Überleben schafft keine Chancengleichheit

„Nach einer Epidemie sind alle, die noch da sind, Überlebende.“

So formuliert Ivan Krastev in seinem in diesem Jahr in Englisch und Deutsch erschienenen Buch „Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert, Berlin 2020 (Ullstein; Is It Tomorrow, Yet? How The Pandemic Changes Europe) auf Seite 10.

Diese Aussage ist wahr und falsch zugleich. Angenommen, es gibt einen Zeitpunkt a, an dem eine Epidemie oder Pandemie „vorbei“ ist, dann sind zwar alle Menschen, die zu diesem Zeitpunkt (noch) leben, „Überlebende“, aber sie waren weder vor diesem Zeitpunkt „gleich“, noch sind sie es nach diesem Zeitpunkt. Entweder ist diese Aussage banal, oder sie ist unwahr, wenn damit „Chancengleichheit“ gemeint ist. Die Ungleichheit der Lebensverhältnisse bleibt: reich oder arm, gebildet oder ungebildet, in Arbeit oder arbeitslos. Trotz möglicher Verschiebungen oder besserer Wahrnehmung verändern sich die jeweiligen sozialen Unrechtsverhältnisse in Bezug auf die Lebensbedingungen der Menschen nicht. Die Forderung nach gerechter Verteilung des produzierten Reichtums und unterschiedlicher Bewertung von persönlichem Eigentum und Eigentum an Produktionsmitteln (in Weiterführung und Differenzierung der entsprechenden Grundgesetzartikel), wie auch einer gleichwertigen Mitbestimmung (Demokratisierung) bleiben unerfüllt. Vielleicht werden diese Forderungen offensichtlicher – trotz staatlicher Schutzmaßnahmen, die diese Wünsche auch verdecken.

Zwar nimmt in Zeiten der Pandemie die Hilfsbereitschaft zwischen den Menschen – auf der Grundlage der Empathie – zu, aber der „Ausbruch“ an Sympathie setzt gerade die bestehend bleibende Ungleichheit voraus, auch wenn sie als „unmoralisch“ empfunden wird.

Ich wehre mich entschieden gegen die zugrunde liegende naturalistische Ideologie, Naturkatastrophen würden die Menschen in gleicher Weise betreffen und zur Durchsetzung der Chancengleichheit strukturell beitragen. Ob ich als Rentner mit regulärem Einkommen oder als arbeitslos gewordener Familienvater eine Pandemie überlebe, ist ein grundlegender Unterschied; wobei schon Überlebenschancen unterschiedlich sein können. Das Risiko ist ungleich, da ich mich unterschiedlich schützen kann.

Wir alle kennen den Spruch: „Im Tode sind wir alle gleich.“ Doch selbst dieser Spruch ist missverständlich. Zwar müssen alle Menschen (als Individuen) sterben – der menschliche Organismus ist endlich –, aber objektive Bedingung wie subjektive Erfahrung des individuellen Sterbens sind – weltweit gesehen – brutal unterschiedlich. Die Einforderung, die Würde aller Menschen zu achten, ist ein Postulat, ein kategorischer Imperativ, der umgesetzt werden muss (individuell wie strukturell). Insofern bin ich ein aufgeklärter Realist und bestimme – im Sinne von Hannah Arendt – den Menschen als „sterblichen Schöpfer“. (Vgl. die entsprechenden Reflexionen in meinem 2020 erschienen Buch „Aufgeklärter Realismus“.)

Staat und Verwaltung können zwar zur Sicherung des Allgemeinwohls und zum Schutze die häusliche Domestikation anordnen und erzwingen, aber damit wird die Struktur der Lebensverhältnisse nicht grundsätzlich geändert. Zwar werden in Zeiten einer Pandemie Mängel an gesetzlichen Maßnahmen sichtbar oder Ideologien erkennbar und der Druck der Aufklärung kann sich verstärken, aber um es floskelhaft auszudrücken:

Naturgewalt schafft nicht die kapitalistische Produktionsweise ab.

Der Grundwiderspruch der Marktwirtschaft, in der alle Güter in Waren verwandelt werden, bleibt bestehen. Aber ich hoffe, dass dies immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft erkennen und ihre Lebenspraxis verändern.

