Zum Reformationstag 2022: Im Anfang war das Gepräch – sermo oder verbum?

Evangelium secundum Johannem. Prologus 1,1-18:

Hieronymus/Vulgata (nach 383):

In principio erat Verbum et Verbum erat apud Deum, et Deus erat Verbum.

… Et Verbum caro factum est et habitavit in nobis.

Zürcher Bibel (2007):

Im Anfang war das Wort, der Logos und der Logos war bei Gott. … Und das Wort, der Logos, wurde Fleisch und wohnte unter uns.

Martin Luther (1545):

Im Anfang war das Wort und das Wort war bey Gott. … Und das Wort ward Fleisch und wonet unter uns.

Der primäre Sinn der Sprache liegt im Mit-teilen, nicht im Benennen. Das Benennen dessen, was ist oder nicht ist, ergibt sich aus dem Ziel des Mitteilens, Wirksamkeit, Klarheit oder Eindeutigkeit herzustellen. Im Anfang war das Gespräch (nicht zwingend chronologisch gemeint), nicht das Wort. Auch deswegen übersetzt Erasmus von Rotterdam (vor 1496 – 1536) vorsichtig – und nur in einigen Varianten des Neuen Testamentes den griechischen Begriff logos (aus dem Prolog des Evangeliums nach Johannes) mit sermo und nicht mit verbum.

Ich versuche, die oben zitierten zwei Verse unter den Bedingungen heutiger Sprache und unter den Bedingungen des anthropologischen Weltverständnisses zu übersetzen:

Grundlage dessen, was ist und was nicht ist, ist dialogischer Struktur und daher (nur) im Gespräch sinn-voll mitteilbar. Dieser grundlegende Sinn wurde durch einen Menschen in Praxis und Gespräch konkret mitteilbar; als konkrete Utopie der Erlösung durch Verhalten und Dialog des Messias Jesus aus Nazaret erfahr- und erzählbar.

Die Mitteilbarkeit der Erlösung (als unerzwingbare und unbegreifbare Grundlage alles Problemlösens), also Erlösung als konkrete Utopie (im religiösen Sprachspiel: Offenbarung) hat die sprachliche Struktur eines Dialoges, nicht eines Dogmas. Dogmen grenzen bestenfalls gegen Fehldeutungen oder Missverständnisse ab; der Dialog will und kann überzeugen.

In der jüdischen JHW-Erfahrung ist GOTT primär kein transzendenter Schöpfergott (der Schöpfungsmythos ist sekundär), sondern JHW steht im dauernden Dialog, in der dauernden Auseinandersetzung mit seinem Volk; es geht um Orientierung und Umkehr im Exodus.

Die lateinische Übersetzung „verbum“ für logos steht in der Gefahr, die dialogische Struktur der Logos-Aussage zu übersehen und in die – situativ notwendige, aber nicht ausreichende – Engführung dogmatischer Aussagen zu führen.

Dies hat der spracherfahrene Humanist Erasmus sicher erkannt und auch deshalb übersetzt er griech. logos mit lat. sermo. Aber Erasmus ist auch vorsichtig, denn er weiß, dass es sich bei der Übersetzung in „verbum“ nicht nur um die Reflexion eines „Kirchenvaters“ im vierten Jahrhundert handelt, sondern auch um den sakrosankten Vulgata-Text, der auf dem späteren Trienter Konzil nochmals als Offenbarungstext fixiert wurde.

Ich vermute, Martin Luther kannte die Übersetzungsvariante bei seiner Arbeit auf der Wartburg, aber sie entsprach weder seiner offenbarungstheologischen Auffassung, noch seiner Frömmigkeitspraxis; er konnte logos nicht mit sermo/Gespräch übersetzen.

Luther war kein Humanist und Erasmus wurde post mortem kirchlicherseits verdammt: seine Schriften wurden auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Aber im Zeitalter der Aufklärung unter den Bedingungen des anthropologischen Weltbildes muss und kann über die Übersetzung des Erasmus von Rotterdam nachgedacht und ihr Sinn erkannt werden: „im Anfang war das Gespräch, der Dialog, der Logos.“

Ein fatales Missverständnis: Die Differenz zwischen messianischem Bekenntnis und kirchlicher Institution

In einem Gastkommentar der NZZ (13. August 2022) behauptet der ehemalige Generalvikar des Bistums Chur, Martin Grichting, dass der „Synodale Weg“ der römisch-katholischen Kirche in Deutschland ein „Irrweg“ sei, der zu einer (weiteren) Kirchenspaltung führe, so dass sich schon jetzt zwei Bekenntnisse gegenüberstehen. Dabei greift er auf die Erfahrungen der Schweizer Landeskirchen zurück.

Dabei ist für mich klar: Die Praxis wie Legitimation der römisch-katholischen Kirche – als aktuelle Situation einer lang andauernden Ideologie- und Kriminalgeschichte – verlangen unwiderruflich eine rechtliche wie institutionelle Erneuerung. Diese notwendige Reform – übrigens ein Postulat der „ecclesia semper reformanda“ – führt nicht (weder praktisch noch zwingend) zu einem „abgeschwächten“ oder „liberalisierten Bekenntnis“. Sondern im umgekehrten Sinn gilt: das sachgemäße messianische Bekenntnis und seine konsequente und uneingeschränkte Übersetzung (in Theorie und Praxis) erzwingen die Reform der Institution Kirche.

Vordemokratische Macht- und Entscheidungsstrukturen sowie überholte Formen des „Staatskirchentums“ sowie überholte Formen bürokratischer Prachtgestaltung (mit dogmatischen Engführungen des 19. Jahrhunderts) sind ersatzlos abzuschaffen. Dabei sind bezüglich der römisch-katholischen Kirche als weltweiter Organisation die (ebenfalls) weltweit unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen und staatlichen Machtverhältnisse zu beachten, um die Unabhängigkeit wie Wirksamkeit der Kirche – im Interesse der Menschen – herzustellen bzw. zu sichern. So bedürfen der erst historisch spät durchgesetzte Pflichtzölibat und die überholten (der Gegenreformation geschuldeten) Beichtpraktiken, um nur zwei Beispiele zu nennen, dringend der Reform, weil sie die frühchristlichen Bekenntnisse des Christentums verunklaren und das messianische Bekenntnis aller Christen in den Hintergrund drängen, ja verdecken.

Eine entscheidende Aufgabe aller christlichen Kirchen, die sich nicht in Sekten verwandelt haben, bleibt es, das frühchristliche Bekenntnis bis hin zu den verbindlichen „Glaubensbekenntnissen“ („Credo“) in Theorie und Praxis so zu übersetzen, dass das Christentum in der heutigen Welt glaubwürdig bleibt.

