Anthropologie der Aufklärung: Exposé meiner Argumentation (Münster 2023)

Grundlage und Ziel meines Projektes: Aufklärung zu Ende denken

Seit langem versuchen Religionsphilosophie – und auch die Soziologie der Religion das Verhältnis von Profanem und Heiligem und den vermeintlichen Ursprung von beiden zu klären. Demgegenüber hinterfragt mein Projekt der Aufklärung diese Dualität und entwickelt die Möglichkeiten – ich spreche auch von Potenzen – eines einheitlichen menschlichen Bewusstseins – individuell wie sozial/geschichtlich – von Wahrnehmung, (aenigmatischer) Erkenntnis, Projektion und Utopie. Ich beschreibe in einer Theorie des Aufgeklärten Realismus diese Potenzen (oder Leistungen) dieses Bewusstseins am Ende des Anthropozän. „Anthropologie der Aufklärung: Exposé meiner Argumentation (Münster 2023)“ weiterlesen

Vom beschränkten, aber nützlichen Bewusstsein der Rückepferde – ein Bild für die heutige Schulphilosophie

Feldwege sind eine sinnlose Metapher für schöpferische Denkbewegungen, wie sie das menschliche Bewusstsein ausüben kann. Denn im Normalfall endet der Feldweg am Beginn des Ackers oder der Wiese, die der Bauer für seine Arbeit benötigt. Alternativ führt der Feldweg am Acker vorbei oder entlang, um das schädliche Betreten des Ackers – für den Wanderer – zu vermeiden.

Im Wald sind Wege oft Holzwege, also Sackgassen, die mitten im Wald enden. Als philosophische Metapher sind sie unbrauchbar, da sie nur den Rückweg zum Ausgangspunkt erlauben.

Oft entstehen Holzwege durch die Kraft der Rückepferde, gelenkt durch den Holzfäller. Diese kaltblütigen Pferde erinnern präzise den Rückweg, wenn sie die gefällten Baumstämme aus dem Dickicht des Waldes ziehen, ohne sie zu beschädigen. Dies nenne ich das Bewusstsein der Rückepferde, für die Waldarbeiter von Nutzen. Aber als Bild für einen schöpferischen Denkweg des homo sapiens ist der Holzweg ungeeignet.

Ich denke weiter nach: oft wird gesagt, der Weg sei schon das Ziel – das ist Unsinn. Denn ein Weg, der kein Ziel hat, bleibt für das menschliche Bewusstsein ein Irrweg.

Der Holzweg entspricht dem Bewusstsein der Rückepferde; insofern nützt es den Holzfällern. Aber dieser Weg bleibt der Rückweg zum Ausgangspunkt (außerhalb des Waldes).

Der Holzweg ist ein Rückweg. Er symbolisiert keinen Fortschritt; er ist nicht zielorientiert. Aber möglicherweise kann das Erinnerungsvermögen der Rückepferde ein bildhafter Hinweis für einen notwendigen Zwischenschritt im Labyrinth des menschlichen Bewusstseins sein.

Ich unterstelle, der Holzweg ist ein Bild für die heutige (Hoch-)Schulphilosophie.

Methodischer Atheismus statt Apatheismus/Erlösung als messianische Denkform

Unter „methodischem Atheismus“ verstehe ich den bewussten Verzicht, im Alltag, in der Gesellschaft und in den Wissenschaften die „Gotteshypothese“ zur Lösung von Problemen jeglicher Art zu gebrauchen. Unter den Bedingungen des heutigen, aufgeklärten Weltverständnisses ( des anthropozentrischen Weltbildes) müssen und können alle Probleme des Denkens und Handelns ohne Rückgriff auf einen „Gottesglauben“ gelöst werden. Denn der homo sapiens ist ein homo praestans, der für sein Denken und Handeln allein verantwortlich ist.

Von dieser Einsicht sind alle atheistischen Weltvorstellungen (vom Agnostizismus bis zum Apatheismus) streng zu unterscheiden; diese unterliegen der Ideologiekritik (im Sinne von Projektion und Entlastung). Dies gilt auch für theistische Vorstellungen (vom Polytheismus bis zum Monotheismus und Pantheismus). Auch sie unterliegen der Religionskritik, wie sie im Projekt der Aufklärung entwickelt wurde. Grundlage des heutigen Denkens und Handelns ist der „aufgeklärte Realismus“ auf der Basis des anthropologischen Weltbildes, das von einem Universum, einer Welt – und ihren Gesetzmäßigkeiten (inklusive der möglichen Wahrscheinlichkeitsrelationen) ausgeht. (siehe meine Argumentation in meiner Schrift: Aufgeklärter Realismus, Münster 2020).

Unter „Apatheismus“ versteht das „freie Wörterbuch“ (Wiktionary) ungebräuchlich eine Weltanschauung, nach der die Frage nach der Existenz eines Gottes (oder Götter) bedeutungslos ist, weil sie keine nachprüfbaren Konsequenzen hat. Jan Loffeld (in seinem Buch „Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt, Freiburg im Breisgau 2024) übersetzt diesen Begriff mit „religiöser Gleichgültigkeit“ und kennzeichnet damit (religionssoziologisch) eine bestimmte „saekulare“ Haltung.

Der Apatheismus ist für einen aufgeklärten Menschen (am Ende des Anthropozän) keine Lösung der Gottesfrage. Der Atheismus als Weltanschauung verallgemeinert die notwendige Religionskritik (Stichworte: Projektion, Opium) zu einer fragwürdigen Immanenz des menschlichen Bewusstseins; reduziert seine Möglichkeiten (Potenzen) und damit die Wahrnehmung der Realität.

Im heutigen Labyrinth des Denkens und Nachdenkens führt diese Immanenz zur Ideologie des Naturalismus oder des Konstruktivismus. Die Struktur des Problemlösens wird nicht ausreichend erkannt. So vermischt und verwechselt der Rückgriff auf die „Natur“ und ihre Prozesse der Evolution diese Evolution mit der Menschheitsgeschichte. Der Konstruktivismus erhebt das Provisorium (die bloße Vorläufigkeit) zum Ziel und behauptet letztendlich, dass der Weg schon das Ziel sei.

Demgegenüber verstehe ich das menschliche Denken und Handeln als „sterbliche Schöpferkraft“, um Probleme im Alltag, in der Gesellschaft und in den Wissenschaften kooperativ zu lösen. Problemlösen ist daher die Tätigkeit (mit Hannah Arendt spreche ich von „Arbeit“ im weitesten Sinn), die die Menschen – ohne Rückgriff auf eine „jenseitige“ Realität – leisten und verantworten (müssen!)

