Heute Morgen nach dem Frühstück, während ich Hannes Wader hörte, las ich eher zufällig im Gedichtsband Hell und Schnell. 555 komische Gedichte aus 5 Jahrhunderten, herausgegeben u.a. von Robert Gernhardt, einen Text von Heinrich Heine: Das Fräulein stand am Meere.
Das Fräulein stand am Meere
und seufzte lang und bang,
es rührte sie so sehre
der Sonnenuntergang.
Mein Fräulein! Sein Sie munter,
das ist ein altes Stück,
hier vorne geht sie unter
und kehrt von hinten zurück.
Dieses Heine-Gedicht von der Wiederkehr des Gleichen rührte mich, eben auf komische Weise, und ich entschloss mich, es abzuschreiben (eine Art Genussverstärker). Dazu ging ich an das entsprechende Bücherregal, nahm die einbändige Heine-Dünndruck-Ausgabe, relativ sicher, dort schon dieses komische Produkt meines geliebten Heine zu finden; begab mich an meinen Schreibtisch, um mit blauer Tinte (zu Ehren des 1. Mai) den Fräulein-Text abzuschreiben.
Ich fand nicht nur das Gedicht (auf Seite 478), sondern eines meiner ältesten Bücher, die mich bis heute begleiten:
Heinrich Heine Werke in einem Band (handlich auf Dünndruck) bei Hoffmann und Campe in Hamburg erschienen – zum 100. Todestag von Heine am 17. Februar 1956 und anlässlich des 175jährigen Bestehens des Verlages (1781) veröffentlicht; in der 4. Auflage.
Und wie aus der römischen Ziffernangabe meiner damaligen Unterschrift (III.LXII) erkennbar und aus einem Einkleber auf der Innenumschlagseite ablesbar im März 1962 in Krefeld bei der Kleinʼschen Buchhandlung (W. Kirchhoff) gekauft.
Dieses Buch begleitet mich also seit meiner Schulzeit – kurz vor dem Abitur – und teilt bereits die Unart – meine Unart – vieler meiner mit Inbrunst gelesenen Bücher: vollgekritzelt mit handschriftlichen Bleistiftnotizen – und einer Kuriosität auf der dritten Innenseite: Es weist mit drei unterschiedlichen Unterschriften mich als Besitzer aus. Die stilistischen Unterschiede demonstrieren meine Entwicklung 1962, 1971, 2014.
Ich interpretiere diese Unterschiede meiner jeweiligen Unterschrift einerseits als Entwicklung, andererseits als gleichbleibendes Bewusstsein meiner Bibliomanie (Bücherbesitzsucht). Des weiteren zeigen auch die handschriftlichen Einträge, dass ich „meinen“ Heine immer wieder gebraucht, gelesen habe. Dafür zitiere ich einige Beispiele:
Das oben aufgeschriebene Gedicht von der Wahrnehmung des Sonnenuntergangs am Meer gehört zu einer Sammlung der ironisch gebrochenen Wahrnehmungen am Meer. Es heißt dort (Seite 479):
Das Meer erstrahlt im Sonnenschein,
als ob es golden wär.
Ihr Brüder, wenn ich sterbe,
versenkt mich in das Meer.
Hab immer das Meer so lieb gehabt,
es hat mit sanfter Flut
so oft mein Herz gekühlet;
wir waren einander gut.
Diese Verse habe ich dick angestrichen und kommentiert: „Heines Banalitäten im letzten Vers – meine Welt!“
Und dann „Deutschland – ein Wintermärchen“ – ein immer wieder von mir als Deutschlehrer bearbeitetes Reisegedicht. Zu Ende des Kaput XIV heißt es:
Wie klingen sie lieblich, wie klingen sie süß,
die Märchen der alten Amme!
Mein abergläubisches Herze jauchzt:
„Sonne, du klagende Flamme!“
Und ich kommentiere: „Mein Freund Heine – der selbe Aberglaube, dieselbe Sehnsucht, anderer Spott in anderen Seiten“. Ich kann sogar rekonstruieren, wann und wo ich diesen Kommentar geschrieben habe, denn auf der selben Seite (557) heißt es am Rand: „1.30 DM fürs Fürstenberger, 17.00 DM Traube in Waldau“. Ich verzichte auf eine biografische Aufklärung dieses Hinweises und ende mit einem Blick in Heines im September 1844 geschriebenes Vorwort des „Wintermärchens“. Dort träumt Heine von seinem europäischen Patriotismus in emphatischer Weise und schimpft auf seine Verleumder in den deutschen Ländern und in den damaligen Medien: „Wahrhaftig, Schufterle ist nicht tot, er lebt noch immer, und steht seit Jahren an der Spitze einer wohlorganisierten Bande von literarischen Strauchdieben …“. Ich habe mit Bleistift wiederholt: „Wahrhaftig, Schufterle ist nicht tot.“ Mehr ist bis heute nicht zu sagen; Heine sei es geklagt und gelobt.