Auslagerung

Problemlösungen mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz (KI) sind seit jeher ausgelagerte und optimierte Bewusstseinsleistungen, bleiben vorläufig und bedürfen einer sachgemäßen Kontrolle.

Künstliche Intelligenz ist dem Grunde nach kein neues Phänomen der Gegenwart. Die systematische und erfolgreiche „Auslagerung“ von Möglichkeiten (Potenzen) des menschlichen Bewusstseins kennzeichnet die Entwicklung der Menschheit (die Menschheitsgeschichte) von Anfang an.

Diese Entwicklung des homo sapiens im Anthropozän darf nicht mit der biologischen Evolution des Menschen als sterbliches Naturlebewesen verwechselt werden; auch wenn Entstehung und Sterblichkeit des Individuum „Mensch“ seine „Natur“ prägen. Alle ideologischen Spielarten des Naturalismus verwechseln Natur (die Gesetze der Evolution) und Geschichte (der Menschheit, ihrer Gesellschaften und Kulturen).

Auch die religiösen Sprachspiele (Schöpfungsmythen und Paradiesvorstellungen) verfälschen die realen Bedingungen der Entstehung und Entwicklung der Menschheit auf dem Planeten Erde. Diese Projektionen sind durch theozentrische Weltvorstellungen (Weltbilder) geprägt. Ob, und wenn ja, welche Bedeutung diese Projektionen für das Bewusstsein des homo sapiens hatten und haben, kann erst im Rahmen einer religionskritischen Analyse geklärt werden.

Ein Ergebnis aufgeklärten, religionskritischen Denkens kann ich schon vorwegnehmen: Paradiesvorstellungen im Himmel wie auf Erden sind Projektionen des menschlichen Bewusstseins und keine realen Zielvorgaben.

Zurück zur Entstehungsgeschichte des Bewusstseins der Menschen. Schon Erasmus von Rotterdam (zu Anfang des 16. Jahrhunderts) übersetzt den ersten Vers des Prologs des Johannes-Evangeliums (im Anfang war der logós) vom Griechischen ins Lateinische mit sermo (Gespräch) statt verbum (Wort). Das war sehr mutig und verstieß gegen die Vulgata-Übersetzung des Hieronymus. Ich erweitere für meine Argumentation: Im Anfang war die Kommunikation.

In ihr und durch sie entwickelt sich die einzigartige Intelligenz der Gattung homo sapiens,“die sie zu Empathie, Abstraktion (Jenseitsvorstellungen) und Transitivität (es ist ihm geschehen, es wird allen geschehen) befähigt“. (Zitat aus: T. Pievani, V. Zeitoun: Homo sapiens. Der große Atlas der Menschheit, Darmstadt 2020, S. 115)

Mir geht es in meiner Analyse nicht um die anatomische Sicht des modernen Menschen (innerhalb der biologischen Evolution), sondern um die speziellen Leistungen des menschlichen Bewusstseins (bzw. seines Selbstbewusstseins).

Bevor ich in mehreren Szenarien (1 – 9) die kommunikativen Lernprozesse der   Menschen (vom Anfang ihrer Geschichte bis heute) erläutere, die zu Auslagerung, Regulierung und Arbeitsteilung sowie zur notwendigen Kontrolle dieser Resultate der (vorläufigen, da korrigierbaren) jeweiligen Problemlösung führen, zitiere ich Hannah Arendt (1906-1975):

„Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden.“ (1958)

Die Schöpferkraft des einzelnen Menschen ist zwar begrenzt, da das Individuum (als Naturwesen) sterblich ist, aber durch Kooperation und Auslagerung der Potenzen des menschlichen Bewusstseins können die Probleme des menschlichen Lebens und Überlebens erfolgreich, wenn auch vorläufig gelöst werden.

Bezüglich des Programms der Aufklärung am Ende des Anthropozäns und unter den Bedingungen des anthropozentrischen Weltbildes habe ich daher 2023 (in meinem Buch „Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän“) formuliert:

„Die schöpferische Potenz des menschlichen Bewusstseins besteht darin, Probleme erfolgreich, nachhaltig und überprüfbar zu lösen. Diese Potenz steht unter dem Vorbehalt der Sterblichkeit des Menschen als Individuum und lebt aus der Dynamik des Vorläufigen (provisorisch und antizipativ zugleich).“

In einem summarischen, historisch-kritischen Rückblick (in verschiedenen Szenarien) versuche ich, die Geschichte erfolgreicher Problemlösungen zu skizzieren:

