welt und zur Verdammung der Institutionen – nicht zu ihrer Reform.

Herbstgedanken – scheinbar ungeordnet

  1. Ich erfreue mich an Astern; sie dokumentieren im Garten die Farben des Herbstes.
  2. Ich weiß, eher aus dem literarischen Kontext, um Herbstzeitlose (Colchicum autumnale); Gift- und Heilpflanze zugleich.
  3. Vor mir auf meinem Schreibtisch steht das magische Zahlenquadrat aus Dürers Melencolia I aus dem Jahr 1514; wie ein „Wunder“ ergibt jede Summierung den Wert 34.
  4. Das Efeu am Nachbarschuppen ist zunehmend wein- bis blutrot geworden; mein Blick aus dem Fenster bestätigt mir: es ist Herbst. Ein kurzer intensiver Sonnentag, ein zeitiger Sonnenuntergang, eine kühle Nacht – und ich sehne das winterliche, gemütliche Oberbett herbei.

Die Summe dieser Wahrnehmungen und Empfindungen signalisiert mir: Herbstzeit ist Endzeit – und ermöglicht mir, konsequent über Endlichkeit, Ewigkeit und Tod nachzudenken. Daher sitze ich jetzt an meinem Schreibtisch und formuliere die Ergebnisse meiner Reflexion; Nachdenken und Aufschreiben sind meine Passion im Alter und seit jeher meine Leidenschaft – ich weiß, in der Dämmerung beginnt die Eule der Minerva ihren Flug.

Nur wer Endlichkeit und Tod radikal denkt, kann auch Ewigkeit – ein anderes Wort für Erlösung – radikal, also von der Wurzel her denken. Die Hoffnung auf ein besseres Leben „in einer anderen Welt“ ist irrig; chronologisch gesehen ein Unfug.

Um diese Behauptung zu verstehen (und nicht als Produkt meiner herbstlichen Melancholie zu desavouieren), hole ich im Folgenden weit aus:

Ich habe gehört, Rosen können ohne Stacheln gezüchtet werden; ich nenne diese Praxis pervers.

Denn die Rosen ihres Schutzes zu berauben, ist nicht nur unsachgemäß, sondern nimmt ihnen ihr natürliches Sein, ihre Schönheit. Vorsicht im Umgang mit der Natur gehört zur Verantwortung der Menschen als „sterbliche Schöpfer“ (Hannah Arendt). Ich würde es auch ablehnen, Herbstzeitlose ohne Gift zu züchten, denn das ist keine Problemlösung, sondern eine Problemverdrängung durch Manipulation. Abgesehen davon nützt das produzierte Gift den Menschen; es kommt allein auf die Dosis an; die Herbstzeitlose ist auch eine Heilpflanze: sie repräsentiert nicht nur eine Jahreszeit, sondern nutzt auch uns Menschen. Natürlich sind Menschen als autonome Vernunftwesen in der Lage, die Natur zu manipulieren, aber ich werte diese Fähigkeit in diesem Kontext als Missbrauch und nicht als Problemlösung.

Karl R. Popper sah das Leben als einen andauernden Prozess des Problemlösens an, dessen Erkenntnis der Fehlerhaftigkeit den Lernprozess vorantreibt. Aber meiner Überzeugung nach hat die kritische Analyse menschlicher Lernprozesse mehrere Dimensionen: Es geht nicht nur darum, aus eingestandenen Fehlern zu lernen, sondern auch, Gebrauch von Missbrauch zu unterscheiden, und den Gebrauchswert der Dinge zu erkennen und zu schützen, um den der arbeitsteiligen, kapitalistischen Geldwirtschaft geschuldeten Tauschwert zu relativieren; besser noch: in Schach zu halten. Ob der dem Grundgesetz von 1949 entnommene Begriff der „Sozialpflichtigkeit des Eigentums“ dafür eine ausreichende Bewertungsbasis darstellt, wage ich weiterhin zu bezweifeln. Der radikale Unterschied von Privateigentum und gesellschaftlichem „Eigentum“ an Produktionsmitteln (im weiten Sinn) bleibt eine notwendige Basis für Erkenntnis und Handeln.

Ja, lieber Bertolt Brecht, wir leben in finsteren Zeiten, aber das ist weder Zufall, noch Schicksal, sondern wir tragen die Verantwortung für die Zukunft der Menschen und der Natur in der Gegenwart. Und von dieser Verantwortung können wir uns nicht entlasten, sondern müssen sie jetzt und gemeinsam wahrnehmen.