Wird der Mangel an Glaubwürdigkeit erkannt, ist die Reform der Institution „Kirche“ überfällig. Dies gilt insbesondere – in der katholischen Kirche in Deutschland – für unaufgearbeitete Missbräuche gegenüber den getauften Mitgliedern, angesichts verordneter Unmündigkeit und politischer Abhängigkeit durch weitergeltende Praktiken des überholten „Staatskirchentums“.

Das messianische Credo der ersten Christen und ihrer Gemeinschaften kann nur unverfälscht erhalten bleiben – ich wiederhole, wenn es in Theorie und Praxis glaubwürdig übersetzt wird, ohne verfälscht oder relativiert zu werden. Das bedeutet auch, es von dogmatischen Engführungen der letzten Jahrhunderte zu befreien, um den Ursprung der Messias-Botschaft zu erhalten und um zu „verstehen“, was „Erlösung“ im 21. Jahrhundert bedeuten kann und muss.

Wer die derzeitige Herrschaftsstruktur der römisch-katholischen Kirche in Frage stellt und im Interesse der Glaubwürdigkeit dieser Institution verändern will und muss, der relativiert nicht die Überzeugung, dass Jesus aus Nazaret der Messias ist, der die Welt erlöst, sondern befreit dieses 2000 Jahre alte Bekenntnis von falschen, missverstandenen Vorstellungen.

Die Übersetzungstreue gegenüber dem jüdischen Messianismus und der kenosis-Überzeugung kann – meiner Überlegung nach – so weit gehen, dass der (methodische) Atheismus als eine Grundlage für das Lösen von Problemen in der heutigen Zeit akzeptiert werden kann. Daher kann der heute lebende homo sapiens Christ sein; im Sinne der konkreten Utopie der Erlösung der Welt.

Die von mir geforderte Übersetzungstreue der messianischen Botschaft, wie sie z.B. in den synoptischen Evangelien durch die spezielle „basileia tou theou“-Verkündung erklärt wird oder von Paulus aus Kleinasien in seiner kenosis-Theologie entwickelt wird oder in den Bekenntnissen der frühen Konzilien („Credo“) formuliert wird, muss einerseits das Abgleiten in Formen des Aberglaubens verhindern, andererseits das Weltverständnis der Aufklärung (von Kant bis Freud) beachten.

Ein gutes Beispiel für die Abwehr von Missverständnissen bezüglich der Kreuzes- und Opfer-Theologie ist meine Argumentation zum Verständnis des Kreuzes in meinem Buch: „Nachdenken aus der Peripherie des Anthropozän. Anhang“, Münster 2023. Die messianische Botschaft kann auch im anthropozentrischen Weltbild sachgemäß gedeutet und erzählt werden.

Gegen das Schwarzsehen und gegen die Verfasser von Untergangsszenarien

Wenn ich Zeitungsartikel in der NZZ und anderswo lese, Essays über die Ablösung der Utopie durch „Strategien der Schadensbegrenzung“, ist die Hoffnung auf ein besseres Leben in Ängstlichkeit umgeschlagen. Es entsteht ein gesellschaftlicher Zustand, der nur noch Schadensbegrenzung zulässt, von der die Feuilletonschreiber nicht wissen, ob diese Strategie das Überleben der Menschheit sichert.

Ich plädiere demgegenüber für eine realistische Erkenntnis der gesellschaftlichen Möglichkeiten der Zukunft. Ich unterscheide in meiner Analyse der Gesellschaft zwischen Naturgeschichte und Menschengeschichte. Diese Unterscheidung verlangt, wenn verantwortlich gedacht und gehandelt wird, eine doppelte Form des Naturschutzes; nämlich die Menschen vor den Gefahren der Natur zu schützen und die Natur vor der Zerstörung und Vernichtungswut verantwortungsloser Menschen zu bewahren.

Diese zweifache Verantwortung des homo praestans ist realistisch, notwendig und ergänzt einander. Der verstärkte Deichbau in den Niederlanden der letzten Jahrzehnte, um das Risiko der Landnahme – 80% unter dem Meeresspiegel – zu rechtfertigen und zu minimieren, ist ein sinnvolles Beispiel für Naturschutz und eine verantwortliche Risikominimierung. Nur so wird der Mensch als „sterblicher Schöpfer“ (H. Arendt) seiner Verantwortung gerecht.

Das Projekt der Aufklärung muss zu Ende gedacht und ihre Abbrüche und Verwerfungen müssen überwunden werden, damit der Prozess der Aufklärung weltweit, nachhaltig, risikominimiert und menschenwürdig weitergeführt werden kann.

Unter der Perspektive einer konsequent durchdachten Aufklärung kann der Mensch am Ende des Anthropozän nicht nur „in Würde“ leben, sondern auch Erlösung als existenzielle Zusage erfahren und als Utopie denken.

Diese Perspektive menschenwürdigen und menschenfreundlichen Zusammenlebens gilt sowohl für mündige Christen wie aufgeklärte Atheisten. Ihre Umsetzung als (neuer) kategorische Imperativ ist die Basis für das Konzept einer Anthropologie der Aufklärung.

Geplante Buchveröffentlichung:

Jürgen Schmitter: Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän. Überlegungen zur Anthropologie der Aufklärung, Münster 2022

Missverständnisse bezüglich des utopischen Denkens

Das utopische Denken ist keine Strategie zur Durchsetzung der Demokratisierung der Gesellschaft oder der allgemeinen Anerkennung und Durchsetzung der Menschenwürde. Nur auf der Basis eines aufgeklärten Realismus können Friedensordnungen durchgesetzt werden und Gesellschaften bestehen, die die Menschenrechte achten und die Risiken der Zerstörung und Vernichtung minimieren: vom Gesundheitsschutz über den Naturschutz bis zum Menschenschutz. Risikominimierung in diesem Sinn ist eine ständige Verpflichtung unter dem (kategorischen) Imperativ, die Menschenwürde zu achten.

Paradiesvorstellungen sind demgegenüber eine gefährliche Illusion. Ich nenne zwei Beispiele: ein verrücktes und ein zeitgemäßes. Meine Zielvorstellung für ein menschenwürdiges Leben sind weder die (scheinbare) Selbstverständlichkeit goldener Wasserhähne – wie in der Utopia-Vorstellung des Thomas Morus, die dort eine zivilisationskritische Funktion hat –, noch eine phantasierte Erde ohne Eingriff der Naturgewalt.

Dies klingt verrückt und meine Aussage bedarf der Klärung, um nicht missverstanden zu werden: Ich wünsche mir kein Paradies auf Erden und kein Ende der „natürlichen“ Evolution. Das erstere wollen Menschen nicht, wenn sie „aufgeklärt“ sind (im Sinne des homo praestans); das weitere können sie nicht, wenn sie aufgeklärte Realisten sind. Die mögliche Selbstzerstörung der Erde ist der Grenzfall, der die Evolutionsgesetze des Kosmos unberührt lässt.

Zunächst kläre ich, warum ich irrige Zielvorstellungen ablehne:

(1) Die Geschichte der goldenen Wasserhähne ist in der Utopia des Thomas Morus nachzulesen, geschrieben in England im Jahr 1517.

