Ein General soll’s richten – das gefährdet die demokratische Entwicklung unserer Zivilgesellschaft

Aus den Medien erfuhr ich, dass auch die Parteien der zukünftigen Ampelkoalition beabsichtigen, einen General der Bundeswehr zu beauftragen, die logistischen Probleme während der Pandemie zu lösen.

Wie unfähig und vordemokratisch müssen die Institutionen unserer Zivilverwaltung sein, dass die Parteien der bisherigen wie zukünftigen Regierungskoalition auf einen militärischen Befehlshaber der Bundeswehr zurückgreifen müssen, um die logistischen Probleme während der Pandemie in den Griff zu bekommen?

Ich befürchte die Militarisierung der Demokratie: ein General, in militärischer Strategie und Taktik ausgebildet, soll es richten und die Defizite von Legislative und Verwaltung in der Bekämpfung von Notsituationen kompensieren. Wo sind die Menschen in unserer Zivilgesellschaft, die etwas von der Steuerung unserer Gesellschaft im Interesse der Gesundheit und Lebenserhaltung verstehen?

Die unübersehbaren Defizite in Regierung und Verwaltung, Probleme unverzüglich zu erkennen und effizient zu lösen; diesen lebensgefährlichen Mangel löst nicht das Militär, sondern ein wirksam arbeitendes und demokratisch kontrolliertes government.

Ich bestreite nicht, dass es in dieser Weise ausgebildete Generäle gibt, die über logistische Erfahrungen verfügen, aber mich irritiert der (hintergründige) Systemgedanke, dass (nur) eine militärische Kommandostruktur Notstände in unserer Gesellschaft aufheben kann und muss. Dieser Hintergrund ist nicht nur makaber, sondern für die Entwicklung der Demokratie (als eines konsequenten Aufklärungsprojektes) tödlich.

Durch die Wahl eines Bundeswehrgenerals – unabhängig von seinen individuellen Problemlösungsfähigkeiten – wird m.E. die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger missachtet (es geht nicht um Befehl und Gehorsam) und die demokratische Struktur ihrer Selbstverwaltung (auch in Notsituationen) in Frage gestellt.

Nicht nur das Gesundheitswesen und der Lebensschutz (z.B. im Straßenverkehr), sondern auch die Mängelverwaltung der öffentlichen Schulen ist ein gutes Beispiel für die Defizite an demokratischer Digitalisierung (Vernetzung) und pädagogischer Steuerung im Interesse der Ausbildung und Mündigkeit von Kindern und Jugendlichen (Chancengleichheit). Auch die weltweite Entdemokratisierung der menschlichen Gesellschaften erhält durch die „militärische Lösung“ eine fragwürdige Legitimation. Es kann sich zeigen, dass die notwendige „Digitalisierung“ – im Sinne einer effektiven Steuerung und Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse – in eine vordemokratische Herrschaftsstruktur umgemünzt wird.

Dass die militärisch organisierte Bundeswehr (organisiert für den Verteidigungsfall und instrumentalisiert für weltweite Kriegseinsätze) im innerstaatlichen wie internationalen Notfall hilft, ist m.E. notwendig und sinnvoll (von ihren personellen und technischen Möglichkeiten her). Aber dass der „militärisch-industrielle Komplex“ als Problemlösungsstrategie erscheint und benutzt wird, ist für die Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft gefährlich.

Zivilgesellschaften erscheinen als hilflos und überholt. Daher kommt es darauf an, die demokratischen und im Interesse der Menschen wirksamen Strukturen zu verbessern und der Demokratisierung (im Sinne von Mitbestimmung und Gemeinwohl) eine Zukunftschance zu geben.

Souveränität – ein problematischer Begriff aus vordemokratischer Zeit

Im Kontext der aktuellen Kontroverse im Vereinigten Königreich (UK) bezüglich des „Brexit“ und der nationalistischen Tendenzen in anderen Staaten der Europäischen Union erläutere und kritisiere ich den populistischen Missbrauch des Begriffes „Souveränität“ (des Staates, der Nation, auch des Volkes). Es wird die gefährliche Illusion geschürt, dass die (wiederherzustellende oder zu stabilisierende) Souveränität des einzelnen Staates für das Leben der Menschen in der jeweiligen Gesellschaft Vorteile bringe. Genau das Gegenteil ist im heutigen Europa der Nationalstaaten der Fall! Die Idee der Staatssouveränität (gegenüber anderen Staaten) wird zur Ideologie, die begründen soll, warum und wieso es sinnvoll und nützlich ist, sich „grenzmäßig“ abzuschließen und abzusichern, um die phantasierte Selbstbestimmung zu erhalten.

Selbst das sinnvolle „Gewaltmonopol des Staates“ ist nicht von der vordemokratischen Souveränität (der jeweiligen Herrschaft) abzuleiten, sondern dient allein dem Schutz menschenwürdigen Lebens aller in der Gesellschaft; also der friedlichen und gerechten Konfliktlösung. Auch hat der demokratisch verfasste Staat – für mich die Republik – kein uneingeschränktes Gewaltmonopol, sondern es gilt die unauflösbare Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative.

Hinzu kommen die für alle – Menschen wie Institutionen – gültigen Menschenrechte; mit dem obersten Imperativ, dass die Würde des Menschen (nicht nur der sog. „Staatsbürger“) unantastbar ist.