Dies verlangt auch eine strukturelle Änderung der bestehenden ökonomischen Verhältnisse. Ich empfehle eine kritische Analyse und Aneignung von Paul Mason: Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie (Im Englischen Original: PostCapitalism. A Guide in Our Future, London 2015), Berlin 2018 (Suhrkamp). Mason zeigt auf, wie aus den Trümmern des Neoliberalismus eine gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft errichtet werden kann.

Kontrollverlust bei Pandemien – und die Schwäche der Gewerkschaften

Pandemien unterscheiden sich von Naturkatastrophen „traditioneller“ Art dadurch, dass ihre Dauer langfristig und ihre zeitliche Wirkung (relativ) unbestimmt ist; sodass man von einem Ende – dann beginnt das „Aufräumen“ – kaum sprechen kann. Das erzwingt staatlicherseits längerfristige Schutzmaßnahmen mit ungewissem Ende bzw. in wiederkehrenden Formen.

Pandemien wirken nicht nur schubweise, sondern auch weltweit – und sind kaum regional eingrenzbar, anders als Tornados oder Erdbeben; trotz deren verheerender Wirkung (z.B. bezüglich der Anzahl der Toten und Verletzten). Die längerfristig verwaltungsseitig verordnete und erzwungene Domestikation (auch mit polizeilicher Gewaltausübung) bewirkt eine soziale Verunsicherung, die gerade bei jungen Menschen zu eruptiven Gewaltausbrüchen und zum zeitweiligen Verlust individueller Kontrolle führen kann.

Dieser Kontrollverlust wird dadurch verstärkt, dass die zeitgleiche, intensive Medienberichterstattung es dem Einzelnen nicht mehr erlaubt, das subjektiv wahrgenommene Bedrohungsszenario zu verarbeiten oder zumindest auszublenden.

Eine regionale Konzentration der Personen, die durch das Virus angesteckt wurden, wie z.B. aktuell in Großschlachtereien und im Wohnumfeld der dort arbeitenden, zum Teil ausgebeuteten Arbeiterinnen und Arbeitern, zeigt die relative Unfähigkeit oder den Unwillen der staatlichen Instanzen, solch „Ausbrüche“ zu verhindern, die industrielle Fleischproduktion, also den Kreislauf von Massentierhaltung, Massentierschlachtung und die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft zu verbieten.

Offensichtlich ist auch die Schwäche der Gewerkschaften, die Interessen der ausgebeuteten „Wanderarbeiter“ wirksam zu vertreten und menschenwürdige Arbeits- und Wohnbedingungen zu erzwingen. Ich frage mich, wo der öffentliche und wirksame Protest und Widerstand des DGB und der zuständigen Einzelgewerkschaften bleibt, um solche Unternehmerstrukturen zu zerschlagen, die schon der sozialen Marktwirtschaft in unserer Gesellschaft zuwiderlaufen?

Nun droht die EU-Kommission den betroffenen Staaten mit einer neuen Richtlinie, da die bestehende EU-Entsenderichtlinie möglicherweise nicht ausreicht. Der zuständige EU-Arbeits- und Sozialkommissar Schmit aus Luxemburg formuliert: „Saisonarbeiter müssen gleichberechtigt zu allen anderen Arbeitskräften behandelt werden … Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. Aber ich frage mich: Wo bleibt der lautstarke und zielgerichtete Protest der Gewerkschaften in Europa? Die strukturelle Schwäche der europäischen Gewerkschaftsbewegung verhindert, die Interessen der Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter in Europa wirkungsvoll zu vertreten und die menschenverachtende Ausbeutung zu beenden.

Chaos produzierende „Randalen“ sind auch eine Folge aus der „Unfähigkeit“ der Gewerkschaften, organisierten, wirksamen und zielgerichteten Widerstand gegen diese Unternehmerstruktur der industriellen Fleischproduktion („Schlachtindustrie“) zu entwickeln, um diese Strukturen abzuschaffen. Übrigens trifft diese Kritik nicht nur Einzelunternehmer wie Tönnies, die auch als Fußballfunktionäre das seit römischer Zeit bekannte Spiel „Brot und Spiele“ betreiben, sondern auch genossenschaftliche Unternehmen wie Westfleisch, in denen die Landwirte (mit ihrer Massentierhaltung) das Sagen und den Gewinn haben. Die gesamte Produktionskette ist menschenunwürdig und allein am Eigennutz orientiert.