Diese Arbeit bedarf – bezüglich der Methoden und des Erfolgs – des dauernden Zweifels und der Prüfung (Kontrolle). Daher spreche ich von der Vorläufigkeit allen Problemlösens. Der homo sapiens ist also ein homo praestans, der für seine Arbeit und die gemeinsame Leistung einsteht und einstehen muss (Stichwort: Verantwortung).

Die Zurhilfenahme von Gotteshypothesen würde diese Verantwortung schmälern, auch wenn eine entlastende Wirkung unterstellt wird. Gott als „Schöpfer“ – und sein Werk: die „Schöpfung“ sind mythologische Vorstellungen; Projektionen, entnommen aus den religiösen Sprachspielen des theozentrischen Weltbildes. Ich lasse die Frage, ob solche Sprachspiele eine Bedeutung für die heutigen Menschen haben, zunächst unbeantwortet; aber sie sind in Bezug auf die Vorläufigkeit allen Problemlösens sekundär.

Was bleibt dem aufgeklärten Menschen angesichts dieser Einsicht in den methodischen Atheismus? Seine Handlungen, seine Art, Probleme zu lösen, müssen vorläufig bleiben, korrigierbar, umkehrbar, verbesserbar sein, ansonsten schlägt sein Denken in Dogmatik und Aberglauben um und sein Verhalten wird widersprüchlich, unsachgemäß und menschenfeindlich.

Diese bewusste Vorläufigkeit bedeutet gerade nicht, dass menschliches Bewusstsein statisch und ziellos ist. Ich spreche daher von der Dynamik des Vorläufigen. Worin besteht diese Dynamik grundsätzlich? Meine Antwort: in der (nur) utopisch denkbaren und auf spezielle Weise aussprechbaren Hoffnung auf Erlösung.

In meinem Bild des Labyrinthes für die Arbeit des menschlichen Bewusstseins bedeutet das: das Labyrinth hat nicht nur einen Eingang (Schwangerschaft und Geburt), ein Zentrum (die Mündigkeit), sondern auch einen „Ausgang“ während des sterblichen Lebens: die Erlösung.

Diese Dynamik erlaubt, erzwingt und befreit (zu) Umkehr und Korrektur bei Irrwegen, Holzwegen: sie ermöglicht und ermutigt zu neuen Lösungen.

In der messianischen, konkret utopischen Denkform und den entsprechenden Sprachspielen der Bibel des Judentums und Christentums wird die Hoffnung auf Erlösung konkret und universal: in der Messias-Erwartung. Ich frage mich daher, ob jenseits der „Menschwerdung Gottes“ im Messias/Christus noch sinnvoll über „Religion“ gedacht und gesprochen werden kann. Zumindest sind religiöse Denkweisen und Sprachspiele gegenüber der primären Hoffnung auf Erlösung sekundär.

Was meine ich mit dem Unterschied von primär und sekundär? Sekundär sind religiöse Vorstellungen über den Kosmos und seine Entstehung, die die Menschen im Laufe ihrer Geschichte gebildet und erzählt haben, um ihre Sterblichkeit und Schuldhaftigkeit zu verstehen. Diese Vorstellungen von „Schöpfung“ im allgemeinen und „Erschaffung des Menschen“ im besonderen werden in erzählenden Sprachspielen umgesetzt (z.B. Schöpfungs- und Paradiesgeschichten), die einerseits die Schuldfrage klären sollen, andererseits das menschliche Leben entlasten.

Religionskritisch analysiert lösen diese Erzählungen das Problem der menschlichen Verantwortung für ihr Tun nicht. Sie sind Projektionen, mythische Erklärungsversuche, die Erlösung nicht bewirken. Daher nenne ich diese Vorstellungen und Sprachspiele „sekundär“. Religion bedarf der Aufklärung. Theistische Weltanschauungen – bis zu den Endformen des Monotheismus – lösen das Problem der Sterblichkeit und Verantwortung nicht.

Auch apokalyptische Vorstellungen vom Ende der Welt und dem Endgericht blicken zwar in die Zukunft, bedürfen aber der Übersetzung, damit chronologische Lösungen nicht mit kairologischen Erfahrungen verwechselt werden.

Erlösung im messianischen Sinn zeigt sich, „offenbart“ sich in existenzieller Erfahrung – jenseits von Raum und Zeit. Daher ist diese Erfahrung nur als Utopie denkbar und (ebenfalls) vorläufig beschreibbar. Sie ist nicht beweisbar, aber kann überzeugen.

Dieses konkret utopische ‚Denken, dieses messianische Denken ist meiner Überzeugung nach (als Resultat meines Nachdenkens) keine Theorie (oder Metatheorie bzw. Weltanschauung), sondern realisiert sich in einem speziellen Theorie-Praxis-Verhältnis: die Erlösung – als Befreiung – in der praktischen Umkehr menschlichen Verhaltens.

Das messianische Denken der jüdisch-christlichen Bibel kennt für diesen Umkehrprozess – in seiner dialogischen Struktur – ein zusammenfassendes Wort: agape – mitmenschliche Liebe. Konsequenz dieser Überzeugung ist die weltweite Durchsetzung der Empathie gegenüber allen Menschen. In dieser Perspektive kann ich das Projekt der (weltweiten) Aufklärung zu Ende denken. Die Realisierung dieses Projektes bleibt eine stetige Aufgabe und Verpflichtung.

Auslagerung

Problemlösungen mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz (KI) sind seit jeher ausgelagerte und optimierte Bewusstseinsleistungen, bleiben vorläufig und bedürfen einer sachgemäßen Kontrolle.

Künstliche Intelligenz ist dem Grunde nach kein neues Phänomen der Gegenwart. Die systematische und erfolgreiche „Auslagerung“ von Möglichkeiten (Potenzen) des menschlichen Bewusstseins kennzeichnet die Entwicklung der Menschheit (die Menschheitsgeschichte) von Anfang an.

Diese Entwicklung des homo sapiens im Anthropozän darf nicht mit der biologischen Evolution des Menschen als sterbliches Naturlebewesen verwechselt werden; auch wenn Entstehung und Sterblichkeit des Individuum „Mensch“ seine „Natur“ prägen. Alle ideologischen Spielarten des Naturalismus verwechseln Natur (die Gesetze der Evolution) und Geschichte (der Menschheit, ihrer Gesellschaften und Kulturen).

