Verweisen statt wahrnehmen

Die Kunst der Aenigmatik des Gerhard Richter

Beobachtungen und Reflexionen zum installierten Kunstwerk
mit dem Foucaultschen Pendel im Innenraum
der Dominikanerkirche in Münster/Westfalen

Meine Neugierde trieb mich in der letzten Woche bei meinen regelmäßigen Besuchen der Landeshauptstadt Münster in Westfalen in die Dominikanerkirche, mitten ins Zentrum der Innenstadt, um die Installation von Gerhard Richter „Zwei Graue Doppelspiegel für ein Pendel“ kennenzulernen. In der Bekanntmachung der Stadt Münster heißt es vollmundig: „Für die Betrachter wird der Besuch der profanierten Kirche zur Begegnung mit der Zeit und mit ihrer Vorstellung von Wirklichkeit“. Ich frage mich, ob sich das „ihrer“ auf Zeit oder Kirche bezieht und erfahre – in fast allen Veröffentlichungen –, dass es sich um eine entweihte Barockkirche handelt (im Eigentum der Stadt). Soll ich rückschließen, dass die Einrichtung eines Kunstwerkes dem Kirchenbau eine erneute Weihe verleiht oder soll ich – im Sinne Gerhard Richters – vermuten, dass der Künstler einen idealen Ort gefunden hat, ein Foucaultsches Pendel aufzuhängen und in Schwingung zu versetzen: eine 48 Kilogramm schwere Metallkugel an einem 28,75 Meter langen Edelstahlseil über einer kreisrunden, äquivalent zur Bewegung des Pendels gewölbten Platte aus Grauwacke, einem 380 Millionen Jahre alten Sedimentgestein? Und weiter heißt es in der städtischen Information: „Ein Magnetfeldantrieb im Zentrum der Bodenplatte sorgt für die ununterbrochen gleichmäßige Bewegung des Pendels. Im Verlauf einer Stunde dreht sich die Ebene unter dem Pendel um 12 Grad nach Osten. Entsprechend dem „Sterntag“, an dem sich die Erde einmal um die eigene Achse dreht und der in Münster etwa 30 Stunden zählt. Damit wird die erstmals im Jahre 1851 von dem französischen Physiker Léon Foucault in einem Pendelversuch nachgewiesene Erdrotation sichtbar“ (kursiv von mir).

Die Behauptung der „Sichtbarkeit“ stelle ich in Frage und unterstelle, dass dies nicht die Absicht des Künstlers ist. Fast eine Stunde habe ich mich im Kirchenraum aufgehalten und die Menschen beobachtet, die unablässig und zahlreich in den Raum (bei offenen Türen) strömten und, wenn ich ihre Gesichter richtig deute, eher ratlos oder andächtig verweilten. Denn alle wussten aus den Medien, dass ein weltberühmter Maler, dessen Werke auf Auktionen für zig Millionen Dollar verkauft werden, der Stadt Münster ein Geschenk auf Dauer vermacht hat.

Ich hätte mir spontan eine Umfrage gewünscht: was nehmen die Menschen wahr, was erwarten sie, die sie die Pendelbewegung beobachten? Und wie ordnen sie die an den zwei Wandflächen der Vierung paarweise gruppierten verspiegelten Glasbahnen (mit den Maßen 6 Meter mal 1,34 Meter) dem Pendel in seiner steten Bewegung und ihrem jeweils eigenen Standort zu? Mir bleibt die Beschreibung zweier Menschen in ihrem jeweiligen Verhalten: der alte Mann mit seinem Regenschirm und der kluge Mitmensch, der aus dem Physikunterricht seiner Schulzeit zitiert.

Der alte Mann nimmt seinen geschlossenen Regenschirm und stellt ihn nahe der Skala der Bodenplatte – jenseits der Absperrung – und schaut konzentriert minutenlang auf die Skala und hofft, anders kann ich sein Verhalten nicht interpretieren, dass die Bodenplatte sich für ein paar Grad gegenüber dem Standort seines Schirmes bewegt hat. Nach einiger Zeit schüttelt er den Kopf, da er keine Drehung wahrnimmt, und zieht seinen Schirm leicht verunsichert wieder hinter die Absperrung zurück. Ich erkenne nicht nur seine Verunsicherung, die vermeintliche Drehung der gewölbten Platte aus Sedimentgestein nicht wahrgenommen zu haben, obwohl er doch seinen Schirm fest auf den Boden gedrückt hatte, sondern ich fühle auch seine Verlegenheit, das Verbot der Absperrung missachtet zu haben. Und ich frage mich: weiß er nicht, dass wir mit dem gesamten Kirchenboden – und damit mit der gesamten Erdoberfläche – rotieren, ohne diese Erdrotation wahrzunehmen?