In diesem erfundenen Inselstaat bestehen die Instrumente der Wasserversorgung aus Gold, weil dieses Metall für die Inselbewohner seinen spezifischen Wert verlieren soll.

Der Hintergrund dieser Episode wird deutlich: die Faszination des Goldes/des Geldes wird hinterfragt; in diesem fiktiven Paradies ist es wertlos. Die utopische Vorstellung ist eine Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen.

Ich hoffe, es ist einsichtig, dass ich in einem solchen paradiesischen Utopie-Staat nicht leben will. Denn zu einem menschenwürdigen Leben gehört es, ausreichend sauberes Wasser für alle Menschen zu haben. Der Gebrauchswert des Wassers und seine Zufuhr sind entscheidend und nicht der Tauschwert der Ware „Wasser aus goldenen Hähnen“.

(2) In der notwendigen Diskussion um ausreichenden und wirksamen Naturschutz wird oft suggeriert, der Mensch könne die Gewalt und Entwicklung der Naturkräfte in seinem „Wohnraum“, der Erde, abschaffen. Das ist „natürlich“ eine Illusion.

Der Mensch kann sich wirksam vor den Naturkräften auf der Erde schützen und die Natur vor der Zerstörung bzw. vor dem Missbrauch bewahren – mit der möglichen Konsequenz der Selbstzerstörung (z.B. durch selbstverschuldete Erderwärmung).

Das menschliche Bewusstsein kann sehr wohl zwischen durch Menschen erzeugte Katastrophen und kosmischen Veränderungen, die der natürlichen Evolution und ihren Gesetzen entsprechen, unterscheiden und sachgemäß reagieren.

Naturschutz ist aus menschlicher Sicht immer auch Überlebensschutz. Hannah Arendts Aussage, dass der Mensch ein „sterblicher Schöpfer“ sei, bezieht sich meiner Überzeugung nach nicht nur auf die Sterblichkeit der Individuen, sondern auch auf seine Stellung im Universum.

Was bedeutet diese Erkenntnis für das utopische Denken?

Das utopische Denken – als Bewusstseinserweiterung – beendet nicht – im chronologischen Sinne – die Entwicklung des Universums, deren Gesetzmäßigkeiten im Detail noch erforscht werden (z.B. durch die Theorie der „schwarzen Löcher“), und beendet auch nicht die Entwicklung des Lebens auf den Planeten (auch wenn der „homo sapiens“ eine Endform des Lebens auf der Erde darstellen sollte).

Das utopische Denken – so meine begründete Überzeugung – ermöglicht dem menschlichen Bewusstsein – im kairologischen Sinn – Erlösung zu denken und Befreiung – im Sinne der Menschenwürde für alle Menschen durchzusetzen.

Im religiösen Sprachspiel des messianischen Denkens bedeutet diese Möglichkeit – unter den Bedingungen des aufgeklärten Realismus – für menschliches Bewusstsein am Ende des Anthropozän, Erlösung in Form einer konkreten Utopie zu denken und diese existenzielle Erfahrung – kairologisch, nicht chronologisch in Befreiung und Empathie umzusetzen – und davon – im Sprachspiel der Oxymora – zu erzählen.

Von der Notwendigkeit doppelten Naturschutzes und der Kritik an missverständlichen Katastrophenszenarien

Konsequenzen aus dem Gastkommentar in der nzz.ch vom 1. Januar 2022: Apocalypse now? Die Menschheit ist gross, doch das Klima grösser.

These: Der Naturschutz hat eine doppelte Aufgabe: Die Natur, unsere Umwelt, vor ihrer Ausbeutung und Zerstörung zu schützen; aber auch: die Menschheit vor den Naturgewalten zu schützen.

Diese doppelte Aufgabe verlangt eine differenzierte Balance im menschlichen Verhalten; das Bewusstsein der Menschen im Anthropozän ist notwendigerweise das eines, „sterblichen Schöpfertums“; denn „um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden“. (Hannah Arendt, 1958)

Die heutigen Katastrophenszenarien lassen eine klare Unterscheidung zwischen „Naturgeschichte“ und „Menschengeschichte“ vermissen, bzw. lamentieren mit unsachgemäßen Katastrophenszenarien. Diese Verwirrung beruht auch auf der Verwechslung von kosmischer Naturentwicklung, Evolution auf dem Planeten Erde und den Möglichkeiten bzw. Verfehlungen menschlicher Geschichte. Ich spreche in diesem Zusammenhang von den widersprüchlichen Potenzen der Problemlösung des menschlichen Bewusstseins.

Wir Menschen am Ende des Anthropozäns beherrschen nicht die sog. „Naturgeschichte“, auch wenn uns unser Bewusstsein ermöglicht, sowohl die kosmischen Abläufe der Eiszeiten auf der Erde sowie die Evolution des Lebens auf der Erde zunehmend zu erkennen. Als Naturwesen sind die Menschen in diese Naturprozesse einbezogen, ohne sie entscheidend beeinflussen zu können. Auch wird mit Recht gesagt, dass die „heutige Krisenrhetorik verkennt, dass das Menschsein seit je krisenhaft ist“.

Wir Menschen als Naturwesen sind daher in doppelter Weise sterblich: sowohl unsere individuelle Lebenszeit ist begrenzt; wie alles Leben auf der Erde, wenn auch in unterschiedlichen Zeitdimensionen (man vergl. die mögliche Lebensdauer eines Bakteriums mit der eines Säugetieres). Aber auch die Lebensbedingungen des homo sapiens – als Gattung – sind zeitlich begrenzt, da an die „Naturzustände“ des Planeten Erde in unserem Sonnensystem unwiderruflich gebunden. Eine Flucht des Menschen vom Planeten Erde als Überlebensstrategie der Gattung Mensch ist zwar phantasierbar (und ansatzweise individuell konstruierbar), aber unter den bestehenden Problemlösungsmöglichkeiten nicht realistisch.

Realistisch – im Sinne des Aufgeklärten Realismus – ist sowohl die menschlich verursachte Selbstzerstörung der bewohnbaren Erde (durch bewusste Freisetzung von welterschütternden Kräften wie der Atomenergie), aber auch die „schleichende“ bewusst zu machende Verschlechterung der Lebensbedingungen (wie z.B. durch Luftverschmutzung, Erderwärmung, unkontrolliertes Bevölkerungswachstum – ohne ausreichende Verbesserung der Lebensbedingungen; aber auch durch – durch nichts zu rechtfertigende – Kriege und Hungersituationen; also durch Ausbeutung und Verelendung.