Auch die religiösen Sprachspiele (Schöpfungsmythen und Paradiesvorstellungen) verfälschen die realen Bedingungen der Entstehung und Entwicklung der Menschheit auf dem Planeten Erde. Diese Projektionen sind durch theozentrische Weltvorstellungen (Weltbilder) geprägt. Ob, und wenn ja, welche Bedeutung diese Projektionen für das Bewusstsein des homo sapiens hatten und haben, kann erst im Rahmen einer religionskritischen Analyse geklärt werden.

Ein Ergebnis aufgeklärten, religionskritischen Denkens kann ich schon vorwegnehmen: Paradiesvorstellungen im Himmel wie auf Erden sind Projektionen des menschlichen Bewusstseins und keine realen Zielvorgaben.

Zurück zur Entstehungsgeschichte des Bewusstseins der Menschen. Schon Erasmus von Rotterdam (zu Anfang des 16. Jahrhunderts) übersetzt den ersten Vers des Prologs des Johannes-Evangeliums (im Anfang war der logós) vom Griechischen ins Lateinische mit sermo (Gespräch) statt verbum (Wort). Das war sehr mutig und verstieß gegen die Vulgata-Übersetzung des Hieronymus. Ich erweitere für meine Argumentation: Im Anfang war die Kommunikation.

In ihr und durch sie entwickelt sich die einzigartige Intelligenz der Gattung homo sapiens,“die sie zu Empathie, Abstraktion (Jenseitsvorstellungen) und Transitivität (es ist ihm geschehen, es wird allen geschehen) befähigt“. (Zitat aus: T. Pievani, V. Zeitoun: Homo sapiens. Der große Atlas der Menschheit, Darmstadt 2020, S. 115)

Mir geht es in meiner Analyse nicht um die anatomische Sicht des modernen Menschen (innerhalb der biologischen Evolution), sondern um die speziellen Leistungen des menschlichen Bewusstseins (bzw. seines Selbstbewusstseins).

Bevor ich in mehreren Szenarien (1 – 9) die kommunikativen Lernprozesse der   Menschen (vom Anfang ihrer Geschichte bis heute) erläutere, die zu Auslagerung, Regulierung und Arbeitsteilung sowie zur notwendigen Kontrolle dieser Resultate der (vorläufigen, da korrigierbaren) jeweiligen Problemlösung führen, zitiere ich Hannah Arendt (1906-1975):

„Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden.“ (1958)

Die Schöpferkraft des einzelnen Menschen ist zwar begrenzt, da das Individuum (als Naturwesen) sterblich ist, aber durch Kooperation und Auslagerung der Potenzen des menschlichen Bewusstseins können die Probleme des menschlichen Lebens und Überlebens erfolgreich, wenn auch vorläufig gelöst werden.

Bezüglich des Programms der Aufklärung am Ende des Anthropozäns und unter den Bedingungen des anthropozentrischen Weltbildes habe ich daher 2023 (in meinem Buch „Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän“) formuliert:

„Die schöpferische Potenz des menschlichen Bewusstseins besteht darin, Probleme erfolgreich, nachhaltig und überprüfbar zu lösen. Diese Potenz steht unter dem Vorbehalt der Sterblichkeit des Menschen als Individuum und lebt aus der Dynamik des Vorläufigen (provisorisch und antizipativ zugleich).“

In einem summarischen, historisch-kritischen Rückblick (in verschiedenen Szenarien) versuche ich, die Geschichte erfolgreicher Problemlösungen zu skizzieren:

(1) Die ersten Menschen haben gelernt, das Feuer, um das sie in Gruppen saßen, gebrauchsorientiert zu nutzen, nicht nur als Licht- und Wärmequelle, sondern auch zur Nahrungsaufbereitung. Zugleich waren sie (zunehmend) in der Lage, das Feuer zu kontrollieren, insbesondere wenn sie ihr Wissen in Bild und Schrift weitergaben, also nicht nur einander mitteilten, sondern – mitteilbar und anwendbar – fixierten. Die „Auslagerung“ von Wissen aus der Erinnerung im Gespräch – führt zur Arbeitsteilung, Regulierung und der notwendigen Kontrolle, um sich vor Gefahren zu schützen.

Von Anfang an hat der Naturschutz eine doppelte Funktion: er soll die Menschen vor Gefahren schützen und die Natur vor Missbrauch der Natur durch den Menschen.

(2) Während sich die ersten Menschen (nach ihrer Wanderung aus Afrika nach Europa) in ihren Höhlen vor den Naturgefahren schützten, lernten sie auch, sich „die Zeit zu vertreiben“.Sie schnitzten aus Tierknochen und Hörnern Tiere, symbolische Frauenkörper und Flöten, auf denen sie zu musizieren lernten. Zum gemeinsamen Problemlösen gehört auch die künstlerische Tätigkeit: malen, schnitzen, musizieren.

(3) Die ersten Menschen entwickelten ihr Bewusstsein im Umgang mit den verstorbenen Mitmenschen und mit ihrer eigenen Sterblichkeit. Es entstehen Praktiken und Kulturen der Trauer und Erinnerung, sowie Vorstellungen in religiösen Sprachspielen und speziellen Begräbnisformen.

Das Nachdenken über die Sterblichkeit ermöglicht dem aufgeklärten homo sapiens, die Differenz zwischen chronologischen Vorstellungen und Erwartungen und kairologischen Erfahrungen (am Ende des Anthropozän) zu erkennen und auf dieser Basis – in Form konkreter Utopie – die Überzeugung von der Erlösung zu  gewinnen.

Vielleicht können auf diese Weise sowohl aufgeklärte Christen als auch aufgeklärte Atheisten (jenseits der Weltanschauungen des Polytheismus, Monotheismus oder Pantheismus sowie des Atheismus) Erlösung denken und ihrer Überzeugung bedeutsamen Ausdruck geben.

(4) Die ersten Menschen haben gelernt und lernen bis heute, ihren Alltag und ihre Zukunft zu regulieren. Dazu gehört auch die Sicherung und die Wissensvermittlung an die Nachkommen. Zeugung, Geburt und Aufzucht werden geplant und gesichert. Ich polemisiere: am Anfang der Menschheitsentwicklung steht nicht die Prostitution, sondern der Hebammen-Beruf.

(5) Die ersten Menschen haben gelernt (und lernen bis heute), alte und kranke Mitmenschen zu versorgen und zu pflegen. Diese Sorge wurde teilweise im Laufe der Jahrhunderte ausgelagert in Spitale und Krankenhäuser und in spezielle Berufe der Pflege und der ärztlichen Versorgung.