Daher kritisiere ich verschiedene Entlastungsstrategien und Fluchtphantasien grundsätzlich:

  1. Casus non datur: es gibt keinen Zufall, nur unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten, die wir oft falsch (bewusst oder unbewusst) interpretieren.
  2. Unser heutiges anthropozentrisches Weltverständnis (Weltbild) ist irreversibel, ist unüberholbar; weder durch Träume in die Vergangenheit, noch in die Zukunft. Ich wiederhole die Position von Hannah Arendt: wir Menschen sind sterbliche Schöpfer (nicht Geschöpfe!). Das schützt uns nicht grundsätzlich vor Missbrauch, Entfremdung, Verbrechen und Selbstvernichtung, aber wir sind in der Lage, diese Zustände durch Einsicht und Arbeit zu verändern.
  3. Religion wird trotz allen Missbrauchs, allen Aberglaubens und aller Instrumentalisierungen nicht verschwinden, aber die Marxsche Kritik bleibt gültig: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend.“ Die Konsequenz dieses „Doppelcharakters“ (Marx spricht im Anschluss an Hegel von „Aufhebung“) bedeutet für mich die Notwendigkeit der „Übersetzung“ (des Christentums) in eine Strategie konsequenter Menschenliebe.

Daher spreche ich – als aufgeklärter Realist – von der Dynamik des Vorläufigen in der Gegenwart. Ich bin ein Tagträumer des Hier und Jetzt. (Zugegeben, der Begriff des „Tagtraumes“ bedarf der Präzision.) Wir Menschen sind fähig (Kant spricht von der Mündigkeit) und verantwortlich (als Vernunftwesen), die Probleme der Welt (Alltag, Wissenschaft, Schutz der Natur) zu lösen. Vorläufigkeit ist kein Schicksal, ist weder endgültig noch führt sie zwangsläufig in die Verzweiflung. Ihre Dynamik ist erfahrbar (und formulierbar) im Kairos der Erlösung als einer konkreten Utopie.

Herbstzeitlose (3) – Herbstzeit ist Endzeit.

Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden.“ (Hannah Arendt, 1958)

Diese Überzeugung der Hannah Arendt kann ich mir zu eigen machen. Und ich warne vor dem naturalistischen Missverständnis, den Jahreskreislauf der Natur auf die menschliche Gesellschaft und das In-der-Welt-Sein zu übertragen: als Naturwesen erwarten wir – auf den Herbst folgend – den Winter; und nach Dunkelheit und Winterskälte den Frühling und den Sommer. Demgegenüber ist für uns als Vernunftwesen die Zeit des Herbstes Endzeit. Denn der Herbst ist bildhafter Ausdruck für die Situation, in der wir Menschen leben. In Erwartung des Endes, unseres Todes, erfahren wir, wenn wir bewusst leben, die Dynamik des Vorläufigen. Sie verpflichtet uns zur Verantwortung für die Welt, die Gesellschaft, die Mitmenschen und für uns selbst.

Diese Verantwortung ist im Prinzip weder delegierbar noch relativierbar; sie ist eine Konsequenz unserer Autonomie, unserer Freiheit. Diese Freiheit schließt den Missbrauch ein: zu Verbrechen gegen andere, zur Welt- und Selbstzerstörung. Diese Freiheit verpflichtet uns Menschen (als Vernunftwesen), sie zur Welt- und Selbsterhaltung zu gebrauchen. Das Ethos der Menschenliebe und die Anerkennung der Menschenwürde sind Basis-Verpflichtungen, die (vernünftigerweise) nicht relativierbar sind.

Aber diese Verpflichtungen sind nicht naturgegeben; sie bedürfen stetiger Überprüfung und Revision. Das ist der vernünftige Grund („die Welt im Sein zu halten“) menschlichen Verhaltens und Handelns als „sterbliche Schöpfer“. Diese Verpflichtung verlangt Disziplin (Arendt spricht vom „Einrenken“) und lebt von der Utopie der Erlösung.

Diese Verpflichtung (dieses Ethos) kann in einem anthropozentrischen Weltverständnis reflektiert und eingeordnet werden. Dieses heutige Weltbild ist – realistisch verstanden – unüberholbar (das ist mit dem Begriff der „Endzeit“ gemeint); es hat Aufklärung, Autonomie und Verantwortung zur Grundlage (Verstandesgebrauch, Selbständigkeit, Ethik). Daher spreche ich von einem aufgeklärten Realismus.