Diese (sicher unzureichende) Zustandsbeschreibung der menschlichen Geschichte – ihrem Mangel und ihren Möglichkeiten an menschengerechten Problemlösungen – verlangt darüber hinaus für eine humane Überlebensstrategie die Organisation und Sicherung einer menschenwürdigen Gesellschaftsstruktur – und einen doppelten Naturschutz: einen nachhaltigen Schutz vor erkennbaren Naturgewalten (wie z.B. den Dammbau in den Niederlanden) und den Schutz der Natur vor menschlicher Zerstörung (z.B. der Ökosysteme) durch Waldvernichtung oder durch kurzfristige „Verbesserung“ der menschlichen Lebensgrundlagen, deren Nachteile langfristig überwiegen.

Menschen sind als bewusste Lebewesen in der Lage, die Probleme im Sinne des doppelten Naturschutzes und auf der Basis, die Menschenwürde universal durchzusetzen, zu lösen, auch wenn alle Problemlösung vorläufig bleibt und immer neuer Anstrengung bedarf. In dieser Perspektive sind die Menschen für ihre Zukunft am Ende des Anthropozäns verantwortlich. Daher spreche ich (in Form eines kategorischen Imperativs) davon, dass der homo sapiens nur überleben kann, wenn er ein homo praestans wird, ein Mensch, der für andere und sich einsteht.

Ein General soll’s richten – das gefährdet die demokratische Entwicklung unserer Zivilgesellschaft

Aus den Medien erfuhr ich, dass auch die Parteien der zukünftigen Ampelkoalition beabsichtigen, einen General der Bundeswehr zu beauftragen, die logistischen Probleme während der Pandemie zu lösen.

Wie unfähig und vordemokratisch müssen die Institutionen unserer Zivilverwaltung sein, dass die Parteien der bisherigen wie zukünftigen Regierungskoalition auf einen militärischen Befehlshaber der Bundeswehr zurückgreifen müssen, um die logistischen Probleme während der Pandemie in den Griff zu bekommen?

Ich befürchte die Militarisierung der Demokratie: ein General, in militärischer Strategie und Taktik ausgebildet, soll es richten und die Defizite von Legislative und Verwaltung in der Bekämpfung von Notsituationen kompensieren. Wo sind die Menschen in unserer Zivilgesellschaft, die etwas von der Steuerung unserer Gesellschaft im Interesse der Gesundheit und Lebenserhaltung verstehen?

Die unübersehbaren Defizite in Regierung und Verwaltung, Probleme unverzüglich zu erkennen und effizient zu lösen; diesen lebensgefährlichen Mangel löst nicht das Militär, sondern ein wirksam arbeitendes und demokratisch kontrolliertes government.

Ich bestreite nicht, dass es in dieser Weise ausgebildete Generäle gibt, die über logistische Erfahrungen verfügen, aber mich irritiert der (hintergründige) Systemgedanke, dass (nur) eine militärische Kommandostruktur Notstände in unserer Gesellschaft aufheben kann und muss. Dieser Hintergrund ist nicht nur makaber, sondern für die Entwicklung der Demokratie (als eines konsequenten Aufklärungsprojektes) tödlich.

Durch die Wahl eines Bundeswehrgenerals – unabhängig von seinen individuellen Problemlösungsfähigkeiten – wird m.E. die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger missachtet (es geht nicht um Befehl und Gehorsam) und die demokratische Struktur ihrer Selbstverwaltung (auch in Notsituationen) in Frage gestellt.

Nicht nur das Gesundheitswesen und der Lebensschutz (z.B. im Straßenverkehr), sondern auch die Mängelverwaltung der öffentlichen Schulen ist ein gutes Beispiel für die Defizite an demokratischer Digitalisierung (Vernetzung) und pädagogischer Steuerung im Interesse der Ausbildung und Mündigkeit von Kindern und Jugendlichen (Chancengleichheit). Auch die weltweite Entdemokratisierung der menschlichen Gesellschaften erhält durch die „militärische Lösung“ eine fragwürdige Legitimation. Es kann sich zeigen, dass die notwendige „Digitalisierung“ – im Sinne einer effektiven Steuerung und Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse – in eine vordemokratische Herrschaftsstruktur umgemünzt wird.

Dass die militärisch organisierte Bundeswehr (organisiert für den Verteidigungsfall und instrumentalisiert für weltweite Kriegseinsätze) im innerstaatlichen wie internationalen Notfall hilft, ist m.E. notwendig und sinnvoll (von ihren personellen und technischen Möglichkeiten her). Aber dass der „militärisch-industrielle Komplex“ als Problemlösungsstrategie erscheint und benutzt wird, ist für die Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft gefährlich.

Zivilgesellschaften erscheinen als hilflos und überholt. Daher kommt es darauf an, die demokratischen und im Interesse der Menschen wirksamen Strukturen zu verbessern und der Demokratisierung (im Sinne von Mitbestimmung und Gemeinwohl) eine Zukunftschance zu geben.

Zur Versöhnung von Atheismus und Christentum

oder
Die Ergebnisse der Aufklärung zuende denken

Eine Argumentation im Sinne des Aufgeklärten Realismus; gegen alle Spielarten von Naturalismus und Konstruktivismus sowie Theismus

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus
Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf., Münster 2020 (agenda Verlag, 160 Seiten)

Wer bei dem Wort „Versöhnung“ sofort in eine sog. „Identitätskrise“ verfällt und aus Gründen einer sprachlichen correctness an Wörtern wie „Vertöchterung“ oder „Vergeschwisterung“ bastelt, verkennt nicht nur die etymologische Herkunft des Begriffes, sondern pervertiert auch meine Absicht, über und im Projekt Versöhnung von Atheismus und Christentum nachzudenken, um eine sinnvolle Argumentation präsentieren zu können.

Das Verb „versöhnen“ ist eine Vokalmodulation des älteren Verbs „versühnen“ im Sinne von „Frieden stiften, ausgleichen, vermitteln“ – und eine Vermittlung schlage ich vor: die Position des Atheismus, wenn er streng methodisch verstanden wird, und die Praxis und Lehre des Christentums, wenn es von seinem Ursprung her, den die jüdischen Täufergemeinden (des 1. Jahrhunderts nach Christus) bezeugen, beschrieben wird. Diese Gemeinden, und insbesondere Paulus aus Tarsus, bezeugen, dass der am Kreuz hingerichtete Wanderprediger Jesus aus Nazaret der erwartete Messias/Christus ist.

Die messianische Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft sowie von der erlösenden Funktion der Menschwerdung Gottes (dokumentiert im kenosis-Hymnus des Philipperbriefes) relativieren das theozentrische Weltverständnis (im damaligen Römischen Reich). Denn das jüdisch-messianische Denken greift auf die Exodus-Struktur der Bibel zurück. Und dies führt schon bei manchen Gelehrten im damaligen Römischen Reich zu dem Vorwurf, dass die „Christus-Gläubigen“ Atheisten seien.