(6) Die Menschen haben gelernt und lernen bis heute, ihre Problemlösungen durch Bild, Schrift und Buch systematisch (und für andere erlernbar) auszulagern: von der Bibliothek (des Altertums) über die Vervielfältigung des Wissens durch den Buchdruck bis zum weltweiten Internet.

(7) Auf der Ebene des Handwerks und der Produktion der für das Leben der Menschen notwendigen Güter zeigt sich, dass ihr Charakter als „Ware“ keine Kontrolle im Sinne von Menschenschutz und Naturschutz ist. Auch die weltweite Güterproduktion durch Maschinen ersetzt nicht die Kontrolle, sondern verlangt sie auf sachgemäße Weise.

(8) Die bewusste Wahrnehmung durch die menschlichen Sinnesorgane kann ebenfalls ausgelagert werden. So ist die Wahrnehmung der Umwelt durch einen Roboter (und seine Kommunikation durch künstliche Sprache) imitierbar und als einzelne Sinnesleistung (auch durch sprachliche Reaktion) optimierbar. Diese Formen der Imitation (Auslagerung als homunkulus-Konstruktion) irritieren und regen die Phantasie an, können aber z.B. als Drohnen zu Zerstörung und Vernichtung (im Krieg) missbraucht werden.

(9) Den Menschen gelingt es, durch „affective computing“ die emotionale Wirkung von Gefühlen zu imitieren und diese Wirkung gezielt auszulagern. Solche KI-Programme können die Autonomie des einzelnen Menschen gefährden. Für alle Mensch-Maschine-Systeme gilt: Rückschlüsse von wahrgenommener Gestik und Mimik auf emotionale Zustände sind nie eindeutig und bedürfen der Überprüfung, um Missverständnisse (gewollt oder ungewollt) und Missbrauch auszuschließen. Das gilt übrigens sowohl für den Automaten (hinter den menschliche Interessen stecken) wie den Menschen.

(vgl. E. Weber-Guskar: Gefühle der Zukunft. Wie wir mit emotionaler KI unser Leben verändern, Berlin 2024)

Alle „Auslagerungen“ der Potenzen des individuellen Bewusstseins sind ein Fortschritt in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften, aber zugleich ein Risiko, das der Kontrolle der Menschen vom Anfang „ihrer“ Geschichte bedarf. Die heute vorherrschenden Ideologien des Naturalismus und Konstruktivismus be- und verhindern die Einsicht, dass Auslagerung und Kontrolle zusammen gehören.

Aus der Erkenntnis, Probleme des Lebens und Überlebens gemeinsam erfolgreich lösen zu können, aus der Einsicht in die Vorläufigkeit aller Lösungen und aus der notwendigen Vorsicht, also Kontrolle des eigenen Verhaltens während der Problemlösungsprozesse, sowie der Erkenntnis, Gebrauch und Missbrauch aller „Werkzeuge“ unterscheiden und bewerten zu können, entwickelt sich das eigenständige Bewusstsein des homo sapiens und bilden sich die gesellschaftlichen Normen.

In meiner „Anthropologie der Aufklärung“ stelle ich die Möglichkeiten des menschlichen Bewusstseins als gemeinsame Schnittmenge von Natur (ES) und Gesellschaft/Norm (ÜBERICH) in der Geschichte dar. Daraus wird deutlich, dass die Geschichte der Menschheit anders verläuft als die Evolution der Natur. Auch versuche ich in meiner Anthropologie der Aufklärung zu zeigen, dass der Prozess der menschlichen Geschichte nicht ziellos verläuft, wie konstruktivistische Weltanschauungen vermuten, sondern „Erlösung“ als Utopie gedacht werden kann.

Der homo sapiens zeigt sich am Ende des Anthropozän als homo praestans, der für sein Denken und Handeln einsteht; seine Verantwortung ist ungeteilt.

Die Menschen lernen, ihre „sterbliche Schöpferkraft“ einzuschätzen und zu regulieren. Dieser Lernprozess verläuft nicht zwangsläufig, sondern entscheidungsorientiert.

Ich fasse zusammen:

Von Anfang an ist Verantwortung in kommunikativen Strukturen die einzige Möglichkeit, Konsequenzen aus der Dynamik des Vorläufigen bei allen Problemlösungen zu ziehen und den „Fortschritt“ der Menschheitsentwicklung zu sichern. Dabei ist dieses Wort problematisch, weil es das Risiko der Dynamik des Vorläufigen in allen Problemlösungsprozessen (im Alltag, in der Gesellschaft, in der Wissenschaft) unterschlägt. Dass ein zunehmend großer Teil dieser Problemlösungsprozesse seit jeher ausgelagert und optimiert wird, ändert nichts an der Verantwortung der Menschen für diesen Prozess.

Um es pointiert zu formulieren:

Der zerstörerische Brand der Bibliothek von Alexandria im Altertum bleibt genau so verantwortungslos wie die Produktion von (imitierten) fakenews im weltweiten Internet.

Und ich füge hinzu: die mythologischen Erzählungen von der Schöpfung (inklusive der Paradiesvorstellungen) setzen ein – historisch gesehen – überholtes theozentrisches Weltverständnis voraus; auch wenn die Bedeutung der religiösen Sprachspiele der (möglichen) Übersetzung bedarf. Für den aufgeklärten Menschen bleibt klar: es gab  und gibt und wird nicht geben: das Paradies im Himmel wie auf Erden.

Die heute fortschreitende Auslagerung von menschlichen Bewusstseinsleistungen verlangt eine angemessene und wirksame Kontrolle. Diese Kontrolle ist nicht ziellos, sondern orientiert sich zuerst an dem, was eine erfolgreiche und sachgemäße Problemlösung bedeutet, und zuletzt bzw. grundsätzlich, was die Utopie der Erlösung verheißt.

Genuss als kommunikative Potenz des menschlichen Bewusstseins

Dass die Empathie zwischen den Menschen „durch den Magen“ geht, ist ein Allgemeinplatz, also eine Alltagsweisheit. Denn die Nahrungsaufnahme ist nicht nur eine biologische Notwendigkeit, um zu überleben, sondern ein gemeinsamer Genuss; zumindest kann sie das sein.

Im Anfang war das Gespräch (sermo), so übersetzt auf mutige Weise Erasmus von Rotterdam den ersten Vers des Prologs des Evangelium nach Johannes. Und ich ergänze: Im Anfang war das Gespräch beim gemeinsamen Essen.