(1) Die ersten Menschen haben gelernt, das Feuer, um das sie in Gruppen saßen, gebrauchsorientiert zu nutzen, nicht nur als Licht- und Wärmequelle, sondern auch zur Nahrungsaufbereitung. Zugleich waren sie (zunehmend) in der Lage, das Feuer zu kontrollieren, insbesondere wenn sie ihr Wissen in Bild und Schrift weitergaben, also nicht nur einander mitteilten, sondern – mitteilbar und anwendbar – fixierten. Die „Auslagerung“ von Wissen aus der Erinnerung im Gespräch – führt zur Arbeitsteilung, Regulierung und der notwendigen Kontrolle, um sich vor Gefahren zu schützen.

Von Anfang an hat der Naturschutz eine doppelte Funktion: er soll die Menschen vor Gefahren schützen und die Natur vor Missbrauch der Natur durch den Menschen.

(2) Während sich die ersten Menschen (nach ihrer Wanderung aus Afrika nach Europa) in ihren Höhlen vor den Naturgefahren schützten, lernten sie auch, sich „die Zeit zu vertreiben“.Sie schnitzten aus Tierknochen und Hörnern Tiere, symbolische Frauenkörper und Flöten, auf denen sie zu musizieren lernten. Zum gemeinsamen Problemlösen gehört auch die künstlerische Tätigkeit: malen, schnitzen, musizieren.

(3) Die ersten Menschen entwickelten ihr Bewusstsein im Umgang mit den verstorbenen Mitmenschen und mit ihrer eigenen Sterblichkeit. Es entstehen Praktiken und Kulturen der Trauer und Erinnerung, sowie Vorstellungen in religiösen Sprachspielen und speziellen Begräbnisformen.

Das Nachdenken über die Sterblichkeit ermöglicht dem aufgeklärten homo sapiens, die Differenz zwischen chronologischen Vorstellungen und Erwartungen und kairologischen Erfahrungen (am Ende des Anthropozän) zu erkennen und auf dieser Basis – in Form konkreter Utopie – die Überzeugung von der Erlösung zu  gewinnen.

Vielleicht können auf diese Weise sowohl aufgeklärte Christen als auch aufgeklärte Atheisten (jenseits der Weltanschauungen des Polytheismus, Monotheismus oder Pantheismus sowie des Atheismus) Erlösung denken und ihrer Überzeugung bedeutsamen Ausdruck geben.

(4) Die ersten Menschen haben gelernt und lernen bis heute, ihren Alltag und ihre Zukunft zu regulieren. Dazu gehört auch die Sicherung und die Wissensvermittlung an die Nachkommen. Zeugung, Geburt und Aufzucht werden geplant und gesichert. Ich polemisiere: am Anfang der Menschheitsentwicklung steht nicht die Prostitution, sondern der Hebammen-Beruf.

(5) Die ersten Menschen haben gelernt (und lernen bis heute), alte und kranke Mitmenschen zu versorgen und zu pflegen. Diese Sorge wurde teilweise im Laufe der Jahrhunderte ausgelagert in Spitale und Krankenhäuser und in spezielle Berufe der Pflege und der ärztlichen Versorgung.

(6) Die Menschen haben gelernt und lernen bis heute, ihre Problemlösungen durch Bild, Schrift und Buch systematisch (und für andere erlernbar) auszulagern: von der Bibliothek (des Altertums) über die Vervielfältigung des Wissens durch den Buchdruck bis zum weltweiten Internet.

(7) Auf der Ebene des Handwerks und der Produktion der für das Leben der Menschen notwendigen Güter zeigt sich, dass ihr Charakter als „Ware“ keine Kontrolle im Sinne von Menschenschutz und Naturschutz ist. Auch die weltweite Güterproduktion durch Maschinen ersetzt nicht die Kontrolle, sondern verlangt sie auf sachgemäße Weise.

(8) Die bewusste Wahrnehmung durch die menschlichen Sinnesorgane kann ebenfalls ausgelagert werden. So ist die Wahrnehmung der Umwelt durch einen Roboter (und seine Kommunikation durch künstliche Sprache) imitierbar und als einzelne Sinnesleistung (auch durch sprachliche Reaktion) optimierbar. Diese Formen der Imitation (Auslagerung als homunkulus-Konstruktion) irritieren und regen die Phantasie an, können aber z.B. als Drohnen zu Zerstörung und Vernichtung (im Krieg) missbraucht werden.