Mein Nachbar im Kirchenrund, ein kluger Mitmensch, hat diese Situation auch beobachtet und flüstert mir zu, der Herr habe wohl in der Schule nicht aufgepasst; er habe im Physikunterricht gelernt, dass die Erde sich in 24 Stunden um ihre Achse drehe. Ich will nicht belehrend wirken und ihm erläutern, dass auf unserem Breitengrad die Rotationszeit etwa 30 Stunden dauert. Ich nicke lächelnd mit dem Kopf und überlege für mich, dass die Schattenbildung der Metallkugel auf der Platte von Grauwacke durch das einströmende Sonnenlicht die konkrete Gradbestimmung der Drehbewegung der Ebene unter dem schwingenden Pendel verkompliziert – denn auch die Sonne bewegt sich, obwohl wir in der Schule gelernt haben, dass die Erde, auf der wir Menschen leben, nicht nur rotiert, sondern sich auch auf einer elliptischen Bahn um die Sonne dreht. Doch was ist, wenn die Sonne nicht durch die Fenster der Dominikanerkirche scheint? Das Pendel schwingt und die Erde rotiert und einen archimedischen Punkt haben wir Menschen, die wir auf der Erdoberfläche leben, nicht.

Weder die Philosophen noch die Künstler verfügen über den archimedischen Punkt, von dem aus sie alles, was in der Welt der Fall ist, überblicken oder sogar steuern könnten. Was bleibt, wenn die Sprache versagt, nicht aus Mangel, sondern durch strukturelle Begrenzung? Was bleibt, wenn ein Bild universale Erfahrungen des In-der-Welt-Seins nicht abbilden kann? Auch hier frage ich nach den strukturellen Grenzen, nicht nach der individuellen Kompetenz. Dabei geht es nicht nur um die jeweilige Thematik (Ist die Menschenvernichtung in ihrer grenzenlosen Brutalität abbildbar? Oder: Ist „Erlösung“, die mehr und anderes sein will als „Probleme-lösen“ darstellbar?), sondern auch um die Bedingungen der Möglichkeit von menschlicher Wahrnehmung. Ich vermute, Gerhard Richter, der um diese Problematik weiß, will mit seiner Kunst (bei ihm immer auch ein präzises Kunst-Handwerk) auf universale Erfahrungen hinweisen, die die Menschen nicht – zumindest nicht problemlos – wahrnehmen können.

Die Erdrotation betrifft alles und alle, die auf der Erdoberfläche leben, aber sie kann von uns Menschen zwar nicht wahrgenommen werden, aber durch das Foucaultsche Pendel wird auf sie verwiesen – und ihre Geschwindigkeit kann gemessen werden. Dieses Verweisen auf die Drehung des Bodens – und einen skalierten Kreis – über eine gleichmäßige Pendelschwingung, die eine gleichbleibende Ebene bildet, kann optisch verdeutlicht werden; wie beim Foucaultschen Pendel im Deutschen Museum in München – durch im Kreis angeordnete umkippende Klötzchen. In Münster hat Gerhard Richter darauf verzichtet.

Was beabsichtigt der Künstler mit dieser Installation; was ist sein Interesse und was fasziniert ihn?

Ich verzichte auf die Wiedergabe der wenigen veröffentlichten und kargen Aussagen des Künstlers; denn sie mögen für den Eigentümer des Kirchenraumes, die Stadt Münster, wichtig und für den finanziellen Vertragsabschluss (beziehungsweise die Bedingungen der Schenkung) bedeutsam sein; für die Analyse der Aussage und Wirkung eines Kunstwerkes sind sie nicht maßgebend. Ich erinnere mich an die Diskussion einer Schülergruppe mit einem mir befreundeten Maler in seiner Ausstellung: die Schüler wollten wissen, was er mit seinen (abstrakten) Bildern aussagen wolle – und er verweigerte sich. Denn seine Aussagen seien seine Bilder und ihre Bedeutung müssten sie durch ihre eigene Wahrnehmung herausfinden. Auch die Unterschriften seien beliebig und dienten allein der Identifizierung und Katalogisierung (und einem möglichen Verkauf) der einzelnen Bilder.