Wer zum gemeinsamen Essen und Trinken einlädt, will Empathie zeigen und in dieser Form gemeinsame Nahrungsaufnahme realisieren. Das gemeinsame Essen setzt also nicht nur Genussfähigkeit der Menschen voraus, sondern ein Bewusstsein des gemeinsamen Genießens; schon bei der Vor- und Zubereitung des Essens; sogar bei der Einladung zu einem gemeinsamen „Mahl“.

In unserer arbeitsteiligen Warengesellschaft (mit all ihren Konsequenzen) beginnt der Genuss (oder Verdruss/Ärger) schon mit der Auswahl des entsprechenden Restaurants (im Internet) oder (zumindest bei mir) beim Lesen der Speisekarte die Vorfreude des Genießens.

Diese Vorfreude kann durch die Beachtung der Preisangaben der einzelnen Speisen durchkreuzt werden. Überteuerte Preise trüben den Genuss oder schon die Vorfreude und erhöhen das Risiko bei Geschmacklosigkeit.

Diese Überlegung zeigt, Genuss geht nicht nur durch den Magen, sondern stets auch durch den Kopf. Auch Genuss ist eine Bewusstseinsleistung und seine sprachlichen Ausdrucksformen entsprechen sowohl der jeweiligen Ess- wie Gesprächskultur. Selbst in der übertriebenen und oft skurrilen Sprachgebung der Speisen durch den Star- und Sternekoch und dessen Ambitionen bleibt – formal gesehen – der Zusammenhang von Gespräch und Genuss erhalten.

Insofern ist die „Phänomenologie der Ernährung und Umwelt“, wie sie die französische Philosophin Corine Pelluchon in ihrem Buch vorgelegt hat, eine notwendige Reflexion und Ergänzung, wenn (wie meine Absicht) das Programm der Aufklärung „zuende“ gedacht wird. Zu einer aufgeklärten Anthropologie am Ende des Anthropozän gehört die ökologische Analyse mit allen Sinnen.

Diese Anthropologie muss alle Bewusstseinsleistungen – ihre Entstehung, ihre Wirkungen und die zugehörigen Sprachspiele (also Ausdrucksformen) umfassen. So kann ich die Übersetzung des Erasmus – sermo statt verbum zu Beginn des Prologs des Evangeliums nach Johannes – erweitern: Im Anfang war und ist die Kommunikation. Auch das Genießen ist eine Potenz des menschlichen Bewusstseins; diese Möglichkeit kann ansteckend wie abschreckend erzählt werden.

p.s.

Für meine Analyse des Bewusstseins, in der ich mir schon sprachlich den Genuss einer Speise (und anderes darüber hinaus) vorstellen kann, spricht, dass es unterschiedliche Denkformen und Sprachspiele gibt: Einbildung ist weder Einsicht noch Utopie.

Literaturhinweis:

Corine Pelluchon: Wovon wir leben. Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt, Darmstadt 2020

Titel der Originalausgabe: Les nourritoures. Philosophie du corps politique, 2015

Mit dem Elefantenbein ins Mathias-Spital nach Rheine – dort kann geholfen werden.

Wem Gutes widerfuhr, der sollte nicht verschämt schweigen, sondern davon berichten. Denn in Notlagen sich daran zu erinnern, wo einem sachgerecht geholfen wurde, ist von hohem Nutzen.

Nützlich ist auch, sich mit Hilfe eines Stichwortes zu erinnern, denn im Labyrinth des menschlichen Bewusstseins geht manches verloren: auf Holzwegen und in Sackgassen.

Mein heutiges Stichwort ist „Elefantenbein“ und auf dieses Wort hin werde ich mich bis zum Lebensende an die „Methode Professor Lulay“ (im Gefäßchirurgischen Zentrum des Mathias-Spital in Rheine) positiv erinnern.

Der Reihe nach!

Eher zufällig wurde ich vor ein paar Wochen per Notarzt und Rettungswagen mit einem stark geschwollenen linken Oberschenkel in das Mathias-Spital in Rheine eingeliefert und erfuhr schon in der Notaufnahme durch einen Arzt – unter dem missbilligenden Blick seiner Kollegin –, dass es sich wohl um ein Elefantenbein handele.

Ich hörte zum ersten Mal von diesem Befund, war aber nicht irritiert, da ich auf Elefanten als Philosoph, der das Kommunikationsverhalten und das Erinnerungsvermögen dieser Tiere bewundere, positiv reagiere.

So landete ich bei Professor Dr. Gerd Rudolf Lulay, Spezialist für Gefäßchirurgie, und seinem Mitarbeiter, der mit seiner Methode der „kathedergestützten Trombolyse“ mein gefährliches Blutgerinsel in der Beckenvene erfolgreich zerstörte.

Als passioniertem Aufschreiber, so nenne ich meine Tätigkeit als Schriftsteller, bleibt mir die Möglichkeit, auf diese Weise zu danken, und meinen Freundinnen und Freunden mitzuteilen, dass durch die „Methode Lulay“ jedem geholfen werden kann, bei dem sich ein Blutgerinnsel in der Vene der Leistengegend festgesetzt hat; Stichwort: Elefantenbein.

p.s.

Natürlich habe ich im Pschyrembel (254. Auflage 1982) nachgelesen: dort heißt es unter dem Stichwort „Elephantiasis“ u.a. „unförmige Anschwellung von Körperteilen, bes. Extremitäten“. Bei Google werde ich unter dem Stichwort „Elefantenbeine Mensch“ mit zahlreichen Bildern erschlagen, vor allem mit Lipödemen „in fortgeschrittenem Stadium bei Frauen“. Ich zitiere aus einer Zeitung des Jahres 2019: „Schluss mit dem Elefantenbein: Kassen übernehmen Kosten“.

EINSPRUCH: Kriegstüchtigkeit – ein missverständlicher Begriff – für eine aktive Friedenspolitik und einen aufgeklärten, pragmatischen Pazifismus ungeeignet

Der Bundesminister der Verteidigung stellt immer wieder die Frage, ob – und erhebt die Forderung, dass – die Bundeswehr „kriegstüchtig“ werden muss. Er will damit Stärke in der Sprache als verantwortlicher Politiker zeigen, löst meiner Überzeugung nach dadurch Missverständnisse und unverantwortliche Emotionen aus.

Das Grundgesetz kennt allein die Friedenssicherung und den Verteidigungsfall. Handlungen, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben zu stören, insbesondere die Vorbereitung eines Angriffskrieges, sind verfassungswidrig und stehen unter Strafe (Artikel 26).