(9) Den Menschen gelingt es, durch „affective computing“ die emotionale Wirkung von Gefühlen zu imitieren und diese Wirkung gezielt auszulagern. Solche KI-Programme können die Autonomie des einzelnen Menschen gefährden. Für alle Mensch-Maschine-Systeme gilt: Rückschlüsse von wahrgenommener Gestik und Mimik auf emotionale Zustände sind nie eindeutig und bedürfen der Überprüfung, um Missverständnisse (gewollt oder ungewollt) und Missbrauch auszuschließen. Das gilt übrigens sowohl für den Automaten (hinter den menschliche Interessen stecken) wie den Menschen.

(vgl. E. Weber-Guskar: Gefühle der Zukunft. Wie wir mit emotionaler KI unser Leben verändern, Berlin 2024)

Alle „Auslagerungen“ der Potenzen des individuellen Bewusstseins sind ein Fortschritt in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften, aber zugleich ein Risiko, das der Kontrolle der Menschen vom Anfang „ihrer“ Geschichte bedarf. Die heute vorherrschenden Ideologien des Naturalismus und Konstruktivismus be- und verhindern die Einsicht, dass Auslagerung und Kontrolle zusammen gehören.

Aus der Erkenntnis, Probleme des Lebens und Überlebens gemeinsam erfolgreich lösen zu können, aus der Einsicht in die Vorläufigkeit aller Lösungen und aus der notwendigen Vorsicht, also Kontrolle des eigenen Verhaltens während der Problemlösungsprozesse, sowie der Erkenntnis, Gebrauch und Missbrauch aller „Werkzeuge“ unterscheiden und bewerten zu können, entwickelt sich das eigenständige Bewusstsein des homo sapiens und bilden sich die gesellschaftlichen Normen.

In meiner „Anthropologie der Aufklärung“ stelle ich die Möglichkeiten des menschlichen Bewusstseins als gemeinsame Schnittmenge von Natur (ES) und Gesellschaft/Norm (ÜBERICH) in der Geschichte dar. Daraus wird deutlich, dass die Geschichte der Menschheit anders verläuft als die Evolution der Natur. Auch versuche ich in meiner Anthropologie der Aufklärung zu zeigen, dass der Prozess der menschlichen Geschichte nicht ziellos verläuft, wie konstruktivistische Weltanschauungen vermuten, sondern „Erlösung“ als Utopie gedacht werden kann.

Der homo sapiens zeigt sich am Ende des Anthropozän als homo praestans, der für sein Denken und Handeln einsteht; seine Verantwortung ist ungeteilt.

Die Menschen lernen, ihre „sterbliche Schöpferkraft“ einzuschätzen und zu regulieren. Dieser Lernprozess verläuft nicht zwangsläufig, sondern entscheidungsorientiert.

Ich fasse zusammen:

Von Anfang an ist Verantwortung in kommunikativen Strukturen die einzige Möglichkeit, Konsequenzen aus der Dynamik des Vorläufigen bei allen Problemlösungen zu ziehen und den „Fortschritt“ der Menschheitsentwicklung zu sichern. Dabei ist dieses Wort problematisch, weil es das Risiko der Dynamik des Vorläufigen in allen Problemlösungsprozessen (im Alltag, in der Gesellschaft, in der Wissenschaft) unterschlägt. Dass ein zunehmend großer Teil dieser Problemlösungsprozesse seit jeher ausgelagert und optimiert wird, ändert nichts an der Verantwortung der Menschen für diesen Prozess.

Um es pointiert zu formulieren:

Der zerstörerische Brand der Bibliothek von Alexandria im Altertum bleibt genau so verantwortungslos wie die Produktion von (imitierten) fakenews im weltweiten Internet.

Und ich füge hinzu: die mythologischen Erzählungen von der Schöpfung (inklusive der Paradiesvorstellungen) setzen ein – historisch gesehen – überholtes theozentrisches Weltverständnis voraus; auch wenn die Bedeutung der religiösen Sprachspiele der (möglichen) Übersetzung bedarf. Für den aufgeklärten Menschen bleibt klar: es gab  und gibt und wird nicht geben: das Paradies im Himmel wie auf Erden.

Die heute fortschreitende Auslagerung von menschlichen Bewusstseinsleistungen verlangt eine angemessene und wirksame Kontrolle. Diese Kontrolle ist nicht ziellos, sondern orientiert sich zuerst an dem, was eine erfolgreiche und sachgemäße Problemlösung bedeutet, und zuletzt bzw. grundsätzlich, was die Utopie der Erlösung verheißt.