Ich übersetze die messianische Botschaft unter den Bedingungen des heutigen, aufgeklärten, anthropozentrischen Weltverständnis als „konkrete Utopie der Erlösung“. Und diese Übersetzung schließt den methodischen Atheismus (zur Lösung von Problemen) nicht aus. Aufgeklärte Christen sind in ihrem Denken und Handeln (zunächst) methodische Atheisten; sie müssen – mit allen Menschen – denken und handeln, als wenn es Gott nicht gäbe (sic deus non datur). Und sie können so denken und handeln, da sie unter dem Vertrauensvorschuss der (konkreten Utopie der) Erlösung befreit sind von religiösem Zwang und gesellschaftlichen Vorurteilen.

Im Gegensatz zum gnostischen Denken (der Selbsterlösung) steht das messianische Denken (im Sinne der kenosis), in dem Erlösung als zu erwartende „Gabe“, als Geschenk gedacht wird, die befreit – aber in einem radikal anderen Sinn als in der Gnosis. Übrigens bleibt Hegel, wenn er in seiner Philosophie des Geistes von Versöhnung spricht, im gnostischen Verständnis.

Für das messianische Denken sind existenzielle Erfahrungen kairologischer Struktur, und damit im strengen Sinn zeitlos, also ewig; während historische oder zukünftige Erwartungen apokalyptischer Art oder als Apokatastasis oder als Weltgericht (am Weltende) in chronologischen Strukturen erzählt werden. Chronologische Rekonstruktionen (z.B. Schöpfungsmythen oder Gerichtsszenarien am Ende der Welt) sind an ein theozentrisches Weltverständnis gebunden.

Schöpfungsmythen wie Paradiesvorstellungen bedürfen daher eines Schöpfers, sind „metaphysisch“ strukturiert. Demgegenüber bestimmt das anthropozentrische Weltbild der Aufklärung (und der heutigen Erfahrungswissenschaften) den Menschen als Schöpfer – und religiöse/metaphysische Sprachspiele als seine Projektionen.

Der Mensch (als Vernunftwesen) versucht, alle Probleme dieser Welt zu lösen (durch Begreifen und Eingreifen), aber diese „Potenz“ (diese Möglichkeit) ist an seine Leiblichkeit und Sterblichkeit gebunden. Der Mensch ist ‚Vernunft- und Naturwesen. Diese Verknüpfung von Natur (Leiblichkeit) und „Geist“ – im Sinne von „Problemlösungspotenzen“ (individuell wie gesellschaftlich, als lebendiger Organismus wie als Gesellschaftsformation) schafft Bewusstsein und Selbstbewusstsein.

In diesem und durch dieses Bewusstsein (in mehrfacher Ausprägung: als Gesprächs-, Reflexions-, Erinnerungs- und Planungsfähigkeit inklusive der Entwicklung von Selbstbewusstsein/Mündigkeit) sind Menschen fähig, ihre Lebensprobleme zu lösen, ihre Natur (Leiblichkeit) und ihre Welt (die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos) zu erkennen und zu gebrauchen.

Für ihre Fähigkeiten („Potenzen“ – Aufbewahrung und Gebrauch) sind die Menschen allein verantwortlich. Diese Verantwortung beim Lösen ihrer Probleme (im Alltag und in der Wissenschaft) und der Sicherung ihrer Erkenntnisse können sie – zusammenfassend – als ihre Autonomie bzw. Mündigkeit reflektieren. In diesem Sinn sind sie notwendigerweise „methodische Atheisten“, die weder auf andere Instanzen oder mythologische Erzählungen zurückgreifen. Sie haben gelernt, von dieser (methodischen) Erkenntnisarbeit Ideologien und deren Wirkung zu unterscheiden. Dies gilt für alle Spielarten von Theismus, Naturalismus, Materialismus und Konstruktivismus.

Menschen sind weiterhin in der Lage, Teile und Ergebnisse ihrer Potenzen „auszulagern“; ich denke z.B. an Bibliotheken. Heutzutage sprechen wir von „künstlicher Intelligenz“. Das menschliche Erinnerungsvermögen ist damit weltweit sicherbar und abrufbar. Dies gilt auch in zunehmendem Maße für die Planungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Die Grundlage dieser Potenzen ist das Bewusstsein. Seine Entstehung und Entwicklung bleibt an den „lebenden, selbstgesteuerten Organismus Mensch“ gebunden, selbst wenn eine funktionsbestimmte Loslösung vom menschlichen Organismus (in „Maschinen“) möglich wird.

Selbst die Bildung des geschlechtlichen Ich-Bewusstseins (geschlechtliche Identität) ist zwar an den individuellen Organismus, die Leiblichkeit, gebunden, setzt aber als Selbstaussage der je eigenen Erfahrung Selbstbewusstsein (im Sinne der Mündigkeit) voraus.

Für die Fortpflanzungsmöglichkeit und die Erziehung der Nachkommen gilt die gemeinsame Verantwortung von Vater und Mutter. Gesprächskompetenz ist mehr als Sprachkompetenz und Rechtsbewusstsein ist nicht einfach die Summe individuellen Selbstbewusstseins, sondern ein Lernprozess der Konsensbildung, der sich auf der Basis der Gleichheit an Freiheit und Gerechtigkeit orientiert.

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus
Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf., Münster 2020 (agenda Verlag, 160 Seiten)

Bewusstsein entsteht (bildlich vorgestellt) als Schnittmenge von Natur und Kultur (als Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklung) bei Zeugung und Geburt und endet für das einzelne Individuum durch seinen Tod. Leiblichkeit wie Sterblichkeit sind für das Bewusstsein eines jeden Menschen konstitutiv. Mit Hannah Arendt fasse ich diese Erkenntnis in die Aussage zusammen: Menschen sind sterbliche Schöpfer.

Diese Erkenntnis korrigiert ideologisch geprägte und/oder durch das vorherrschende Weltbild bestimmte Vorstellungen davon, was der Mensch und seine Welt seien. Daher postuliere ich: der Prozess der Aufklärung (als Antwort auf die Frage, was der Mensch sei) muss konsequent zuende gedacht werden. Das Ziel dieses Projektes – als Resultat metatheoretischer Reflexion – fasse ich unter dem Titel „Aufgeklärter Realismus“ zusammen. Erste Ergebnisse dieser Metareflexion (im Sinne einer aufgeklärten Anthropologie) habe ich in meinem gleichnamigen Buch (Münster 2020) veröffentlicht.

Wann und wo ist ein Buch überholt?

Biografische Episode während der Pandemie mit reflexivem Einschub zum Raum-Begriff

Wann und wo ist ein Buch überholt?

Wer gelernt hat, über lange Zeit in seinem Arbeitszimmer an seinem Schreibtisch zu sitzen und zu schreiben, dem ist – zusätzlich als Bibliophiler – die aktuelle Nötigung zur Häuslichkeit in Zeiten der Pandemie nicht ungewohnt, wenn auch grenzwertig.