Der Verteidigungskrieg ist und bleibt eine Notmaßnahme, die natürlich effektiv vorbereitet sein muss. Aber diese Maßnahme ersetzt keine Bemühung um Frieden, geschweige denn, dass sie friedliche Verhältnisse und einen vertraglichen Frieden schafft. Frieden muss verhandelt, durchgesetzt und gesichert werden. Das ist die primäre Aufgabe verantwortlicher Politik.

Maßnahmen der Schaffung, Sicherung und Erhaltung von Frieden und Maßnahmen des effektiven Grenzschutzes und der Verteidigung schließen sich nicht aus, sondern müssen sich ergänzen. Diese Verknüpfung ist für mich als aufgeklärten, pragmatischen Pazifisten entscheidend, da ich an der Utopie des „ewigen Friedens“ festhalte, „Krieg“ niemals ein Mittel zu irgendeinem Zweck sein kann. Aber der Friede zwischen Menschen, Staaten und in der Gesellschaft muss stets wieder durchgesetzt werden; auf der Basis von Menschenwürde und Menschenrecht – und mit Empathie.

Wer Kriegstüchtigkeit zur Norm erhebt, verletzt die Menschenwürde. Wer Macht ausübt und diese Ausübung missbraucht, muss entmachtet und in einem gerechten Verfahren bestraft werden. Demokratische Staaten und Gesellschaften kennen und praktizieren legale Machtausübung auf Zeit. In ihnen werden Verbrechen gesetzmäßig geahndet, ohne Menschenwürde und Menschenrechte außer Kraft zu setzen. Das ist meine Überzeugung eines pragmatischen Pazifismus.

Notwendige und Sinn-erschließende Übersetzung der Leistungen des menschlichen Bewusstseins vom theozentrischen ins anthropozentrische Weltbild

In einem Weltbild lassen sich die grundsätzlichen Erkenntnismöglichkeiten des menschlichen Bewusstseins in einer jeweiligen Epoche (Weltverständnis) aufzeigen und zusammenfassen. Ich unterscheide die Vorstellungen, Denkmöglichkeiten (Potenzen) und Sprachformen (Sprachspiele) vor und nach der Aufklärung und kennzeichne sie zusammenfassend als theozentrisches und anthropozentrisches Weltbild.

Die Ablösung der Weltbilder lässt sich sowohl historisch als auch strukturell beschreiben. Der Ablösungsprozess verläuft sowohl chronologisch als auch gleichzeitig – in struktureller Konkurrenz – ab.

Im theozentrischen Weltbild (der zwei Wirklichkeiten) sind Theophanie, Apotheose und Adoptionismus vorstellbar und in religiösen Sprachspielen erzählbar. Die Welt der Götter/des Gottes und die Welt der Menschen auf der Erde stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander und werden in vielfältigen Schöpfungsmythen erzählt. Paradieserzählungen stehen oft am Anfang oder werden zukünftig erwartet.

Im anthropozentrischen Weltbild wird die Trennung von Himmel und Erde (und Unterwelt) als Mythos entziffert. Aufgeklärte Menschen halten auf der Basis dieser Welterkenntnis Paradiesvorstellungen (sowohl im Himmel wie auf der Erde) für eine erklärbare Illusion.

Die Frage ist: Bleibt dem aufgeklärten homo sapiens am Ende des Anthropozän nur der allgemeine Pantheismus oder eine vielfältige Form des Atheismus als mögliche Weltanschauung? Meine Antwort ist: Nein!

Zumindest die hebräische Bibel – als Grunddokument von Judentum und Christentum – und ihre griechische Übersetzung (LXX) kennen das Messianische Denken; die Propheten erwarten den Messias als (konkrete) Utopie in vielfältigen apokalyptischen (und damit chronologisch erzählten) Sprachspielen. Die Zeit/Wiederkehr des Messias/Christus ist nahe (als Naherwartung oder in kairologischer Erfahrung – jenseits von Raum und Zeit. In dieser Utopie ist Erlösung universal denkbar, konkret vorstellbar und überzeugend (als Credo/Glaube) mitteilbar.

Ich behaupte, auch für aufgeklärte Menschen – nicht nur aufgeklärte Juden und Christen – ist Erlösung denkbar. Das bedeutet: Atheismus muss keine Weltanschauung sein, sondern auf die „Gotteshypothese“ (so Bonhoeffer) beim Lösen von Problemen im Alltag, in der Gesellschaft und in der Wissenschaft kann verzichtet werde. Ich spreche daher vom „methodischen Atheismus“.

Da alles Problem-Lösen vorläufig ist (Provisorium und Antizipation zugleich), kann und muss Erlösung im heutigen Bewusstsein der Menschen mitgedacht werden. In das anthropozentrische Weltverständnis übersetzt, bedeutet das: Erlösung (konkret: der Erlöser) kann kairologisch erfahren und mitgeteilt werden: als Befreiung und Umkehr.

Für aufgeklärte Christen ist die Botschaft des Messias Jesus aus Nazaret maßgebend (dokumentiert in den „Evangelien“ des Neuen Testamentes als Explikation der prophetischen Verheißungen) und es gilt der kategorische Imperativ des exil-jüdischen Schriftgelehrten Paulus aus Tarsus: „Euer Leben sei ein ‚vernünftiger Gottesdienst‘“ (eine griech. latreia logiké).

p.s.

Chronologisch erzählte Messias-Erwartungen müssen in kairologisch erfahrene Befreiung übersetzt werden.

Gerade habe ich gelesen:

(1) Daniel Boyarin, Die jüdischen Evangelien. Die Geschichte des jüdischen Christus, Würzburg 2015, Judentum, Christentum, Islam. Interreligiöse Studien, Bd. 12 (übersetzt aus dem Amerikan., New York 2012)

Rosenmontagerinnerung

oder: Der Niederrheiner in mir

Seit langem lebe ich im Münsterland, bin 80 Jahre alt, die Zeit des Karnevals hat begonnen, wenn man den Zeitungsberichten über Prinzenpaare, Karnevalssitzungen und Tanzformationen glauben darf.

Heute habe ich eine Tüte, gefüllt mit Puderzucker bestreuten Mutzen erhalten, erworben bei der hiesigen Bäckereifiliale.

B. weiß aus Geschichten meiner Kindheit am Niederrhein, dass meine Mutter am Rosenmontag jedes Jahres Mutzen und Mutzenmandeln auftischte, mit Puderzucker bestreut. Dazu gab es am Nachmittag, nach dem obligatorischen Besuch des Krefelder Rosenmontagszuges mit dem Einfangen und Einsammeln zahlloser Karamelbonbons, die ich als Beute mit nach Hause nahm, aber nie lutschte – ein trotz Nachkriegszeit verwöhntes Einzelkind – heiße Schokolade.