Dieser Realismus mag in der Vorstellung (oder Phantasie) mancher Philosophen oder Theologen in Frage gestellt oder als unzureichend reflektiert gekennzeichnet werden, aber das von mir entwickelte Konzept eines aufgeklärten Realismus ist die notwendige Voraussetzung für erfolgreiches wissenschaftliches Arbeiten (inklusive des methodischen Atheismus) einerseits, und die Voraussetzung für verantwortliches Handeln und Verhalten andererseits.

Dieses Konzept nenne ich aufgeklärt, da sowohl die Wahrheitsfrage wie der ethische Imperativ kritisch geprüft wurden (bezogen auf metaphysische, religiöse und anthropologische wie sprachkritische Postulate) – und das Gebot der Verantwortung sich aus der Autonomie (Selbstbestimmung) des Menschen herleitet.

In diesem Konzept, das ich hier nur angedeutet habe, verschwindet Religion (als Praxis oder Institution) nicht – im Sinne einer (globalen) Säkularisierung. Ich versuche, religiöse Praxis und die sie legitimierende Sprache zu verstehen und zu übersetzen – in Abgrenzung von allen Formen der religiösen Metaphysik, der Esoterik und des Aberglaubens. Meiner Überzeugung nach können sowohl aufgeklärte Christen (oder Muslime), als auch nachdenkende Atheisten in diesem Konzept des aufgeklärten Realismus übereinstimmen und in der Praxis des Alltags wie der Wissenschaft zusammenarbeiten.

Herbstzeitlose (2)

Warum Karl R. Poppers Denken zu kurz greift.

Der Herbst ist da; das Efeu am Nachbarschuppen färbt sich wein- bis blutrot. Die Nachttemperatur sinkt nahe an den Gefrierpunkt. Ich benötige eine zusätzliche Decke, denn die Sonne wärmt mich nur noch, wenn sie tagsüber scheint.

Ich sitze am Schreibtisch und denke über die Spielarten des Realismus nach: aufgeregt – unaufgeregt, kritisch – unkritisch; aufgeklärt – naiv. Sind die verschiedenen Sprachspiele eine undurchdringliche Wand oder simulieren sie eine Tür oder versteckt sich in ihnen ein verschlossenes Tor zu einer anderen Wirklichkeit?

Und ich greife auf den (veralteten) Karl R. Popper zurück: wir nähern uns der Wahrheit durch die Methode der Falsifikation – endlos – endlicher Weg bis zum Tod. Für Popper ist „alles Leben Problemlösen“ (1991). Wäre dann das Ende des Lebens, der Tod, die Erlösung? Popper erkennt nicht die Dynamik des Vorläufigen. Differenz und Bezug zwischen Chronos und Kairos sind ihm fremd.

Zwar ist alles Vorläufige endlich und alles Endliche vorläufig, aber im endlichen Augenblick scheint die Utopie auf: zeitlose Ewigkeit – ein anderer Ausdruck für Erlösung. Die Herbstzeitlose erinnert an diese dynamische Erfahrung in der Vergänglichkeit des Augenblicks und verweist, ungreifbar und unbegreifbar, auf die radikale Menschwerdung des Göttlichen. Die messianische Vorstellung der Kenosis (im Sprachspiel der Entäußerung bis in die Hinrichtung und der Erhöhung „am Ende der Zeit“, also jenseits aller chronologischen Fixierung) hat die Struktur der konkreten Utopie, kann – in unserem Weltverständnis – als Erlösung jenseits aller Problemlösungen beschrieben, nicht begriffen werden.

Die konkrete Utopie der Erlösung als „Entäußerung“ (Kenosis)

Im Bedenken und Übersetzen (als Versuch) eines urchristlichen Hymnus, den Paulus, der sich wahrscheinlich in Rom im Gefängnis befindet (um das Jahr 59/60 n.Ch.) und der sich als Sklave des Christus Jesus bezeichnet, in seinem Brief an seine Freunde in Philippi (Makedonien), die er als die Heiligen des Christus Jesus kennzeichnet, zitiert (Phil 2, 5-11):

Dies sinnt bei euch, was auch in Christos Jesus, der, als er in Gestalt Gottes war, nicht für Raub hielt das Sein gleich Gott, sondern sich selbst entäußerte, Gestalt eines Sklaven annehmend, in Gleichheit von Menschen geworden; und im Äußeren erfunden wie ein Mensch, demütigte er sich selbst, geworden gehorsam bis zum Tod, zum Tod aber (des) Kreuzes. Deshalb auch erhöhte ihn Gott und schenkte ihm den Namen, der über jedem Namen (ist), damit im Namen von Jesus jedes Knie sich beuge, (der) Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne: Herr (ist) Jesus Christos zur Herrlichkeit Gottes (des) Vaters.“

(Studienübersetzung Münchener Neues Testament, Düsseldorf 1998, 5.A.)