Ich arbeite, informiere mich online und schreibe in meinem Gehäus; so nennt und zeichnet Albrecht Dürer die Studierstube des Hieronymus. Ich empfinde diesen Zustand als gewohnt, wenn auch nicht gesundheitsfördernd. Kein Engel über mir und kein Löwe vor mir schützen mich; obwohl: auch ein dämmernder Löwe ist wachsam und ein schwebender Engel stiftet himmlischen Duft.

Statt Löwe und Engel schützen mich – wie Barrikaden – Bücherreihen, Bücher- und Manuskriptstapel (wenn auch auf fragile Weise) und Bücherregale voller Bücher. Ein explizierter Bibliophiler ist eben ein implizierter Biblioman.

Meine Bücher verströmen nicht nur einen unterscheidbaren Geruch (ich kann Bücher riechen und dieses Phänomen druck- und klebetechnisch erklären), sondern sie haben eine unterschiedliche visuelle Gestalt; selbst Paperbacks und Taschenbücher sind (u.a. dank der edition suhrkamp) individuell unterscheid- und erkennbar.

Seit meiner Jugend – und den regelmäßigen Besuchen in der Stadtbücherei – habe ich die Fähigkeit, Bücher an Gestalt und Farbe wiederzuerkennen, auch wenn die Reihenfolge in den Bücherregalen eher chaotisch ist. Das alles ist eine Frage der Geduld.

Von Zeit zu Zeit frische ich meine visuelle Fähigkeit auf, indem ich ein Buch aus dem Regal nehme, es (insgeheim) berieche und mich schnell wieder an Autor und Inhalt erinnere; selbst wenn ich das Buch nur flüchtig gelesen oder durchblättert habe.

Soweit die Hinweise zu meinem praktischen Alltag. Grenzwertig ist dieser durch Pandemie erzwungene Alltag, weil die wöchentliche Flucht vom Dorf in die Stadt, in ihre Buchgeschäfte und Cafés unmöglich und verboten ist, so dass nur Routinegang mit Ausweis und Gesichtsmaske in die Universitätsbibliothek bleibt. Das ist schon frustrierend; beinahe hätte ich „kastrierend“ geschrieben.

Eine Universitätsstadt voller Bücher ist ohne geöffnete Cafés und Bistros und ohne Kommunikation halbtot; auch die geschlossenen Museen (wie die menschenleeren Kirchen) verlieren ihre Attraktion. Doch zurück in mein Gehäus.

Gestern griff ich, um meine Wahrnehmung zu prüfen und die Fähigkeit wiederzuerkennen zu stärken, zu einem kleinen, gebundenen Buch des Kölner DuMont Bücherverlages aus dem Jahr 2010: Alexander Marguier: Das Lexikon der Gefahren. Marguier, westdeutscher Journalist, hat in diesem Buch Anekdoten zur Gefährdung von A wie Alkohol bis Z wie Zusatzstoffe in Lebensmitteln gesammelt und Gottfried Müller hat sie jeweils präzise illustriert.

Bevor ich anhand dieses in Leinen gebundenen Taschenbuches „für die Hosentasche“ die Frage beantworte, ob es „überholte“ Erzählungen in „veralteten“ Büchern gibt, muss ich klären, ob und was es bedeutet, im Gehäus zu sitzen und zu schreiben; in der Tradition von Hieronymus (in der Phantasie Dürers), von Luther (auf der Wartburg) oder Hans Blumenberg (in seiner Münsteraner Wohnung in literarischer Verarbeitung durch Sibylle Lewitscharoff). Wie beeinflusst der Raum des Erzählers, Übersetzers, des Aufschreibers die Erzählung und die Geschichte ihrer Überlieferung – auch ohne Engel oder Löwe?

Der Raumbegriff ist ein Konstruktion des menschlichen Bewusstseins. Räume prägen unsere alltäglich Wahrnehmung, wie auch unser Erzählen im Gespräch. Naturwissenschaftlich gesehen ist der Raumbegriff sekundär, also abgeleitet. Grundlegend ist heute nicht mehr der physikalische Raum (der sog. Klassischen Physik), primär ist der Feldbegriff. Durch seine

Differenzierung können verschiedene Räume (bis hin zum Schwarzen Loch) eindeutig begriffen und beschrieben werden.

Erfahrungswissenschaftlich (raumsoziologisch) ist der Raumbegriff sekundär, da er ohne Zeit nicht gedacht, nur in der Zeit (chronologisch) wahrgenommen und beschrieben werden kann. Erfahrungen werden also verstanden, indem sie sprachlich (in Sprachspielen) ausgedrückt/verfasst werden. Dies gilt in einem ursprünglichen Sinn: nur in einer sprachlichen Verfassung können sie verstanden und (natürlich) erzählt werden.

An der sprachlichen Verfassung von Erfahrung lässt sich ablesen, ob sie begriffen werden kann oder (als Utopie bei religiösen Sprachspielen) erzählt werden muss. Bestimmte Erfahrungen (z.B. Märchen) sind nicht an Ort und Zeit gebunden, auch und da sie in fiktiven Orten und zu fiktiven Zeiten spielen. Diese Erfahrungen können von der erzählten Zeit und den erzählten Orten gelöst werden; in diesem Sinn sind sie ort- und zeitlos, aber Weltbild-abhängig.

Ich nenne begreifbare Erfahrungen hinsichtlich ihrer Dimension „chronologisch“; erzählbare Erfahrungen „kairologisch“. Im (heutigen) anthropozentrischen Weltbild sind chronologische Erfahrungen begreifbar, in bestimmten Rahmen reproduzierbar und verbindlich mitteilbar. Kairologische Erfahrungen sind existenziell erfahrbar und nach einer Pause des Schweigens auf „aenigmatische Weise“ erzählbar (wie in einem Spiegel).

Um die Bedeutung von Sprachspielen aus dem theozentrischen Weltverständnis zu erkennen, müssen diese (überkommenen) Sprachspiele übersetzt werden. Dieser Prozess der Übersetzung schließt kritische Prüfung (auf Sinn oder Sinnlosigkeit) ein. Die mögliche Bedeutung überkommener Sprachspiele (z.B. in religiöser Sprache) kann im Gespräch in Form konkreter Utopie vermittelt werden.

Religiöse Sprachspiele sind rückgebunden an das theozentrische Weltbild. Diese Rückbindung zeigt sich in den zahlreichen Schöpfungtsmythen. Für das aufgeklärte Denken bleibt zu prüfen, ob in den tradierten Botschaften utopische Strukturen konkret erkennbar und erzählbar sind.

Mein (vorläufiges) Ergebnis der Prüfung und Übersetzung der jüdisch-christlichen Tradition und ihrer Sprachspiele ist die konkrete Utopie der messianischen Botschaft. Ihr kann unter den Bedingungen des anthropozentrischen Weltverständnisses vertraut werden und diese Botschaft kann als konkrete Utopie der Erlösung weiter erzählt werden. Auf andere Weise formuliert: Aufgeklärtes Denken und messianisches Denken sind dem Grunde nach kongruent.