Gegen die Lagermentalität – Zum Ursprung des Christentums

Aus dem Brief an die Hebraier (13,13-14):

Daher wollen wir hinausgehen zu ihm (Jesus Christos), außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend, denn nicht haben wir hier eine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. (Übersetzung: Münchener NT) (Vulgata: „extra castra“; NT gr.: ménousan/méllousan pólis; vulg./lat.: civitas)

Das ursprüngliche Christentum ist eine messianische Täuferbewegung innerhalb des Judentums in der damaligen Zeit, deren Gemeinden sich, so der Hebräerbrief (entstanden vor der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die römischen Truppen), als „außerhalb des Lagers“ verstehen, also keine Tempel- und Opfer-orientierte Religionsgemeinschaft sind. Diese Gemeinschaften haben keine „bleibende polis“, sondern erinnern sich an und bekennen sich zu Jesus aus Nazaret als ihren Messias und suchen eine „neue polis“.

Christen können sich also – im religiösen Sinn – nicht auf ein räumliches Zentrum rückbeziehen; weder auf Jerusalem (mit dem Tempel), noch Konstantinopel noch Rom. Denn sie leben und handeln weltweit „außerhalb des Lagers“; das ist ihr universaler Auftrag. Überall, wo sie sich im Namen und Auftrag des Messias (Christos) Jesus zusammenfinden und sich seiner kenosis erinnern und seiner Erlösung (der Welt) gedenken und diese durch ihr Verhalten bezeugen, sind sie zu hause.

Religionen beziehen sich auf ein religiöses Zentrum; daher spreche ich von religio als Rückbezug. Judentum wie Christentum sind durch die Exodus-Struktur gekennzeichnet; kennen aber auch – sekundär – den Schöpfungsmythos (erzählt im Buch Genesis). Das Christentum erwartet und erfährt (als kairologisches Ereignis – in der Deutung des Paulus aus Tarsus) den Beginn der „Gottesherrschaft“. Übersetzt vom theozentrischen Weltbild in das anthropozentrische Weltverständnis bedeutet das die konkrete Utopie der Erlösung, die befreit und verhindert, dass Zweifel und Endlichkeit in Verzweiflung und Vernichtung umschlagen.

Daher akzeptieren aufgeklärte Christen keine „Lagermentalität“; sie ziehen sich nicht in ihre „Kirchen“ zurück, sondern ihre Form der „Entweltlichung“ bedeutet, sich nicht den bestehenden Verhältnissen anzupassen, sondern Verantwortung für die Menschen und die Welt zu übernehmen.

Zum Hintergrund der Argumentation des „Briefes an die Hebraier“

Der Text des „Hebräerbriefes“ ist seiner Argumentation nach ein Traktat eines Gelehrten der Priestertheologie des hellenistischen Judentums, der gelernt hat, mit der biblischen Tempel- und Opfertheolgie zu argumentieren. Die Schärfe seiner Kritik am Tempeldienst und Opferkult (in Jerusalem) besteht darin, dass er diese Opfertheologie allein auf Jesus, den Messias, bezieht und die Adressaten seiner Argumentation, sog. „Judenchristen“, vor einem Rückfall in die Opferpraxis des Tempels in Jerusalem schützen will. Der Kontext im 13. Kapitel des Hebräerbriefes verdeutlicht dies:

Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit.

Lasst euch nicht durch schillernde und fremdartige Lehren verführen. Denn es ist gut, dass das Herz gefesselt wird durch Gnade, nicht durch Speisegebote; die sie befolgten, hatten keinen Nutzen davon.

Wir haben einen Altar, von den zu essen keine Vollmacht hat, wer dem Zelt dient. Denn die Leiber der Tiere, deren Blut der Hohe Priester als Sühnopfer ins Heiligtum hineinbringt, werden außerhalb des Lagers verbrannt.

Darum hat auch Jesus, um durch sein eigenes Blut das Volk zu heiligen, außerhalb des Tores gelitten.

Lasst uns also vor das Lager hinausziehen zu ihm und seine Schmach tragen, denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Durch ihn wollen wir Gott allezeit als Opfer ein Lob darbringen, das heisst die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen.

Vergesst nicht, einander Gutes zu tun und an der Gemeinschaft festzuhalten, denn an solchen Opfern findet Gott Gefallen.