Übersetzung des Urtextes (Koine-Griechisch) ins Deutsche 2007; Zürcher Bibel:

Niedrigkeit und Erhöhung Christi
Seid so gesinnt, wie es eurem Stand in Christus Jesus entspricht:
Er, der doch von göttlichem Wesen war,
hielt nicht, wie an einer Beute daran fest,
Gott gleich zu sein,
sondern gab es preis
und nahm auf sich das Dasein eines Sklaven,
wurde den Menschen ähnlich,
in seiner Erscheinung wie ein Mensch.
Er erniedrigte sich
und wurde gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz.
Deshalb hat Gott ihn auch über alles erhöht
und ihm den Namen verliehen,
der über allen Namen ist,
damit im Namen Jesu
sich beuge jedes Knie,
all derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind,
und jede Zunge bekenne,
dass Jesus Christus der Herr ist,
zur Ehre Gottes, des Vaters.

Wer war Paulus von Tarsus (Kilikien; heute südl. Türkei)?

P. war, soweit wir heute wissen, ein griechisch gebildeter jüdischer Gelehrter, wie (damals üblich) auch ein ausgebildeter Zeltmacher, Anhänger des messianischen Judentums seiner Zeit, Römischer Bürger, Kenner der hellenistischen Philosophie seiner Zeit, Bekenner des Messias Jesus aus Nazaret, Botschafter und erster Theologe des Urchristentums, das sich „weltweit“ (also im Römischen Reich) entwickelte.

In diesem Hymnus wird auf sehr spezielle und konkrete Weise die „Menschwerdung Gottes“ im und durch den „Messias Jesus“ aus Nazaret verkündet, natürlich unter den Erfahrungen und Bedingungen eines theozentrischen (wie auch durch das römische Reich geprägten) Weltbildes.

Mein Problem und meine Frage ist: wie kann die Botschaft des Paulus, und insbesondere der von ihm zitierte „Hymnus“ sinnvoll unter den Bedingungen der anthropozentrischen Welterfahrung und den bewährten Methoden moderner Problemlösung („als wenn es Gott nicht gäbe“), also im „Zeitalter der Aufklärung und Wissenschaft“ übersetzt und verstanden werden?

Ich setze voraus (was ich anderswo erläutert habe), dass unter den Bedingungen der Aufklärung (Kritik jeder Metaphysik, Religionskritik, Sprachkritik) „Erlösung“ der Welt (als Grenzerfahrung allen vorläufigen Problemlösens) denkbar und erfahrbar, aber nicht begreifbar ist. „Erlösung“ ist daher nur als „Utopie“ beschreibbar.

Ich übersetze den von Paulus zitierten „Kenosis-Hymnus“ in ein heutiges Sprachspiel. Unsere Sprachen kennen nicht nur „logische“ Sprachspiele, die widerspruchsfrei und begreifbar sind, sondern auch Sprachspiele, die die Struktur von „Oxymora“ haben und auf spezielle Weise erfahrbar sind (auch dies habe ich anderswo erläutert).

Ein erster Versuch:

Erlösung als konkrete Utopie

Ein konkreter Mensch
prophezeit das Ende der Zeit (als kairos nicht chronos),
nicht als mächtiger Herrscher (König oder Kaiser oder Führer),
der das Paradies auf Erden verspricht;
sondern als hingerichteter Verbrecher (in der Sicht und Macht der Mächtigen)
Vertrauen erwartet (ohne es erzwingen zu können oder wollen).

Wer dem Gekreuzigten als „Messias“ vertraut (pistis),
der kann befreit und ohne Zwänge denken und handeln,
der muss sich nicht den herrschenden Gesetzen der Macht anpassen,
sondern kann und muss prüfen, was gut und gerecht ist.

In diesem Sinn ist er befreit und bereit,
Gerechtigkeit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit zu realisieren.
Selbst der Tod hat keine Macht mehr über ihn,
obwohl er als Naturwesen sterblich bleibt.

Zum Verhältnis von Macht und Gewalt, Gebrauch und Missbrauch

Unkontrollierte Macht schlägt in Gewalt um. Gewalt realisiert sich in Zerstörung und Selbstzerstörung; in Hass und Vernichtung. Der Gebrauch der Macht kann in Missbrauch umschlagen; das ist der Preis der Freiheit.

Menschen sind Vernunft- und Naturwesen. Sie sind, wie Hannah Arendt sagt: sterbliche Schöpfer.