Eine Konsequenz messianischen Denkens ist die Raum- und Zeitlosigkeit kairologischer Erfahrung, auch wenn ort- und zeitbedingt erzählt wird. Das bedeutet zugleich die Profanisierung von Raum und Zeit. Es gibt keine heiligen Orte und keine heiligen Zeiten. Arbeitszimmer und Studierstuben dienen der Konzentration menschlichen Bewusstseins; Kirchenräume und Museen dienen der Ruhe und Entspannung, aber auch der gemeinsamen Erinnerung und Danksagung, wie der bewussten Wahrnehmung künstlerisch geschaffener Artefakte.

Zu den Konzentrationsübungen des menschlichen Bewusstseins gehört der abschätzende und verantwortungsvolle Umgang mit den Risiken des Alltags und der Arbeit, im Sinne der Einsicht von Hannah Arendt, dass wir Menschen sterbliche Schöpfer sind. Hier unterstützt – auf launig-satirische Weise das oben genannte Lexikon der Gefahren.

Ich schlage unter dem Stichwort „Pandemien“ nach (Seite 163-168) und erfahre zunächst, dass der Begriff „Pandemie“ „mittlerweile zum Wortschatz der Globalisierung“ gehört. Ich gestehe, bis vor einem Jahr kannte ich dieses Wort nicht und begnügte mich, von „Epidemien“ zu sprechen. Ich lese weiter:

Die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland einer pandemischen Infektionskrankheit zu erliegen, ist heutzutage wegen der enormen medizinischen Fortschritte und aufgrund besserer Hygiene so gering wie nie zuvor. Noch zwischen den Jahren 1918 und 1920 fielen allein im Deutschen Reich schätzungsweise 300 000 Menschen der Spanischen Grippe zum Opfer, gegen die es keinen Impfstoff gab.“ (S. 167)

Dieses Buch erschien im Jahr 2010 auf dem Büchermarkt und die Aussage zur Pandemie ist 2021 überholt. Nun weiß ich nicht, ob Autor und Verlag eine korrigierte Neuauflage planen. Interessant ist die Fehleinschätzung der Risiken vor mehr als 10 Jahren. Zweifellos ist dieses Buch mit dieser Aussage veraltet. Bemerkenswert bleibt, wie wir mit Risikoeinschätzungen in gedruckten Büchern umgehen sollten. Bücherfreunde seien gewarnt.

Wahrnehmungsformen: begreifbar – erfahrbar – erzählbar

Feld oder Raum – Berechenbarkeit“ ist für eine „Theorie des Bewusstseins“ nicht ausreichend. – Zur Lektüre von Roger Penrose, Nobelpreisträger Physik 2020: Computerdenken

Während der Lektüre von: Roger Penrose: Computerdenken. Die Debatte um künstliche Intelligenz, Bewußtsein und die Gesetze der Physik, Heidelberg/Berlin 2002 (Originaltitel: The Emperor‘s New Mind Concerning Computers, Minds, an the Laws of Physics, New York 1989)

Das Nicht-berechenbare ist begreifbar; insofern ist die Natur – in ihrer Wahrnehmung für den Menschen (als leibgebundenes Vernunftwesen) mehr als eine endliche Summe von Algorithmen. Der Kosmos (der Welt-Raum) ist ebenfalls begreifbar, wenn auch nicht als Algorithmus. So verstehe ich Roger Penrose, den Erforscher der Schwarzen Löcher und diesjährigen Nobelpreisträger für Physik.

Natur ist auch – für den Menschen als leiblich wahrnehmenden, denkenden Organismus (durch seine Sinnesorgane und sein die Eindrücke verarbeitendes Gehirn) – existenziell erfahrbar. Und von diesen Erfahrungen kann – gesprächsweise – erzählt werden.

Penrose macht deutlich, dass die Natur – als Mikrokosmos wie Makrokosmos – nicht (nur) „algorithmisch“ in ihren Gesetzmäßigkeiten verstanden werden kann, sondern (auch) stochastisch wie durch weitere „Reflexionsprinzipien des menschlichen Bewusstseins“ (so R. Penrose) begriffen werden muss.

Natur als Leib- und Umwelterfahrung ist auch existenziell erfahrbar und erzählbar, aber nicht begreifbar. Das Erzählen dieser existenziellen Erfahrungen folgt einer dialogischen Struktur, ist an Mitteilung und Gespräch orientiert und nur in dieser Struktur verstehbar.

Die dialogische Struktur ist selbst da grundlegend gegeben, wo ich bewusst nachdenke (in der Form der Selbstreflexion) und mit mir selbst spreche (als Selbstgespräch). Das Gespräch ist Ausdruck des menschlichen Bewusstseins. So wie das Gespräch einen Dialogpartner verlangt, so geschieht das Gespräch in einem spezifischen Raum; seien es die Höhle, die Studierstube, die Wohnung, oder auch der Unterrichtsraum, Tempel und Kirchen (als ein- und ausgegrenzte Räume), der Bürgersaal, das Parlament oder die Philharmonie.

Bei allen diesen Räumen liegt der dreidimensionale Raum (wie in der klassischen Physik) zugrunde. Anders verhält es sich bei elektrisch geladenen Räumen oder beim Welt-Raum (dem Universum). Albert Einstein spricht in seinem Vorwort zu Max Jammer: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien (Darmstadt 1960) (Original: Concepts of Space (1954); das Vorwort von A. Einstein wurde 1953 auf Deutsch geschrieben) von der „Überwindung des selbständigen Raumes“ der modernen Physik durch den „Feld“-Begriff im Kontext der Feldtheorie:

Die Überwindung des absoluten Raumes … wurde erst dadurch möglich, dass der Begriff des körperlichen Objektes als Fundamentalbegriff der Physik allmählich durch den des Feldes ersetzt wurde. Unter dem Einfluss der Ideen von Faraday und Maxwell entwickelte sich die Idee, daß die gesamte physikalische Realität sich vielleicht als Feld darstellen lasse, dessen Komponenten von vier raum-zeitlichen Parametern abhängen. Sind die Gesetze dieses Feldes allgemein kovariant, d.h. an keine besondere Wahl des Koordinatensystems gebunden, so hat man die Einführung eines selbständigen Raumes nicht mehr nötig. Das, was den räumlichen Charakter des Realen ausmacht, ist dann einfach die Vierdimensionalität des Feldes. Es gibt dann keinen leeren Raum, d.h. keinen Raum ohne Feld.“ (Einstein 1953 in: Jammer 1960, S. XV)

Ich schlage vor, im Zusammenhang physikalischer Überlegungen, insbesondere der heutigen Mikro- und Makrophysik, von Feld zu sprechen, das schließt den Raumbegriff der klassischen Physik mit ein. Demgegenüber muss die Erzählung (das erzählende Gespräch) unter den Bedingungen des jeweiligen Erzähl-Raumes analysiert werden.