(Hebr. 13,8-16 in der Übersetzung der Zürcher Bibel)

Schärfer kann die Kritik an den Speisegeboten und der Opfertheologie in der Sprache der jüdischen Priestertheologie (Nutzlosigkeit der Speisegebote und die Hinrichtung Jesu außerhalb des Tempelbezirks als einzig sinnvolles Blutopfer der „Heiligung“) nicht formuliert werden, auch wenn für aufgeklärte Menschen (auch Christen) unserer Zeit diese weltbildbezogene Denkweise fremd und unverständlich bleibt. Diese Kritik muss also in Bezug auf unsere Lebenspraxis übersetzt werden.

Ich fasse zusammen:

Der Verfasser der Argumentation des sog. Hebräerbriefes polemisiert gegen die „Lagermentalität“ derer in seinem Freundeskreis (der getauften messianischen Juden), die sich weiterhin am Tempelkult des Hohen Priesters und der dort stattfindenden Opferpraxis orientieren. Ich unterstelle, der Tempel in Jerusalem ist noch nicht durch die römischen Legionäre zerstört ( und das spricht für eine Entstehung des Briefes eindeutig vor 70 n. Chr.). Die Gegenargumentation in der Sprache der Priestertheologie ist:

(1) Es gibt nur einen Hohen Priester, und das ist Jesus aus Nazaret, der vor den Toren der Stadt (außerhalb der Mauern) hingerichtet wurde;

(2) Sein Tod ist das einzige sinnvolle Opfer zur Erlösung der Menschen;

(3) Und deshalb haben die Messias-Vertrauten (die Christen) hier (in Jerusalem) keine „bleibende polis“, sondern sie sind Suchende der „zukünftigen polis“.

Christen haben keinen heiligen Ort, kein Kultzentrum – nur Erinnerungsorte -, denn als „Erlöste“, als freie Menschen können sie überall „Gott loben“ – für die Befreiung danken (Eucharistie als Danksagung), sich sozial (für ihre Mitmenschen) engagieren (Diakonie/Caritas als Konsequenz) und (um der Erinnerung und Bezeugung der Erlösung willen) Gemeinschaft halten (ekklesia).

Überlegungen zu KAIROS oder der AUGENBLICK (nach Kierkegaard)

Søren Kierkegaard brachte die Zeitschrift „Augenblick“ (dänisch Ojeblikket) 1855 in Kopenhagen heraus; er war ihr Redakteur und einziger Beitragsschreiber. Neun Nummern erschienen in diesem Jahr 1855; die zehnte erst 26 Jahre nach dem Tode Kierkegaards (im November 1855). 1988 ist diese „Zeitschrift“ DER AUGENBLICK auf Deutsch in Nördlingen erschienen; hrsg. Von H.M. Enzensberger in seiner Reihe „Die andere Bibliothek“.

Ich wurde durch einen Vortrag in der letzten Woche, in dem ein Bogen von Hegel und Marx zu Kierkegaard geschlagen wurde, an diesen exzentrischen dänischen Theologen und Existenzphilosophen erinnert und hoffte, dass der von mir gebrauchte Begriff „kairos“ (im Gegensatz zu chronos) bei Kierkegaard eine spezielle Auslegung fände. Zunächst fand ich die mir bekannte (und im Alter gesteigerte) Polemik Kierkegaards gegen das verwaltete Christentum und dessen Repräsentanten: die dänisch-lutherische Staatskirche und ihre Bischöfe und Pfarrer. Diese ätzende Kritik ist der „rote Faden“ aller Beiträge dieser fiktiven Zeitschrift.

In dem Beitrag vom 29. Mai 1855 beantwortet Kierkegaard die Frage: Wann ist der „Augenblick“?

„Denn der Augenblick ist eben das, was nicht in den Umständen liegt, das Neue, der Einschlag der Ewigkeit (Hervorhebung von mir) – aber im selben Nu beherrscht es die Umstände in dem Grade, dass es trügerischerweise (darauf berechnet, weltliche Klugheit und Mittelmäßigkeit zum Narren zu halten) so aussieht, als ginge der Augenblick aus den Umständen hervor.“

Im weiteren nennt Kierkegaard den Augenblick das „Geschenk des Himmels“ und schließt seine Antwort mit der für ihn typischen überspitzten Aussage:

„Weltliche Klugheit ist ewig ausgeschlossen, im Himmel mehr verachtet und verabscheut als alle Laster und Verbrechen, wie sie ist; denn sie gehört ihrem Wesen nach von allem am meisten dieser elenden Welt an und ist am meisten von allen davon entfernt, mit dem Himmel und dem Ewigen zu tun zu haben.“ (a.a.O. S. 254)

Hier wird das „Lob der Torheit“ in der Kierkegaardschen Fassung besungen; anders als bei Erasmus von Rotterdam, obwohl sich beide auch auf Paulus aus Tarsus beziehen. Kierkegaard verweist in seinen Beiträgen zum „Augenblick“ auf die Tradition: er beginnt mit seinem „Kronzeugen“ Sokrates (ich weiß, dass ich nichts weiß) und kulminiert in der Demontage der Klugheit jüdischer Schriftgelehrter durch Jesus aus Nazaret.

Ich ergänze die Tradition dieser Denkschule und ihrer Lebenspraxis mit Hinweis auf Diogenes und die Kyniker aus hellenistisch-jüdisch-römischer Zeit. Heutzutage formuliert Bernhard Lang (2015):

„Wir können Jesus als eine Diogenesgestalt sehen. Er verdient einen Platz unter den Philosophen der antiken Welt“. (S. 46, B. Lang: Jesus, der Philosoph, Gütersloh 2015; vgl. Bernhard Lang: Jesus, der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, München 2010) Und auch die Vision und Botschaft des Paulus aus Tarsus in Kleinasien – in seiner Kenntnis und Auseinandersetzung mit der Stoa und den Kynikern seiner Zeit gehören in diesen Kontext.

Ich kehre zu der Auffassung von Kierkegaard zurück, Ewigkeit (oder Erlösung) nicht als chronologischen Wende- oder Endpunkt zu deuten, oder – aus der jüdisch-christlich-apokalyptischer Tradition heraus – als Wiederkunft Christi am Ende der Zeit chronologisch misszuverstehen. Kierkegaard spricht vom „Einschlag der Ewigkeit“, der nicht aus den „Umständen“ der Geschichte erklärt werden kann, sondern ein Ereignis sui generis ist.

Aber anders als Kierkegaard ziehe ich aus diesem Ereignis eine entgegengesetzte Konsequenz: dieser „Einschlag“ bedeutet nicht Abschied oder Trennung von der „elenden Welt“, sondern metanoia, Metamorphose. Entweltlichung ist keine Weltflucht, sondern im Sinne Jesu und seines Botschafters Paulus Befreiung – im Sinne der Nachfolge Jesu, unkonventionell, als radikale Menschenliebe. Ich erkenne im Neuen Testament, in der Botschaft wie im Verhalten Jesu, als auch in Theorie und Praxis seines Botschafters Paulus keine dualistische Tendenz (wie z.B. in Teilen der Gnosis oder des Manichäismus).

Menschen, die das Ereignis vom Einschlag der Ewigkeit erfahren und bekennen, sind befreit, passen sich dem herrschenden Äon dieser Welt nicht an, sondern schaffen eine neue Welt in der bestehenden. Paulus nennt dieses Verhalten in Theorie und Praxis im Römerbrief einen vernünftigen Gottesdienst (latreia logiké): „Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt, sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr zu prüfen vermögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“ (Röm 12,2)

Kierkegaard ist meiner Überzeugung nach in der Gefahr, dieses Ereignis – ich spreche in anderem Zusammenhang von konkreter Utopie – gnostisch/manichäistisch misszuverstehen. Daher führt seine Position der Entweltlichung in den Rückzug aus der (bösen) Welt und zur Verdammung der Institutionen – nicht zu ihrer Reform.

Die konkrete Utopie der Erlösung als „Entäußerung“ (Kenosis)

Im Bedenken und Übersetzen (als Versuch) eines urchristlichen Hymnus, den Paulus, der sich wahrscheinlich in Rom im Gefängnis befindet (um das Jahr 59/60 n.Ch.) und der sich als Sklave des Christus Jesus bezeichnet, in seinem Brief an seine Freunde in Philippi (Makedonien), die er als die Heiligen des Christus Jesus kennzeichnet, zitiert (Phil 2, 5-11):

Dies sinnt bei euch, was auch in Christos Jesus, der, als er in Gestalt Gottes war, nicht für Raub hielt das Sein gleich Gott, sondern sich selbst entäußerte, Gestalt eines Sklaven annehmend, in Gleichheit von Menschen geworden; und im Äußeren erfunden wie ein Mensch, demütigte er sich selbst, geworden gehorsam bis zum Tod, zum Tod aber (des) Kreuzes. Deshalb auch erhöhte ihn Gott und schenkte ihm den Namen, der über jedem Namen (ist), damit im Namen von Jesus jedes Knie sich beuge, (der) Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne: Herr (ist) Jesus Christos zur Herrlichkeit Gottes (des) Vaters.“

(Studienübersetzung Münchener Neues Testament, Düsseldorf 1998, 5.A.)