Sie können ihre Macht gebrauchen und missbrauchen. Sie allein sind verantwortlich für Verbrechen, aber auch für die Durchsetzung der Menschenwürde und Menschenrechte und die Gestaltung gerechter gesellschaftlicher Verhältnisse.

Menschen (als Vernunftwesen) haben die dauernde Verpflichtung und Aufgabe, Menschenwürde für alle und Pflege der Natur durchzusetzen. Als Vernunftwesen sind sie in der Lage und dafür verantwortlich, gerechte Lebensverhältnisse zu realisieren und Missbrauch zu verhindern bzw. einzugrenzen. Menschen sind daher dazu bestimmt (im Sinne der Selbstbestimmung), Probleme zu erkennen und zu lösen; Erlösung ist eine (notwendige) Utopie.

Ein zweiter Versuch:

Jesus Christus Erlöser (Erlösung gedacht in einer und durch eine konkrete Person), diese Botschaft (in Form einer konkreten Utopie) setzt auf Vertrauen; und dieses Vertrauen (pistis) verheißt zeitloses Leben (im Sinne des kairos). Diese konkrete Hoffnung wird existenziell erfahren und ermöglicht, Probleme in der Dynamik des Vorläufigen zu lösen.

Zwar bleiben alle Lösungswege und Ergebnisse bzw. Entscheidungen an Endlichkeit und Irrtum des menschlichen Daseins gebunden, aber in der „Nachfolge Christi“ sind sie weder Zufall noch Schicksal, das in Vernichtung oder Auflösung endet, sondern ermöglichen Korrektur und Umkehr.

Zwar wird die Differenz zwischen Erfahrung der Umkehr oder Korrektur (metanoia) und Erkenntnis des Begriffenen nicht aufgehoben, aber für die Zeit des irdischen Lebens im Lichte der Zusage des ewigen Lebens relativiert.

„Ewiges Leben“ (ein Oxymoron höchster Stufe) ist als Synonym für „Erlösung“ das entscheidende Sprachspiel eines „Christen“; es beschreibt die existenzielle Erfahrung der Zusage der Erlösung (als eines Geschenkes, das weder erkauft noch erzwungen werden kann). Die Macht dieser Zusage gegenüber den Bedingungen begenzten Lebens (als Naturwesen) kann weder aufgehoben, noch kann diese konkrete Utopie in menschlicher Sprache „begriffen“ werden. Aber dieses „Geschenk“ wurde und wird in einer radikalen Form sprachlich beschrieben, die alle theologischen Vorstellungen „sprengt“: Gott ist Liebe (theòs agápe estín).

Im ersten Johannesbrief wird der Gottesbegriff (im Lichte der Messias-Botschaft) entziffert, und die Gottesvorstellungen des theozentrischen Weltbildes werden so radikal zerlegt, dass diese Aussage auch für uns heutige Menschen verstehbar und bedeutsam sein kann: „Gott“ ist ein synsemantischer Ausdruck für konsequente Menschenliebe. So zumindest übersetze ich das Sprachspiel der „johanneischen Schule“.

p.s.

Diese Reflexion bleibt grenzwertig, da ich nicht ausreichend geklärt habe, wie das Verhältnis von begreifenden Sprachspielen und Sprachspielen, die existenzielle Erfahrungen beschreiben, sinnvoll zu klären ist. Aber dieses spezifische Verhältnis versuche ich in der „Formel“ von der Dynamik des Vorläufigen auszusprechen.

Zusammenfassende Übersetzung:

Erlösung in der Dynamik des Vorläufigen

„Jesus Christus Erlöser“ –
diese Botschaft setzt auf Vertrauen
und verheißt zeitloses Leben.

In der Dynamik des Vorläufigen
können Probleme gelöst werden;
gebunden an Irrtum und Endlichkeit.

In der Nachfolge Christi
herrscht weder Zufall noch Schicksal;
sondern Korrektur und Umkehr sind möglich.

Ewiges Leben steht für Erlösung;
Ein Geschenk, das alle frommen Vorstellungen sprengt:
Gott ist Liebe.

Colchicum autumnale – Herbstzeitlose (1)

In memoriam Georg Trakl

Bei der Suche des Umfeldes der Herbstzeitlose fand ich Georg Trakls Gedichtband aus der Insel-Bücherei Gesang des Abgeschiedenen; den habe ich im März 1962 (ich war gerade 19 Jahre alt) gekauft (für 3 DM). Beim Nachlesen der Herbst-Gedichte erinnere ich mich an damals und meine Herbstzeit-Melancholie.