Damit kehre ich zu der Frage zurück, was die Menschen, die ich in der Dominikanerkirche beobachtet habe, möglicherweise erwarten und wahrnehmen. Nun sollen meine Reflexionen nicht auf ein Psychogramm der Museumsbesucherinnen und -besucher hinauslaufen (z.B. meines „alten Mannes mit Regenschirm“ und meines Nachbarn, der sich, wenn auch unpräzise, an seinen Physikunterricht erinnerte), sondern ich beschreibe im Folgenden meine Erwartung, also meine Kontext-Überlegungen, und meine Wahr-nehmung dieser Installation von Gerhard Richter.

Wenn ich die Bilder von Gerhard Richter – in seine aktuellen Schaffensperiode – mir anschaue (und ich hatte Gelegenheit, seine letzte umfassende Ausstellung im Kölner Museum Ludwig und auch seinen Birkenau-Zyklus im Burda-Museum in Baden-Baden sowie (mehrmals zu unterschiedlichen Tageszeiten) sein Kölner Domfenster zu besuchen), dann nehme ich seine Absicht wahr, Phänomene darzustellen, die grundsätzlich nicht abgebildet werden können, weil ihre „Totalität“ in einem „Bild“ (in einem Abbild) nicht fassbar ist; auf das, was diese Phänomene bedeuten, kann der Künstler nur verweisen. Verweisen statt abbilden, das ist die Vorerwartung, wenn ich mich den Bildern dieses Künstlers annähere. Welche „Phänomene“ meine ich?

Die Praxis des Übermalens und Verwischens, die Richter präzise und konsequent ausübt, stellt die Wahrnehmung des Abzubildenden in Frage, problematisiert die Möglichkeit des Abbildens – in Bezug auf die gewünschte Aussage des jeweiligen Phänomens. Es bleibt die Möglichkeit des Verweisens auf Phänomene, die grundsätzlich unabbildbar sind. Denn das Abbild löscht das Wesentliche des jeweiligen Phänomens; es bleibt der Verweis, um das Individuelle oder das Totale oder das Unfassbare, eben das Unbegreifbare auszudrücken; es als Künstler im (nicht mehr traditionellen) Bild oder in einer Installation darzustellen. (Das Wort „Verweis“ ist zumindest in der deutschen Sprache doppeldeutig: Hinweis/Verbot.)

Ich nenne diese Form der bildlichen Darstellung aenigmatisch und erkläre die Herkunft dieses von mir gewählten Kunstwortes an späterer Stelle. In dieser Form dokumentiert sich das Besondere des jeweiligen Phänomens: z.B. die Individualität, auch Würde eines Menschen, die im Bild (Abbild) möglicherweise verloren geht; oder der helle Schein einer Kerze (ihr jeweiliges Licht oder ihr Glanz), der in ihrer fotografischen Abbildung verschwindet; oder die Totalität des Verbrechens der systematischen und bürokratischen Menschenvernichtung im Holocaust (vgl. Richters Birkenau-Serie) oder die Fülle (das Pleroma) der Erlösung im Kontext der messianischen Utopie der jüdisch-christlichen Tradition (vgl. Richters Kölner Domfenster mit seinen 11500 Quadraten aus mundgeblasenem Echt-Antik-Glas in 72 unterschiedlichen Farbkombinationen, gewonnen durch einen Zufallsgenerator; Südquerhausfassade 2006).

Phänomene dieser Art können ihren Glanz, auch ihre Individualität oder Brutalität verlieren, wenn sie fotografisch abgebildet werden. Auf Phänomene dieser Art kann nur durch eine spezielle Abmal- oder Übermaltechnik, die Gerhard Richter beherrscht, „verwiesen“ werden.

Im Bereich der menschlichen Sprache drücken sich solche Grenzerfahrungen, die nicht begreifbar sind, in Oxymora aus. Religiöse Sprachspiele wie die Sprache der Utopien leben von solchen Oxymora; sie sind Ausdrucksformen der Sprache der Poesie und Mystik. (Vgl. die Stichworte meines Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten, Münster 2017, und meinen Aufsatz zum „Messianischen Denken in einer Welt ohne Gott“, 2018, auf meiner Homepage.)

Für eine bildende Künstlerin oder einen bildenden Künstler, die an den oben beschriebenen Phänomenen interessiert und von ihnen fasziniert sind, bleibt die Methode der Aenigmatik.

Diese Methode – so das Resultat meiner Überlegungen – praktiziert Gerhard Richter; ich fasse seine Arbeitsweise und ihre Resultate unter dem Slogan zusammen:
Verweisen statt Abbilden.