Für das Gelingen eines Gespräches zwischen Menschen in einem Raum, wie auch in unterschiedlichen Räumen (aber einer Atmosphäre) ist die Aktivität des (physikalisch-elektrischen) Feldes notwendig, aber nicht ausreichend, denn das Gelingen menschlicher Kommunikation lässt sich nicht auf die Wahrnehmung von Feld-Aktivitäten reduzieren. Die Differenz der Wahrnehmung zwischen digitaler Kommunikation und realem Gespräch (z.B. im selben Raum), aber auch jeder Erinnerung muss bei der Analyse wie Dokumentation einer Gesprächsaufzeichnung wie jedweder Art von Erzählung beachtet werden.

Digitale Kommunikation ist ortlos (bzw. der Ort wird beliebig), während reale Kommunikation ortsgebunden wahrgenommen werden muss, selbst wenn der Raum weltweit (oder sogar weltraumweit) geöffnet ist. Diese Einsicht hat weitreichende Konsequenzen.

Als Beispiel (im Kontext meiner religionsphilosophischen Überlegungen) verweise ich auf die Übersetzung traditioneller religiöser Sprachspiele. Religiöse Sprachspiele haben ihren „Ort“ oder „Raum“ im (jeweiligen) theozentrischen Weltbild. Um sie sinnvoll in ein heutiges Weltverständnis zu übersetzen, muss ein „Ortswechsel“ vorgenommen werden. Ohne notwendige „Raumtranslationen“ (ein von mir gewählter Ausdruck mit Anspielungscharakter) kann nicht geprüft werden, ob Sprachspiele dieser Art ihren Sinn behalten oder verlieren (oder vielleicht erst eröffnen).

Mein Lösungsvorschlag für das jüdisch-christliche Sprachspiel von der „Menschwerdung Gottes“ – im Sinne eines aufgeklärten Realismus ist, es in eine konkrete Utopie der Erlösung zu übersetzen. Diese Übersetzung ist mit der Grundaussage des anthropozentrischen Weltbildes, dass die Menschen (in dieser Welt, in diesem Welt-Raum) „sterbliche Schöpfer“ sind (eine Aussage von H. Arendt), sinnvoll in Übereinstimmung zu bringen – ohne gnostische Fehlinterpretation einer „Selbsterlösung“.

Zu Ende seines Buches „Computerdenken“ deutet Roger Penrose an, dass die (noch ausstehende) Theorie des menschlichen Bewusstseins mit der Methode der Berechenbarkeit und als komplexer Algorithmus nicht (ausreichend) darstellbar ist, sondern nur als Resultat der Gesprächssituation (Kommunikation) zwischen selbstbewussten Menschen erzielt werden kann.

Menschliches Bewusstsein (in der Form eines komplexen Computers) ist mit algorithmischen Mitteln nicht rekonstruierbar; so urteilt Penrose. Dennoch erwartet er „die Eigenschaft mathematischer Präzision“, die anders als „Berechenbarkeit“ ist. (a.a.O. S.437)

Menschliche Erinnerung hat, so vermutet Penrose nach detaillierter Prüfung aller Formen von Berechenbarkeit, eine näher zu erforschende eigenständige Struktur: „Mein Bewußtseinsstrom ist in die Vergangenheit gerichtet, und in Wirklichkeit besagen meine Erinnerungen nicht, was mir geschehen ist, sondern was mir geschehen wird.“ (a.a.O. S. 438)

Diese Andeutung einer speziellen Zeitstruktur reflektiere auch ich, wenn ich zwischen kairos und chronos unterscheide und davon spreche, dass Erinnerungen dieser Art nur erzählt und tradiert werden können. Aber eine in diesem Sinne sachgemäße Theorie des Bewusstseins liegt bis heute nicht vor.

Literaturhinweise:

Penrose, Roger: Computerdenken. Die Debatte um künstliche Intelligenz, Bewußtsein und die Gesetze der Physik, Heidelberg, Berlin 2002 (Originalausgabe: The Emperor’s New Mind Concerning Computers, Minds, and the Laws of Physics, New York 1989)

Penrose, Roger: SHADOWS OF THE MIND. A Search for the Missing Science of Consciousness, London 2005 (1994/1995)

Schmitter, Jürgen: Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten. Ein Taschenwörterbuch, Münster/Westfalen 2017

Schmitter, Jürgen: Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf, Münster in Westfalen 2020

Das utopische Denken. Zur Dynamik des Vorläufigen

Die Vorläufigkeit des konstruktivistischen Denkens für endgültig zu erklären, ist eine resignative Form der Metaphysik. Vorläufiges Denken und Handeln hat eine Dynamik, die durch utopisches Denken – im heutigen anthropozentrischen Weltverständnis – gekennzeichnet werden kann.

Menschliches Denken und Handeln im Prozess der Aufklärung ist – zusammenfassend – als Problemlösen strukturiert. Diese Struktur als endlich zu analysieren, eröffnet die Utopie der Erlösung, die existenziell erfahren und konkret erzählt werden kann, aber nicht begriffen.

Das Vorläufige ist nicht das Endgültige. Die Endlichkeit alles Menschlichen enthält (verbirgt und eröffnet) eine Dynamik: Provisorium und Antizipation zugleich; Erkenntniszuwachs wie Erkenntnisfortschritt. Der entscheidende Impuls für alles Problemlösen ist die Utopie der Erlösung (als Erwartung: zeit- und ortlos).

Religion, wie sie sich heute präsentiert, ist der Rückzugs-Ort des Heiligen in einer profanen Welt. Demgegenüber umfasst das Utopische Denken den Welt-Raum. Dieses Denken benötigt weder Tempel noch Heiligtümer; es wirkt mitten unter den Menschen, mitten in unserer verdinglichten, entfremdeten Welt. Historisch wie biografisch gesehen hat das Utopische Denken konkret einen Namen: gebunden in der – und übersetzt aus der jüdisch-christlichen Täufer-Tradition: das messianische Denken.

Utopisches Denken wird im Alltag der Menschen erfahrbar und erzählbar, aber bleibt unbegreifbar. Der „Ort“ der Utopie, der einzige Ort des Ortlosen (ein Oxymoron) ist das Gespräch; in ihm kann erzählt und gehört werden, was Erlösung bedeutet (in der Struktur der Antizipation). Die Differenz von chronos und kairos ist erkennbar, erfahrbar, erzählbar, aber nicht aufhebbar.

Das Gespräch dient sowohl der gemeinsamen Rückerinnerung, als auch der gemeinsamen Entwicklung von Perspektiven und Aktionen; es ist der Raum der Umkehr (Revision) und Verantwortung. Entscheidend ist die dialogische Struktur des Gespräches, selbst da, wo der Einzelne sich mit sich selbst verständigt (verständigen muss). Verantwortung ist nicht delegierbar, Selbstkritik und Umkehr befreien.