Das Efeu am verwunschenen und zerfallenden Haus uns gegenüber zeigt drei gerötete Blätter: Zeichen, dass der Herbst – nach einem intensiven Sommer – beginnt. Über Tag scheint die Sonne, die noch wärmt; nachts wird es kühl; das beruhigt den Schlaf.

Mehrfach am Tag blicke ich von meinem Kurzzeit-Ausruh-Sessel auf die verlassene Werkstatt im Grundstück gegenüber. Vor Zeiten sind dort Lampen hergestellt und später Druckerzeugnisse produziert worden. Heute wuchert dort das Unkraut (ich weiß: ein ökologisch unkorrekter Begriff).

Dennoch: die unbearbeitete Herrschaft der Hinterhof-Natur zeigt ihre Spuren – und das beruhigt mich; die Tage der Hitze und der Ermattung sind hinter uns. Weinrot wird die Farbe des Herbstes und der verbrannte Rasen erholt sich.

Gestern Nachmittag habe ich Macbeth von Shakespeare im Kloster Bentlage erlebt: eine Burleske im Sonnenuntergang unter freiem Himmel auf dem Klostergelände. Die Zuschauer waren begeistert vom ständigen Rollenwechsel der vier Schauspieler. Aber ich frage mich: lässt sich eine politisch motivierte Mordserie in einer Theater-Burleske darstellen und unter völliger Vernachlässigung der distanzierten, altenglischen, metrisch gegliederten Shakespeare-Sprache aufführen? Was bedeutet die schicksalhafte Vorhersage der drei Hexen für das mörderische Verhalten unseres Helden?

Auch ich behaupte: casus non datur. Es gibt keinen Zufall, sondern nur Wahrscheinlichkeitskonstruktionen. Das Schicksal, die prophetisch verkündete Vorsehung determinieren nicht, aber sie haben eine strategische wie legitimierende Bedeutung. Die Gedanken sind verantwortungslos frei, daher bedürfen sie der ständigen Disziplinierung, auch wenn die Problemlösungen fehlerhaft und vorläufig bleiben.

Wer in der Zeit des Herbstes an die Herbstzeitlose denkt, sie sich als Symbol des nahenden Winters phantasiert, sollte nicht vergessen: Die Herbstzeitlose ist eine Giftpflanze. Zum Glück ist die Melancholie vorübergehend und das Ehepaar Macbeth ist nicht das Ende der Geschichte.

Reflexionen in Erinnerung an die Ostseekreuzfahrt im August 2018

Der Sturm auf den Winterpalast – zweifach

Hegel, so wird Karl Marx zitiert, bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Ich vermute, die Wirklichkeit kann komplizierter und komplexer sein.

Als Beispiel nenne ich die Geschichte des zaristischen Winterpalais in St. Petersburg: 1917 wurde es innerhalb der Russischen Revolution von den Bolschewiki übernommen; später hochstilisiert als „Sturm auf den Winterpalast“. Im August 2018 erlebte ich die Eroberung der Eremitage durch den Massentourismus; denn heute ist der Winterpalast – in all seiner goldenen Pracht – Teil der Eremitage, des größten Kunstmuseums – weltweit. War das Geschehen 1917 eine „Tragödie“ und der heutige – mehr oder weniger gesteuerte Massenansturm von Touristen und Touristengruppen – in ihren zahllosen Bussen – eine „Farce“?

Die Entmachtung der Kerenski-Regierung verlief relativ problemlos, auch wenn der Kreuzer „Aurora“ im Hafen einige ungezielte Schüsse abgab; sprachlich „aufgeputscht“ in Anlehnung an den „Sturm auf die Bastille“ zu Beginn der Französischen Revolution. Und das heutige „Durchschleusen“ von zahllosen Touristen hat mit Kunstbetrachtung und Museumspädagogik nichts zu tun, sondern erlaubt bestenfalls ein Dauerstaunen über die Prachtentfaltung und ängstliche Blicke, um die eigene Gruppe (Nr. 6 rot oder Nr. 76 weiß) nicht aus den Augen zu verlieren.

Auch ich werde mein Verhalten später rechtfertigen: Das muss man gesehen haben. Der Zweck heiligt die touristischen Zwangsmittel. Und wie bemerkte der ältere, perfekt deutsch sprechende Reiseführer, als er die Namensänderungen dieser wunderschönen Stadt auf satirische Weise kommentierte: in einigen Jahren sehen wir uns in „Putingrad“ wieder.

