Der Sturm auf den Winterpalast – zweifach
Hegel, so wird Karl Marx zitiert, bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Ich vermute, die Wirklichkeit kann komplizierter und komplexer sein.
Als Beispiel nenne ich die Geschichte des zaristischen Winterpalais in St. Petersburg: 1917 wurde es innerhalb der Russischen Revolution von den Bolschewiki übernommen; später hochstilisiert als „Sturm auf den Winterpalast“. Im August 2018 erlebte ich die Eroberung der Eremitage durch den Massentourismus; denn heute ist der Winterpalast – in all seiner goldenen Pracht – Teil der Eremitage, des größten Kunstmuseums – weltweit. War das Geschehen 1917 eine „Tragödie“ und der heutige – mehr oder weniger gesteuerte Massenansturm von Touristen und Touristengruppen – in ihren zahllosen Bussen – eine „Farce“?
Die Entmachtung der Kerenski-Regierung verlief relativ problemlos, auch wenn der Kreuzer „Aurora“ im Hafen einige ungezielte Schüsse abgab; sprachlich „aufgeputscht“ in Anlehnung an den „Sturm auf die Bastille“ zu Beginn der Französischen Revolution. Und das heutige „Durchschleusen“ von zahllosen Touristen hat mit Kunstbetrachtung und Museumspädagogik nichts zu tun, sondern erlaubt bestenfalls ein Dauerstaunen über die Prachtentfaltung und ängstliche Blicke, um die eigene Gruppe (Nr. 6 rot oder Nr. 76 weiß) nicht aus den Augen zu verlieren.
Auch ich werde mein Verhalten später rechtfertigen: Das muss man gesehen haben. Der Zweck heiligt die touristischen Zwangsmittel. Und wie bemerkte der ältere, perfekt deutsch sprechende Reiseführer, als er die Namensänderungen dieser wunderschönen Stadt auf satirische Weise kommentierte: in einigen Jahren sehen wir uns in „Putingrad“ wieder.
Mister Bitter Lemon, der schlafende Zieten
Ich liebe nachmittags an Bord den kleinen Beobachterstatus: Eckplatz, rückenfrei, Blick aufs Meer, Blick auf die wenigen, vorbeigehenden Mitreisenden und den eilfertigen, überfreundlichen Steward. Das war für mehrere Tage mein Aufschreiberplatz in der Galerie neben dem Captains-Club auf dem Promenadendeck. Der Blick aufs Meer wirkte sich sich beruhigend aus; meine Gehirnzellen konnten konzentriert arbeiten, während die Augen sich zeitweilig schlossen – soweit meine Selbstwahrnehmung.
Der Steward schreckte mich auf: „Hallo, Mister Bitter Lemon“, denn er wusste, was ich am Nachmittag trinke, um meine Konzentration zu festigen. Am Horizont sah ich einige Schiffe und einen dünnen Streifen Land; wir durchquerten den finnischen Meerbusen Richtung Stockholm.
Beim Abendessen wurde mir vorgehalten, auf dem Promenadendeck eingeschlafen zu sein; und als Beweis zeigte I. ein Foto, das sie mit ihrem Handy aufgenommen hatte – ohne dass ich irgendetwas bemerkt hatte.
Ich erinnerte mich an den schlafenden Zieten in der Tabakrunde Friedrich II. und unterstelle, dass er als erfolgreicher General an der Seite des Großen Friedrich auch im Schlaf, also in seinem inneren Bewusstsein seine Strategien und Taktiken nachzeichnete, während er für den äußeren Beobachter schlief. Vielleicht war das der innere Grund, warum Friedrich den Schlaf seines väterlichen Freundes duldete.
Ich rechtfertige mein inneres, elitäres Bewusstsein mit der Notwendigkeit des Beobachter-Status als Phänomenologe; Stichwort: Epochè. Ich verbinde die äußere wie innere Beobachter-Rolle mit der kritischen Einschätzung voreiligen politischen Engagements. Der Beobachter-Status – als Grundlage der Analyse der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse – zeigt sich in einer präzisen Urteilsenthaltung, die ein vorschnelles, noch so gut gemeintes Engagement verbietet; dies geht gerade engagierten Politikerinnen und Politikern, die meine Sympathie haben, ab.
Einerseits macht das Engagement sympathisch und auch solidarisch, andererseits führt dieses Verhalten zu vorschnellen Urteilen bzw. Entscheidungen. Ein während der Kreuzfahrt kontrovers diskutiertes Beispiel ist A‘s Traum von einer „Europäischen Republik“. Der Begriff „Republik“ kann zu Kontroversen mit „konstitutionellen Monarchien“ in Europa führen, deren demokratische Struktur unzweifelhaft ist. Daher bleibe ich bei dem Projekt „Vereinigte Staaten von Europa“ und unterscheide mich in der Sache nicht; es geht darum, supranationale Strukturen weiter zu entwickeln, die zu mehr Demokratie, Mitbestimmung und Chancengleichheit führen. Dieser notwendige kurzfristige, mittelfristige und langfristige Prozess darf nicht durch Kontroversen „am Rande“ verzögert bzw. ausgebremst werden.
In einer konsequenten Strategie zur quantitativen wie qualitativen Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse in ganz Europa muss nicht nur – taktisch klug – zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Lösungen unterschieden werden (die sich nicht behindern oder sogar ausschließen dürfen), sondern auch ablenkende Vorschläge und Kontroversen müssen vermieden werden, die das Ziel von Demokratisierung, Gewaltenteilung und Chancengleichheit in allen Ländern und Regionen Europas ausbremsen.