Übersetzung des Urtextes (Koine-Griechisch) ins Deutsche 2007; Zürcher Bibel:

Niedrigkeit und Erhöhung Christi
Seid so gesinnt, wie es eurem Stand in Christus Jesus entspricht:
Er, der doch von göttlichem Wesen war,
hielt nicht, wie an einer Beute daran fest,
Gott gleich zu sein,
sondern gab es preis
und nahm auf sich das Dasein eines Sklaven,
wurde den Menschen ähnlich,
in seiner Erscheinung wie ein Mensch.
Er erniedrigte sich
und wurde gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz.
Deshalb hat Gott ihn auch über alles erhöht
und ihm den Namen verliehen,
der über allen Namen ist,
damit im Namen Jesu
sich beuge jedes Knie,
all derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind,
und jede Zunge bekenne,
dass Jesus Christus der Herr ist,
zur Ehre Gottes, des Vaters.

Wer war Paulus von Tarsus (Kilikien; heute südl. Türkei)?

P. war, soweit wir heute wissen, ein griechisch gebildeter jüdischer Gelehrter, wie (damals üblich) auch ein ausgebildeter Zeltmacher, Anhänger des messianischen Judentums seiner Zeit, Römischer Bürger, Kenner der hellenistischen Philosophie seiner Zeit, Bekenner des Messias Jesus aus Nazaret, Botschafter und erster Theologe des Urchristentums, das sich „weltweit“ (also im Römischen Reich) entwickelte.

In diesem Hymnus wird auf sehr spezielle und konkrete Weise die „Menschwerdung Gottes“ im und durch den „Messias Jesus“ aus Nazaret verkündet, natürlich unter den Erfahrungen und Bedingungen eines theozentrischen (wie auch durch das römische Reich geprägten) Weltbildes.

Mein Problem und meine Frage ist: wie kann die Botschaft des Paulus, und insbesondere der von ihm zitierte „Hymnus“ sinnvoll unter den Bedingungen der anthropozentrischen Welterfahrung und den bewährten Methoden moderner Problemlösung („als wenn es Gott nicht gäbe“), also im „Zeitalter der Aufklärung und Wissenschaft“ übersetzt und verstanden werden?

Ich setze voraus (was ich anderswo erläutert habe), dass unter den Bedingungen der Aufklärung (Kritik jeder Metaphysik, Religionskritik, Sprachkritik) „Erlösung“ der Welt (als Grenzerfahrung allen vorläufigen Problemlösens) denkbar und erfahrbar, aber nicht begreifbar ist. „Erlösung“ ist daher nur als „Utopie“ beschreibbar.

Ich übersetze den von Paulus zitierten „Kenosis-Hymnus“ in ein heutiges Sprachspiel. Unsere Sprachen kennen nicht nur „logische“ Sprachspiele, die widerspruchsfrei und begreifbar sind, sondern auch Sprachspiele, die die Struktur von „Oxymora“ haben und auf spezielle Weise erfahrbar sind (auch dies habe ich anderswo erläutert).

Ein erster Versuch:

Erlösung als konkrete Utopie

Ein konkreter Mensch
prophezeit das Ende der Zeit (als kairos nicht chronos),
nicht als mächtiger Herrscher (König oder Kaiser oder Führer),
der das Paradies auf Erden verspricht;
sondern als hingerichteter Verbrecher (in der Sicht und Macht der Mächtigen)
Vertrauen erwartet (ohne es erzwingen zu können oder wollen).

Wer dem Gekreuzigten als „Messias“ vertraut (pistis),
der kann befreit und ohne Zwänge denken und handeln,
der muss sich nicht den herrschenden Gesetzen der Macht anpassen,
sondern kann und muss prüfen, was gut und gerecht ist.

In diesem Sinn ist er befreit und bereit,
Gerechtigkeit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit zu realisieren.
Selbst der Tod hat keine Macht mehr über ihn,
obwohl er als Naturwesen sterblich bleibt.