Artikel 1 (1) des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland sagt unmissverständlich: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Daher ist – um ein extremes Beispiel zu nennen – meiner Überzeugung nach die sog. „Todesstrafe“ (als staatliche Sanktion, selbst als Gerichtsurteil) menschenrechtswidrig; unabhängig von Artikel 102 GG, der sie in der Bundesrepublik Deutschland abschafft. Staaten, in denen die Todesstrafe möglich ist oder sogar praktiziert wird, haben ein Demokratie-Defizit. Die Todesstrafe ist ethisch nicht verantwortbar; auch nicht durch das Notwehrrecht, das ich nur im Rahmen eines individuellen Schutzrechtes diskutieren und problematisieren kann.

Zu den Grundsätzen der Demokratie gehört auch ein parlamentarisch verfasstes Gesetzgebungssystem, das regelmäßige freie Wahlen voraussetzt und die Wirksamkeit populistischer Vorstellungen ausschließt. Volksbefragungen, Volksabstimmungen und auch interessengebundene Bürgerinitiativen sind sinnvolle Ergänzungen unterschiedlich gestalteter Systeme des Parlamentarismus; aber Beratungsabläufe, Kompromissfähigkeit und Kompromissbereitschaft müssen strukturell erhalten bleiben (Mehrheitsentscheidung und Minderheitenschutz).

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, so sagt Artikel 20 (2) des Grundgesetzes. Aber die „Macht des Volkes“ ist in der Demokratie weder grenzenlos noch ungeordnet (Demokratie und Anarchie sind daher streng unterschieden). Daher heißt es im Grundgesetz weiter: „Sie – die Staatsgewalt – wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“. Und nur „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“, haben „alle Deutschen das Recht zum Widerstand“ – „gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen“. Ich zitiere diese Passagen des Grundgesetzes, um die antipopulistische Orientierung unserer Verfassung zu verdeutlichen.

Menschenrechte und Gewaltenteilung, wie auch die Bereitschaft, Kompromisse zu akzeptieren und das Gemeinwohl über das Einzelinteresse zu stellen (ausgleichende Gerechtigkeit) sind für demokratische Gesellschaften konstitutiv. Der Kompromiss verlangt eine argumentative Vorbereitung, einen kommunikativen Austausch sowie ein akzeptables und akzeptiertes Verfahren.

Unter diesen Bedingungen hat Demokratie – als Gesellschaftsform – keine statische Struktur, sondern ist ein dynamischer Prozess (Demokratisierung), der jede Form von notwendiger Machtausübung begrenzt (vor allem ökonomische Macht); orientiert an Freiheit, Gleichheit (vor dem Gesetz) und Gerechtigkeit. Ohne die Verbindlichkeit zu relativieren, gilt diese Dynamik für die Grundrechte und ihre Entstehungsgeschichte selbst: ich erinnere an die Kontroverse über Artikel 14 und 15 GG im Parlamentarischen Rat (Eigentum und Vergesellschaftung). Es wäre möglich und – meiner Überzeugung nach – sinnvoll gewesen, den Eigentumsbegriff grundsätzlicher zu differenzieren; denn persönliches Eigentum, Eigentum an Produktionsmitteln, Erbe und Finanzkapital sind begrifflich (in Bezug auf ihre Wirkungsweise) zu trennen. Aber dies war (mehrheitlich) nicht gewollt und theoretisch kontrovers (vgl. die kritischen Analysen der Politischen Ökonomie).

Die Dynamik der Demokratisierung kann nur erhalten bleiben, wenn der Grundkonsens an Empathie und Solidarität nicht zerstört wird oder verloren geht. Das bedeutet, dass Probleme und Konflikte gewaltfrei, friedlich gelöst werden (müssen). Die Einsicht in die Vorläufigkeit der jeweiligen Lösungen, und damit die Möglichkeit der Veränderung und Verbesserung darf nicht verloren gehen.

Alle Macht (Staatsgewalt) geht vom Volke aus; dieser Imperativ kann missverstanden und missbraucht werden (die Differenz zwischen Macht und Staatsgewalt beachte ich hier nicht):

(1) wenn die Aussage „wir sind das Volk“ interessenmäßig missbraucht wird;

(2) wenn sich hinter dieser Aussage ideologische Positionen und Vorstellungen verstecken (insbesondere mit dem problematischen Begriff „Volk“ verknüpft), die Kompromisse verhindern oder denunzieren, oder Menschenrechte (insbesondere Minderheitsrechte) außer Kraft zu setzen versuchen;

(3) wenn demokratische Institutionen zerstört oder eingeschränkt werden (z.B. die Pressefreiheit oder das Recht auf umfassende Information).

p.s. Zum Begriff „Souveränität“ als populistischer Kampfbegriff

Nach einem Diktum von Martin Luther kommt es darauf an, den Leuten aufs Maul zu schauen, aber nicht nach dem Munde zu reden – eine Anregung für verständliches und verstehbares Übersetzen. Populisten gebrauchen/missbrauchen sinnvolle Begriffe als „Kampfbegriffe“, um Seriosität vorzutäuschen, wollen aber emotionale Zustimmung erreichen. Das gilt auch für den Begriff „Souveränität“, der historisch (wie möglicherweise juristisch) sinnvoll gebraucht werden kann, aber innerhalb der Demokratie-Theorie unbrauchbar ist. Bei Carl Schmitt zeigt sich die Doppelbödigkeit dieses Begriffes in seiner vordemokratischen/faschistoiden Staatsauffassung.