Siebzig Jahre später brühe ich mir am späten Nachmittag einen doppelten Espresso und beiße auf die weiß bepuderten Mutzen. Spontan schmecke ich den Unterschied: damals hatte der Teig mehr Blasen, war dünner und die rautenartig geformten Plätzchen schmeckten leicht süß; verstärkt durch den heißen Kakao, der vielleicht aus einem Care-Paket der Engländer stammte. Das war meine Kindheitssehnsucht an jedem Rosenmontag im Jahr.

Ich bin erstaunt, nicht verwundert über mein präzises Erinnerungsvermögen, die Geschmackserinnerung meines Bewusstseins nach so langer Zeit. Man/frau verzeihe mir diese Formulierung; gerade habe ich Hugo Lagercrantz Buch (Berlin 2019, wissenschaftlich komplex) über die Entwicklung des frühkindlichen Gehirns: Die Geburt des Bewusstseins gelesen.

Ich erinnere die damalige Bäckerei an der Ecke Nordstraße in Krefeld und den jährlich wiederkehrenden Genuss dieses Rosenmontagsgebäcks in der sonst so genussarmen Nachkriegszeit.

Ich denke sowohl über die Erinnerungsmöglichkeit und -Leistung meines Bewusstseins nach, als auch die mangelnde Kenntnis des westfälischen Bäckers, rheinische Mutzen herzustellen. Nach einiger Zeit des Grübelns – der Esspresso schmeckt nicht zu den Mutzen und die Mutzenmandeln fehlen – vermute ich eine grundlegende Differenz zwischen niederrheinischem und münsterländer Gebäck und Geschmack.

Und ich verallgemeinere (typisch philosophisch): der westfälische Geschmack ist herber und bissfester als das rheinische, süßere Empfinden. Und ich übertrage meine Erkenntnis auf eine andere Leibspeise: Wurstebrot (westfälisch) und Panhas (rheinisch).

Und ich schließe meine Rosenmontagsanalyse mit der Einsicht: seit über 50 Jahren lebe ich im Münsterland, aber mein Geschmack ist niederrheinisch geblieben; zumindest in der Erinnerung.

p.s. (lt. Wikipedia)

Mutzen, auch Mutze (ich kenne nur den Plural), sind ein rheinisches Siedegebäck (in Rautenform), das traditionell zu Karneval und Silvester hergestellt wird. Neugierig spüre ich im etymologischen Wörterbuch nach und finde: (ital.) mozzare (abschneiden) und zur Sprachfamilie gehörend (im 20. Jahrh.) „aufmotzen“.

Universalismus statt Tribalismus

Susan Neiman, amerikanische Philosophin und seit 2000 Direktorin des Einstein Forums in Potsdam hat zum 50. Jahrestag der Grundwertekommission der SPD einen Vortrag gehalten, der in verkürzter Form in der Frankfurter Rundschau (FR Nr. 281 vom 2./3. Dezember 2023) veröffentlicht wurde: „Wer die Hoffnung auf Fortschritt aufgibt, ist nicht mehr links“, in dem sie im Sinne der Aufklärung und der jüdischen Tradition in Deutschland den Tribalismus, und damit alle Formen des Rassismus verurteilt. Sie erinnert in diesem Kontext an Moses Mendelsohn, Heinrich Heine, Karl Marx, Eduard Bernstein, Albert Einstein, Walter Benjamin und Hannah Arendt.

Ich stimme der grundsätzlichen Kritik an jeder Form von Tribalismus (inklusive Antisemitismus und Nationalismus) zu und verweise zusätzlich auf Hermann Cohen (aus dem Neukantianismus kommend) und Franz Rosenzweig (Stern der Erlösung) und das aus den Propheten-Erzählungen der jüdisch-christlichen Bibel stammende messianische Denken.

Ich habe in meinen Überlegungen zur Anthropologie der Aufklärung (siehe: Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän, Münster 2023) versucht, das Programm der Aufklärung mit dem Messianischen Denken der Erlösung des Judentums wie des Christentums zu verknüpfen, um so „Stammesdenken“ und Nationalismus wie Rassismus, als auch „Volkstümelei“ zu überwinden.

Erlösung (als konkrete Utopie) weltweit zu denken und zu erhoffen und das religiös geprägte Stammesdenken zu überwinden, verbindet aufgeklärte Christen und Juden mit allen aufgeklärten Menschen, denn der Universalismus hat eine entscheidende Wurzel in den prophetischen Schriften der jüdischen Bibel.

Das messianische Denken widerspricht nicht den Exodus-Erzählungen des „Volkes Gottes“, sondern diese sind der konkrete (geschichtliche) Ausgangspunkt der messianischen Erwartungen. Auch wenn bis heute die Differenz zwischen dem erschienenen und dem zu erwartenden Messias bei Christen und Juden erhalten bleibt, verbindet beide das messianische Denken und Hoffen (wenn auch in unterschiedlichen Vorstellungen) als Utopie der Erlösung für die Menschheit und die Welt.

Schon zur Zeit des Jesus aus Nazaret existierten jüdische Gemeinden in der weltweiten Diaspora, in Distanz zur Tempelfrömmigkeit in Jerusalem.Schon weit vor der „Zeitenwende“ (im christlichen Verständnis) leben jüdische Gemeinden „zerstreut“ im Römischen Reich und auch die Dynamik des Christentums entwickelt sich in Kleinasien; verstärkt durch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch römische Truppen um 70 n.Chr. Die Botschaft der Erlösung im Sinne der Messias-Erwartung ist universal und nicht mehr stammes- oder tempel-gebunden.

Schon im Hebräerbrief – vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels verfasst – wird argumentiert, dass die Hinrichtung des Messias am Kreuz und seine erlösende Wirkung („Auferstehung“) außerhalb des Tempelbezirkes stattgefunden hat.

Das messianische Denken bei Diaspora-Juden wie bei Christen ist nicht mehr tempelgebunden bzw. kultgebunden (Beschneidung). Paulus aus Tarsus in Kleinasien ist ein typischer jüdischer Schriftgelehrter des Diaspora-Judentums, der in griechischer Sprache argumentiert und nach dem Scheitern der Reform der jüdischen Gemeinden zum „Weltapostel“ des Christentums wird.