Zum Verhältnis von Macht und Gewalt, Gebrauch und Missbrauch

Unkontrollierte Macht schlägt in Gewalt um. Gewalt realisiert sich in Zerstörung und Selbstzerstörung; in Hass und Vernichtung. Der Gebrauch der Macht kann in Missbrauch umschlagen; das ist der Preis der Freiheit.

Menschen sind Vernunft- und Naturwesen. Sie sind, wie Hannah Arendt sagt: sterbliche Schöpfer.

Sie können ihre Macht gebrauchen und missbrauchen. Sie allein sind verantwortlich für Verbrechen, aber auch für die Durchsetzung der Menschenwürde und Menschenrechte und die Gestaltung gerechter gesellschaftlicher Verhältnisse.

Menschen (als Vernunftwesen) haben die dauernde Verpflichtung und Aufgabe, Menschenwürde für alle und Pflege der Natur durchzusetzen. Als Vernunftwesen sind sie in der Lage und dafür verantwortlich, gerechte Lebensverhältnisse zu realisieren und Missbrauch zu verhindern bzw. einzugrenzen. Menschen sind daher dazu bestimmt (im Sinne der Selbstbestimmung), Probleme zu erkennen und zu lösen; Erlösung ist eine (notwendige) Utopie.

Ein zweiter Versuch:

Jesus Christus Erlöser (Erlösung gedacht in einer und durch eine konkrete Person), diese Botschaft (in Form einer konkreten Utopie) setzt auf Vertrauen; und dieses Vertrauen (pistis) verheißt zeitloses Leben (im Sinne des kairos). Diese konkrete Hoffnung wird existenziell erfahren und ermöglicht, Probleme in der Dynamik des Vorläufigen zu lösen.

Zwar bleiben alle Lösungswege und Ergebnisse bzw. Entscheidungen an Endlichkeit und Irrtum des menschlichen Daseins gebunden, aber in der „Nachfolge Christi“ sind sie weder Zufall noch Schicksal, das in Vernichtung oder Auflösung endet, sondern ermöglichen Korrektur und Umkehr.

Zwar wird die Differenz zwischen Erfahrung der Umkehr oder Korrektur (metanoia) und Erkenntnis des Begriffenen nicht aufgehoben, aber für die Zeit des irdischen Lebens im Lichte der Zusage des ewigen Lebens relativiert.

„Ewiges Leben“ (ein Oxymoron höchster Stufe) ist als Synonym für „Erlösung“ das entscheidende Sprachspiel eines „Christen“; es beschreibt die existenzielle Erfahrung der Zusage der Erlösung (als eines Geschenkes, das weder erkauft noch erzwungen werden kann). Die Macht dieser Zusage gegenüber den Bedingungen begenzten Lebens (als Naturwesen) kann weder aufgehoben, noch kann diese konkrete Utopie in menschlicher Sprache „begriffen“ werden. Aber dieses „Geschenk“ wurde und wird in einer radikalen Form sprachlich beschrieben, die alle theologischen Vorstellungen „sprengt“: Gott ist Liebe (theòs agápe estín).

Im ersten Johannesbrief wird der Gottesbegriff (im Lichte der Messias-Botschaft) entziffert, und die Gottesvorstellungen des theozentrischen Weltbildes werden so radikal zerlegt, dass diese Aussage auch für uns heutige Menschen verstehbar und bedeutsam sein kann: „Gott“ ist ein synsemantischer Ausdruck für konsequente Menschenliebe. So zumindest übersetze ich das Sprachspiel der „johanneischen Schule“.

p.s.

Diese Reflexion bleibt grenzwertig, da ich nicht ausreichend geklärt habe, wie das Verhältnis von begreifenden Sprachspielen und Sprachspielen, die existenzielle Erfahrungen beschreiben, sinnvoll zu klären ist. Aber dieses spezifische Verhältnis versuche ich in der „Formel“ von der Dynamik des Vorläufigen auszusprechen.

Zusammenfassende Übersetzung:

Erlösung in der Dynamik des Vorläufigen

„Jesus Christus Erlöser“ –
diese Botschaft setzt auf Vertrauen
und verheißt zeitloses Leben.

In der Dynamik des Vorläufigen
können Probleme gelöst werden;
gebunden an Irrtum und Endlichkeit.

In der Nachfolge Christi
herrscht weder Zufall noch Schicksal;
sondern Korrektur und Umkehr sind möglich.

Ewiges Leben steht für Erlösung;
Ein Geschenk, das alle frommen Vorstellungen sprengt:
Gott ist Liebe.