Mister Bitter Lemon, der schlafende Zieten

Ich liebe nachmittags an Bord den kleinen Beobachterstatus: Eckplatz, rückenfrei, Blick aufs Meer, Blick auf die wenigen, vorbeigehenden Mitreisenden und den eilfertigen, überfreundlichen Steward. Das war für mehrere Tage mein Aufschreiberplatz in der Galerie neben dem Captains-Club auf dem Promenadendeck. Der Blick aufs Meer wirkte sich sich beruhigend aus; meine Gehirnzellen konnten konzentriert arbeiten, während die Augen sich zeitweilig schlossen – soweit meine Selbstwahrnehmung.

Der Steward schreckte mich auf: „Hallo, Mister Bitter Lemon“, denn er wusste, was ich am Nachmittag trinke, um meine Konzentration zu festigen. Am Horizont sah ich einige Schiffe und einen dünnen Streifen Land; wir durchquerten den finnischen Meerbusen Richtung Stockholm.

Beim Abendessen wurde mir vorgehalten, auf dem Promenadendeck eingeschlafen zu sein; und als Beweis zeigte I. ein Foto, das sie mit ihrem Handy aufgenommen hatte – ohne dass ich irgendetwas bemerkt hatte.

Ich erinnerte mich an den schlafenden Zieten in der Tabakrunde Friedrich II. und unterstelle, dass er als erfolgreicher General an der Seite des Großen Friedrich auch im Schlaf, also in seinem inneren Bewusstsein seine Strategien und Taktiken nachzeichnete, während er für den äußeren Beobachter schlief. Vielleicht war das der innere Grund, warum Friedrich den Schlaf seines väterlichen Freundes duldete.

Ich rechtfertige mein inneres, elitäres Bewusstsein mit der Notwendigkeit des Beobachter-Status als Phänomenologe; Stichwort: Epochè. Ich verbinde die äußere wie innere Beobachter-Rolle mit der kritischen Einschätzung voreiligen politischen Engagements. Der Beobachter-Status – als Grundlage der Analyse der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse – zeigt sich in einer präzisen Urteilsenthaltung, die ein vorschnelles, noch so gut gemeintes Engagement verbietet; dies geht gerade engagierten Politikerinnen und Politikern, die meine Sympathie haben, ab.

Einerseits macht das Engagement sympathisch und auch solidarisch, andererseits führt dieses Verhalten zu vorschnellen Urteilen bzw. Entscheidungen. Ein während der Kreuzfahrt kontrovers diskutiertes Beispiel ist A‘s Traum von einer „Europäischen Republik“. Der Begriff „Republik“ kann zu Kontroversen mit „konstitutionellen Monarchien“ in Europa führen, deren demokratische Struktur unzweifelhaft ist. Daher bleibe ich bei dem Projekt „Vereinigte Staaten von Europa“ und unterscheide mich in der Sache nicht; es geht darum, supranationale Strukturen weiter zu entwickeln, die zu mehr Demokratie, Mitbestimmung und Chancengleichheit führen. Dieser notwendige kurzfristige, mittelfristige und langfristige Prozess darf nicht durch Kontroversen „am Rande“ verzögert bzw. ausgebremst werden.

In einer konsequenten Strategie zur quantitativen wie qualitativen Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse in ganz Europa muss nicht nur – taktisch klug – zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Lösungen unterschieden werden (die sich nicht behindern oder sogar ausschließen dürfen), sondern auch ablenkende Vorschläge und Kontroversen müssen vermieden werden, die das Ziel von Demokratisierung, Gewaltenteilung und Chancengleichheit in allen Ländern und Regionen Europas ausbremsen.

Daher ist in meiner Zielvorstellung, in meiner „Utopie“ die Methode der Epochè ein notwendiges Element, Problemlösungen voranzutreiben, ohne unüberlegt zu handeln. Symbol dieser Methode ist die Eule der Minerva, die in der Dämmerung ihren Flug beginnt und gerade in dieser Zwischenzeit Blick und Überblick bewahrt. Sie steht nicht im Widerspruch zum Gallischen Hahn, der in der Morgenröte seinen Schrei und seine Aktion beginnt. Zwar ist er wachsam und agil, aber er kann nicht (oder kaum) fliegen.

Wie kehre ich von meiner impliziten Kritik der revolutionären Ungeduld zurück zum Schlafenden Zieten? Nun weiß ich es dank der Sprachspiele: aus dem schlafenden Zieten wird der Zieten aus dem Busch. Wir schlafen nicht, wir konzentrieren uns auf unseren Tagtraum und vergessen den Hahnenschrei nicht – manchmal mit Hilfe einer Flasche Bitter Lemon.