Seine Erlösungsbotschaft hat sich radikal von kultischen Stammesvorstellungen gelöst. Die jüdisch-christliche Ablehnung des Tribalismus erlaubt und ermöglicht aufgeklärten Menschen, auch im 21. Jahrhundert Jude oder Christ zu sein. Zwischen der Bedeutung von „Volk“. „Raum“ und „Heimat“ muss unterschieden werden.

Nationalistische, rassistische Positionen, religiös begründet, widersprechen dem messianischen Denken der Bibel grundsätzlich. Daher müssen auch die jüdische „Orthodoxie“ wie christlich-dogmatische Kirchenideologien kritisch hinterfragt werden.

Was ist der aufgeklärten Christen Heimat?

Was ist die „Heimat“ der Menschen, die sich auf unterschiedliche Weise zum Judentum bekennen? Ich spreche sowohl von den Reformjuden als auch von den Orthodoxen, von den Diasporajuden bis zu den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern des heutigen Staates Israel.

Wenn ich Michael Wolffsohn in seinem Buch „eine andere jüdische Weltgeschichte“ (Freiburg 2022) recht verstehe, ist die Antwort: Heimat sind für die jeweils Betroffenen alle Gegenden der bewohnten Erde, in denen jüdische Gemeinden als religiöse Gemeinschaften – seit langem – existieren. Verstärkt wird diese Antwort durch die Realität und die Folgen des Holocaust.

Jüdischen Menschen, die religiös praktizieren (wenn auch in unterschiedlicher Strenge) oder aus orthodoxen Familien stammen, und in verschiedenen Gegenden Europas lebten, wurden durch die deutsche Nazi-Herrschaft systematisch ausgerottet, auch wenn dieses Verbrechen, dieser „liquidierende Antisemitismus“ (so Wolffsohn) nicht hundertprozentig „erfolgreich“ war, trotz über 6 Millionnen ermorderter Menschen. So gibt es heute (wieder) deutsche Juden, also Menschen, deren Heimat (in) Deutschland ist.

Aber da es in Deutschland auch nach der Nazi-Diktatur, also nach 1945 weiterhin mentalen Antisemitismus gab und in immer offensiverer und kriminellerer Weise gibt, verstärkt durch Einwanderung und Fluchtbewegung, verstärken sich auch die Sorgen und Ängste der deutschen jüdischen Bevölkerung. Diskriminierung und Angriffe auf Leib, Leben und Synagogen nehmen rapide zu.

In dieser menschenunwürdigen Situation gab und gibt es (noch) einen sicheren Fluchtpunkt: der im letzten Jahrhundert gebildete Staat Israel, der nicht nur für die orthodoxen Juden das „gelobte Land“ der Bibel ist.

Aber auch diese Sicherheit war und ist gefährdet, weil die Bildung eines zweiten Staates verhindert wurde – und der (mein) Traum eines gemeinsamen Staates, in dem alle Menschen friedlich und gemeinsam leben können (Juden, Muslime, Christen, Beduinenstämme und Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft (mehr) angehören) unerfüllt bleibt. Meine Vorstellung und mein Wunsch einer gemeinsamen Heimat wird konterkariert durch Hass, Terror und Krieg – Formen der Vernichtung. Das Bewusstsein vieler Menschen bleibt geprägt durch Vertreibung und Vernichtung.

Programm und Prozess der Aufklärung leben von dem Ziel, dass alle Menschen am Ende des Anthropozän eine Heimat haben, in der sie gemeinsam, frei, menschenwürdig, gesund und ohne Hunger und Not leben können.

Zur Zeit leben erst unter 30 % der Weltbevölkerung in (demokratischen) Staaten, die zumindest das Ziel des Prozesses der Aufklärung anerkannt haben und dafür arbeiten, dieses Ziel weltweit zu realisieren.

Angesichts dieser Analyse der Realität stelle ich die präzise Frage, was der Christen Heimat sei. Die traditionelle Antwort, Christen hätten auf der Erde keine Heimat, ihre Heimat sei der „Himmel“ – formuliert in einem religiösen Sprachspiel – ist am Ende des Anthropozän nicht nur naiv, sondern un-sinnig; übrigens genau so wie die Vorstellung, ein „Paradies auf Erden“ schaffen zu können.

Aufgeklärte Christen (Messias-Überzeugte) leben in der Tradition des messianisch-jüdischen Täufertums (während der Zeitenwende). Sie leben in der Überzeugung, dass Jesus aus Nazaret der Messias ist. Diese Überzeugung befreit sie von allem Kult, allem Aberglauben und aller Verzweiflung angesichts der Endlichkeit ihres individuellen Lebens.

Diese konkrete Utopie der Erlösung ist erfahr-, erzähl- und weitererzählbar und befähigt den Christen zu erkennen, „was gut und vollkommen ist“ (so Paulus aus Tarsus in seinem Brief an die Römer). Ich übersetze diese Erkenntnis: sie befreit den Menschen, die Probleme dieser Welt zu lösen, wenn auch in der Dynamik des Vorläufigen, in der konkreten Utopie der Erlösung.

Daher stimme ich der Aussage von Hannah Arendt (1958) zu:

„Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden“. Arendts Aussage hat zwei Teile: einen Indikativ (= der homo sapiens ist ein sterblicher Schöpfer, kein Geschöpf) und einen daraus folgenden Imperativ (= die Welt des homo sapiens muss dauernd erneuert werden).

Ich übertrage diese Erkenntnis in meine Argumentation: die Menschen können die Probleme ihres endlichen Lebens auf der Erde selbstbewusst und selbstverantwortlich lösen. Aus der Endlichkeit ihres individuellen Lebens resultiert die Vorläufigkeit aller Problemlösungen (provisorisch und antizipativ).

Die Konsequenz dieser Vorläufigkeit besteht darin, alle Problemlösungen zu überprüfen und gegebenenfalls zu erneuern; im Sinne von Menschenwürde, Gerechtigkeit und Empathie.

Angesichts dieser Überlegung wiederhole ich meine Frage nach der Heimat der Christen und antworte: die von Menschen bewohnte Erde und ihre Natur sind die Heimat. Aus der Zusage der Erlösung ergibt sich der universale Auftrag, die befreiende Verpflichtung, die „Welt im Sein zu erhalten“(so H. Arendt).

Trotz der unlösbaren Differenz in Bezug auf die Messias-Erwartung zwischen Juden und Christen, sind die Aussagen der biblischen Propheten die gemeinsame Wurzel: Heimat ist für Christen wie Juden die bewohnbare Erde unter der Zusage der Erlösung der Welt – für alle Menschen.