Den Begriff „Aenigmatik“ – ein Kunstwort, das der Duden nicht kennt – habe ich in Anlehnung an das 13. Kapitel des ersten Korintherbriefes gewählt; verfasst vom jüdisch-christlichen Gelehrten Paulus, um die Methode des messianischen Denkens aus der Messias-Erfahrung heraus unter den Bedingungen der Jetzt-Zeit zu kennzeichnen:

Denn Stückwerk ist unser Erkennen und Stückwerk unser prophetisches Reden. Wenn aber das Vollkommene kommt, dann wird zunichte werden, was Stückwerk ist. Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, überlegte wie ein Kind. Als ich aber erwachsen war, hatte ich das Wesen des Kindes abgelegt. Denn jetzt sehen wir alles in einem Spiegel, in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich ganz erkennen, wie auch ich ganz erkannt worden bin.“ (so die Übersetzung der Zürcher Bibel 2007).

Martin Luther übersetzt die entscheidende Passage: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem tunckeln Wort.“ Und in der lateinischen Vulgata-Übersetzung heißt es: „per speculum in aenigmate“. Schon für die Sprachspiele in Utopie und Mystik habe ich 2017 formuliert: „Die Sprache der Oxymora ist aenigmatisch, kann existenziell wirksam sein, aber bleibt unbegreifbar, und im Medium des Bildes: nicht abbildbar, da nicht wahr-nehmbar.“ (S. 214, Nachwort: Mit der Torheit leben und sterben? Aus: Vademecum, Münster 2017)

In der aenigmatischen Produktionsweise – in Sprache und Bild – wird auf rätselhaft widersprüchliche Weise („in einem tunckeln Wort“, Martin Luther) gedacht und gestaltet: im Bereich der Sprachkunst (Dichtung) soll das „beredte Schweigen“ ausgedrückt werden. Die Sprachspiele der Utopie sind die Sprachspiele der Mystik, nicht der heute verbreiteten, oberflächlichen Esoterik. Mystik aber beginnt und endet mit dem Schweigen. Abbilden wie Begreifen sind Formen des rationalen Denkens, sowohl im theozentrischen Weltbild (von Himmel und Erde), als auch im anthropologischen Weltverständnis: Probleme werden mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden gelöst und mithilfe der einzig erfolgreichen, da eindeutigen Sprache: der Sprache der Mathematik kommuniziert.

Der Gebrauch (wie Missbrauch) religiöser Sprachspiele stellt einen Sonderfall dar, der eingehender Kritik und notwendiger Übersetzung bedarf. Dies gilt auch und vor allem für die sog. Religiöse Kunst. Wenn versucht wird, existenzielle Erfahrungen in religiöser Sprache begreifbar zu machen, so ist das im theozentrischen oder metaphysischen Weltverständnis sehr wohl möglich, bedarf aber der Aufklärung, denn im Kontext eines anthropozentrischen Weltbildes und des für wissenschaftliche Problemlösung notwendigen „methodischen Atheismus“ (zunächst) sinn-los.

Jenseits aller Formen des idealisierten Begreifens und Problemlösens bleibt die Möglichkeit und Notwendigkeit der Kunst, auf das Unbegreifbare zu verweisen. Doch die Methoden der Aenigmatik sind gefährdet: sie können umschlagen in Beliebigkeit. Denn ohne Kontextwissen und Hintergrunderfahrung können die Artefakte aenigmatischer Produktion – im wörtlichen Sinn – oberflächlich – an der Oberfläche – bleiben.

Richters Bilder und Installationen verlangen, um sie zu verstehen, im Zuschauer bzw. Beobachter einen konkreten Denk- und Erinnerungsprozess: bei den Menschenbildern, die auf die Individualität verweisen, ist biografisches Hintergrundwissen notwendig; beim Kerzenbild das Wissen um die Funktion einer Kerze. (Hier wäre ein Vergleich mit den Bildern von Georges de la Tour, dasselbe Sujet betreffend, interessant.) Beim Kölner Domfenster ist die spezifische Aura des Kirchenraumes (soweit noch erfahrbar) ein notwendiger Hintergrund.

Bei dem Birkenau-Zyklus zeigt sich das Problem des Umschlags auf besondere Weise: es ist fraglich, ob die Totalität des Verbrechens der Menschenvernichtung abbildbar ist; aber gibt es nicht andere, mehr beeindruckende Formen des Verweisens, wenn ich an die Bilder von Felix Nussbaum in seinem eigens errichteten Museum in Osnabrück (von Daniel Libeskind gestaltet) denke? Was bleibt von der Wirkung der Birkenau-Bilder, wenn das Wissen um die Konzentrations- und Vernichtungslager verblasst?