Von Zieten aus dem Busch

 Auf dem Promenadendeck
der MS Astor ostseewärts
saß täglich ein alter Mann,
der trank in der Captain‘s Lounge
Bitter Lemon.

Er erinnerte (sich) an
den schlafenden von Zieten
in der Tabakrunde
des alten Friedrich 2.

Zieten aus dem Busch.
Preußens Gloria,
Preußens Untergang.

Transzendentale Apperzeption

Ich saß auf einem Stein am Fuß des Denkmals für den Markgrafen Albrecht von Brandenburg und blickte auf das Grabmal Immanuel Kants an der Außenmauer des Königsberger Doms, eingerahmt durch eine russische Säulenhalle. Was ging mir durch den Kopf (nicht durch den Magen)? Kant, komplizierter Aufklärer, kein hitziger Franzose; preußisch diszipliniert, 1804 in Königsberg (heute Kaliningrad) gestorben. Hier hat er sein Leben lang gelebt, gedacht und gearbeitet.

Dennoch schon in seiner Zeit weltberühmt, aber er war kein Säulenheiliger. Sowjetische Heiligenverehrung hätte er zutiefst abgelehnt. Der Markgraf Albert von Brandenburg hatte 1544 die Universität gegründet. Er konnte nicht ahnen, dass ein Professor seiner Albertina die Metaphysik aus den Angeln heben würde; und dieser Kant seine drei schwer verdaulichen Kritiken (der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft) aufschriebe, um die Philosophie zu revolutionieren.

Marx, Freud, Husserl und Wittgenstein sind ohne seine Leistung nicht denkbar. Ich verzichte darauf, in dieser Reihung Hegel zu nennen, denn es ist schwer genug, ihn vom Kopf auf die Füße zu stellen (oder umgekehrt?).

Hastig verlasse ich Grab- und Denkmal, da die Abfahrt des Busses bevorsteht und verwerfe den elitären und unnützen Gedanken, im Bus meine Mitreisenden zu fragen, was „transzendentale Apperzeption“ bei Kant bedeutet. Nein, es bleibt die bescheidene Quizfrage, wie Kants langjähriger Kammerdiener mit Namen hieß. Da müsste uns ein Licht aufgehen! Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten.

p.s. Kants Diener hieß „Lampe“.

Schein und Sein im Kapitalismus der Gründerjahre

Ich liebe den Bauhausstil des 20. Jahrhunderts: die Funktion der Häuser und Wohnungen und der Gebrauchswert der Dinge des Alltags zeigen Stringenz und schlichte Eleganz. Ich weiß, die ästhetische Einheit von Tausch- und Gebrauchswert bleibt in der kapitalistischen Produktionsweise eine (schöne) Illusion.

Demgegenüber demonstriert der Jugendstil – zumindest an den Fassaden der Häuser – für den, der „dahinter“ blickt, den Gegensatz von Schein (der Fassaden) und Sein (Wohnquantität und -qualität).

Dies erkannte ich in Riga, der Stadt des Jugendstils: eine straßenweite Stuck-Explosion und Expansion; für mich ein (schön anzuschauender) „Rückfall“ in Manierismus und Rokoko.

Die Reiseführerin erzählte, dass die Architekten des Jugendstils zunächst das Dekor und die Pracht der Außenfassaden ihrer Häuser planten und in Konkurrenz zueinander realisierten, während die Innen- und Hinterhöfe sowie die Wohnungen bestenfalls funktional, aber ohne jede „Verzierung“ hergestellt wurden. Zwar wurden keine potemkinschen Dörfer entworfen (wie einem Liebhaber der Zarin Katharina unterstellt wird), aber der Gegensatz von Schein (zur Schaustellung) und Sein (Wohnraumbeschaffung angesichts boomender Industrie und überregionalen Handels) ist belegbar.

Ich erinnerte mich an die Handelshäuser in Leipzig – mit ihren goldenen Fassaden und kunstvoll dekorierten Innenhöfen und denke über die Entwicklungsphasen des Kapitalismus nach: vom frühneuzeitlichen Handelskapital der Hanse (und ihren Bauten) bis zum Industrie-Kapitalismus und der heutigen Rekonstruktion vergangener Zeiten für die Selbstdarstellung und den Massentourismus.

Ästhetische Erfahrung bedarf immer der Aufklärung über das Verhältnis von Sein und Schein in der jeweiligen Produktionsweise einer Gesellschaft. Aber ich bleibe dabei: es gibt heutzutage elegantere Darstellungsformen dieses Verhältnisses von Tausch- und Gebrauchswert – und unweigerlich der Einbruch der Realität durch Zerstörung oder Zerfall.