Daher ist in meiner Zielvorstellung, in meiner „Utopie“ die Methode der Epochè ein notwendiges Element, Problemlösungen voranzutreiben, ohne unüberlegt zu handeln. Symbol dieser Methode ist die Eule der Minerva, die in der Dämmerung ihren Flug beginnt und gerade in dieser Zwischenzeit Blick und Überblick bewahrt. Sie steht nicht im Widerspruch zum Gallischen Hahn, der in der Morgenröte seinen Schrei und seine Aktion beginnt. Zwar ist er wachsam und agil, aber er kann nicht (oder kaum) fliegen.
Wie kehre ich von meiner impliziten Kritik der revolutionären Ungeduld zurück zum Schlafenden Zieten? Nun weiß ich es dank der Sprachspiele: aus dem schlafenden Zieten wird der Zieten aus dem Busch. Wir schlafen nicht, wir konzentrieren uns auf unseren Tagtraum und vergessen den Hahnenschrei nicht – manchmal mit Hilfe einer Flasche Bitter Lemon.
Von Zieten aus dem Busch
Auf dem Promenadendeck
der MS Astor ostseewärts
saß täglich ein alter Mann,
der trank in der Captain‘s Lounge
Bitter Lemon.
Er erinnerte (sich) an
den schlafenden von Zieten
in der Tabakrunde
des alten Friedrich 2.
Zieten aus dem Busch.
Preußens Gloria,
Preußens Untergang.
Transzendentale Apperzeption
Ich saß auf einem Stein am Fuß des Denkmals für den Markgrafen Albrecht von Brandenburg und blickte auf das Grabmal Immanuel Kants an der Außenmauer des Königsberger Doms, eingerahmt durch eine russische Säulenhalle. Was ging mir durch den Kopf (nicht durch den Magen)? Kant, komplizierter Aufklärer, kein hitziger Franzose; preußisch diszipliniert, 1804 in Königsberg (heute Kaliningrad) gestorben. Hier hat er sein Leben lang gelebt, gedacht und gearbeitet.
Dennoch schon in seiner Zeit weltberühmt, aber er war kein Säulenheiliger. Sowjetische Heiligenverehrung hätte er zutiefst abgelehnt. Der Markgraf Albert von Brandenburg hatte 1544 die Universität gegründet. Er konnte nicht ahnen, dass ein Professor seiner Albertina die Metaphysik aus den Angeln heben würde; und dieser Kant seine drei schwer verdaulichen Kritiken (der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft) aufschriebe, um die Philosophie zu revolutionieren.
Marx, Freud, Husserl und Wittgenstein sind ohne seine Leistung nicht denkbar. Ich verzichte darauf, in dieser Reihung Hegel zu nennen, denn es ist schwer genug, ihn vom Kopf auf die Füße zu stellen (oder umgekehrt?).
Hastig verlasse ich Grab- und Denkmal, da die Abfahrt des Busses bevorsteht und verwerfe den elitären und unnützen Gedanken, im Bus meine Mitreisenden zu fragen, was „transzendentale Apperzeption“ bei Kant bedeutet. Nein, es bleibt die bescheidene Quizfrage, wie Kants langjähriger Kammerdiener mit Namen hieß. Da müsste uns ein Licht aufgehen! Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten.
p.s. Kants Diener hieß „Lampe“.
Schein und Sein im Kapitalismus der Gründerjahre
Ich liebe den Bauhausstil des 20. Jahrhunderts: die Funktion der Häuser und Wohnungen und der Gebrauchswert der Dinge des Alltags zeigen Stringenz und schlichte Eleganz. Ich weiß, die ästhetische Einheit von Tausch- und Gebrauchswert bleibt in der kapitalistischen Produktionsweise eine (schöne) Illusion.
Demgegenüber demonstriert der Jugendstil – zumindest an den Fassaden der Häuser – für den, der „dahinter“ blickt, den Gegensatz von Schein (der Fassaden) und Sein (Wohnquantität und -qualität).
Dies erkannte ich in Riga, der Stadt des Jugendstils: eine straßenweite Stuck-Explosion und Expansion; für mich ein (schön anzuschauender) „Rückfall“ in Manierismus und Rokoko.
Die Reiseführerin erzählte, dass die Architekten des Jugendstils zunächst das Dekor und die Pracht der Außenfassaden ihrer Häuser planten und in Konkurrenz zueinander realisierten, während die Innen- und Hinterhöfe sowie die Wohnungen bestenfalls funktional, aber ohne jede „Verzierung“ hergestellt wurden. Zwar wurden keine potemkinschen Dörfer entworfen (wie einem Liebhaber der Zarin Katharina unterstellt wird), aber der Gegensatz von Schein (zur Schaustellung) und Sein (Wohnraumbeschaffung angesichts boomender Industrie und überregionalen Handels) ist belegbar.
Ich erinnerte mich an die Handelshäuser in Leipzig – mit ihren goldenen Fassaden und kunstvoll dekorierten Innenhöfen und denke über die Entwicklungsphasen des Kapitalismus nach: vom frühneuzeitlichen Handelskapital der Hanse (und ihren Bauten) bis zum Industrie-Kapitalismus und der heutigen Rekonstruktion vergangener Zeiten für die Selbstdarstellung und den Massentourismus.
Ästhetische Erfahrung bedarf immer der Aufklärung über das Verhältnis von Sein und Schein in der jeweiligen Produktionsweise einer Gesellschaft. Aber ich bleibe dabei: es gibt heutzutage elegantere Darstellungsformen dieses Verhältnisses von Tausch- und Gebrauchswert – und unweigerlich der Einbruch der Realität durch Zerstörung oder Zerfall.