Sicher ist auch die aenigmatische Darstellungsweise begrenzt; ohne Denkleistung bleibt das Wahrnehmungsinteresse der Beobachterinnen und Beobachter oberflächlich. Ich kehre zurück zum Foucaultschen Pendel und seiner Installation zwischen zwei grauen Doppelspiegeln in der Dominikanerkirche in Münster. Die physikalisch-technische Innovation bestand 1851 und später darin, gegen die ablehnende Haltung der Kirche, die das Phänomen der Erdrotation vorab aus einer für uns heute überholten, ideologisch bestimmten Weltsicht leugnete, ein „Messinstrument“ zu konstruieren, das das Phänomen der Erdrotation nachweisen und ihre jeweilige Zeitdauer bestimmen konnte.

Gerhard Richter interessiert und fasziniert dieses Phänomen (und sein Nachweis) – so unterstelle ich –, weil es alle Menschen, die auf der Erdoberfläche leben, betrifft, aber von niemandem wahrgenommen werden kann. Das Foucaultsche Pendel symbolisiert die Methode der Aenigmatik, in der Richter seine Arbeitsweise als Künstler erkennt, reflektiert (daher die Wandspiegel) und mitteilt. Er installiert das Pendel in einem (länger gesuchten) spezifischen Raum, der keiner weiteren Nutzung unterliegt; an dessen gegenüberliegenden Wänden sich die gleichbleibende Pendelbewegung in den je zwei grauen Spiegelflächen eigentümlich reflektiert. So wird der Innenraum der Dominikanerkirche zu einem Gesamtkunstwerk, das die Besucher in seiner rätselhaften Wirkung einbezieht.

Diese aenigmatische Wirkung wird verstärkt, da kontrastiert, wenn der in der Kirche vorhandene und zur Zeit verdeckte Hochaltar, ein prachtvoll geschnitzter Barockaltar aus einer Paderborner Kirche, der 1976 restauriert und rekonstruiert wurde, nicht nur (auf Wunsch des Künstlers und gegen den anfänglichen Willen der Stadt) im Kirchenraum erhalten bleibt und wieder sichtbar wird.

Spezifikum dieses Altars ist in seinem Hauptfeld ein Gemälde von Georg Christian Brüll, das die Himmelfahrt Mariens darstellt. Diese Abbildung ist die Phantasievorstellung frommer Menschen auf der Grundlage eines heute überholten (theozentrischen) Weltbildes. Diese Vorstellung resultiert aus einer Legendenbildung des 6. nachchristlichen Jahrhunderts, die schon vor der Zeit der „Gegenreformation“ (vgl. Tizians Gemälde „Mariä Himmelfahrt“ um 1516) immer wieder künstlerisch umgesetzt wurde und sogar 1950 (!) zu einer dogmatischen Engführung in der römisch-katholischen Kirche führte (die leibliche Aufnahme Mariens, der Mutter Jesu, in den Himmel – Assumptio Beatae Mariae Virginis – während die Ostkirchen bis heute von der „Entschlafung“ – dormitio – sprechen).

Auch das christliche Kreuz, das im Kirchenraum anzutreffen ist (ob mit oder ohne Korpus), hat Verweischarakter. Abgebildet wird nicht „Gott“, das wäre sinn-los, oder im christlichen Verständnis Götzendienst und fiele unter das strenge Abbildungsverbot der jüdisch-christlichen Tradition.
Stärker kann der Gegensatz in diesem ehemaligen Kirchenraum nicht sein (wenn dem Wunsch des Künstlers mit Recht – wie ich meine – entsprochen wird): einerseits ehemaliger Ort kultischer Verehrung mit Hilfe eines Bildes religiöser Phantasie, andererseits Ort technisch-wissenschaftlicher Beweisführung in einem aufgeklärten, wissenschaftlichen Weltverständnis. Und ich ergänze – als Beobachter der zahlreichen Besucherinnen und Besucher: Ratlosigkeit bleibt zurück bzw. wird zurückbleiben. Ich wünsche mir, dass das Gesamtkunstwerk „Innenraum der Dominikanerkirche“, gestaltet von Gerhard Richter, Wirkung bei den Besuchern erzeugt: nachzudenken über die Alternative: Verweisen statt Abbilden.