Problemlösungen mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz (KI) sind seit jeher ausgelagerte und optimierte Bewusstseinsleistungen, bleiben vorläufig und bedürfen einer sachgemäßen Kontrolle.
Künstliche Intelligenz ist dem Grunde nach kein neues Phänomen der Gegenwart. Die systematische und erfolgreiche „Auslagerung“ von Möglichkeiten (Potenzen) des menschlichen Bewusstseins kennzeichnet die Entwicklung der Menschheit (die Menschheitsgeschichte) von Anfang an.
Diese Entwicklung des homo sapiens im Anthropozän darf nicht mit der biologischen Evolution des Menschen als sterbliches Naturlebewesen verwechselt werden; auch wenn Entstehung und Sterblichkeit des Individuum „Mensch“ seine „Natur“ prägen. Alle ideologischen Spielarten des Naturalismus verwechseln Natur (die Gesetze der Evolution) und Geschichte (der Menschheit, ihrer Gesellschaften und Kulturen).
Auch die religiösen Sprachspiele (Schöpfungsmythen und Paradiesvorstellungen) verfälschen die realen Bedingungen der Entstehung und Entwicklung der Menschheit auf dem Planeten Erde. Diese Projektionen sind durch theozentrische Weltvorstellungen (Weltbilder) geprägt. Ob, und wenn ja, welche Bedeutung diese Projektionen für das Bewusstsein des homo sapiens hatten und haben, kann erst im Rahmen einer religionskritischen Analyse geklärt werden.
Ein Ergebnis aufgeklärten, religionskritischen Denkens kann ich schon vorwegnehmen: Paradiesvorstellungen im Himmel wie auf Erden sind Projektionen des menschlichen Bewusstseins und keine realen Zielvorgaben.
Zurück zur Entstehungsgeschichte des Bewusstseins der Menschen. Schon Erasmus von Rotterdam (zu Anfang des 16. Jahrhunderts) übersetzt den ersten Vers des Prologs des Johannes-Evangeliums (im Anfang war der logós) vom Griechischen ins Lateinische mit sermo (Gespräch) statt verbum (Wort). Das war sehr mutig und verstieß gegen die Vulgata-Übersetzung des Hieronymus. Ich erweitere für meine Argumentation: Im Anfang war die Kommunikation.
In ihr und durch sie entwickelt sich die einzigartige Intelligenz der Gattung homo sapiens,“die sie zu Empathie, Abstraktion (Jenseitsvorstellungen) und Transitivität (es ist ihm geschehen, es wird allen geschehen) befähigt“. (Zitat aus: T. Pievani, V. Zeitoun: Homo sapiens. Der große Atlas der Menschheit, Darmstadt 2020, S. 115)
Mir geht es in meiner Analyse nicht um die anatomische Sicht des modernen Menschen (innerhalb der biologischen Evolution), sondern um die speziellen Leistungen des menschlichen Bewusstseins (bzw. seines Selbstbewusstseins).
Bevor ich in mehreren Szenarien (1 – 9) die kommunikativen Lernprozesse der Menschen (vom Anfang ihrer Geschichte bis heute) erläutere, die zu Auslagerung, Regulierung und Arbeitsteilung sowie zur notwendigen Kontrolle dieser Resultate der (vorläufigen, da korrigierbaren) jeweiligen Problemlösung führen, zitiere ich Hannah Arendt (1906-1975):
„Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden.“ (1958)
Die Schöpferkraft des einzelnen Menschen ist zwar begrenzt, da das Individuum (als Naturwesen) sterblich ist, aber durch Kooperation und Auslagerung der Potenzen des menschlichen Bewusstseins können die Probleme des menschlichen Lebens und Überlebens erfolgreich, wenn auch vorläufig gelöst werden.
Bezüglich des Programms der Aufklärung am Ende des Anthropozäns und unter den Bedingungen des anthropozentrischen Weltbildes habe ich daher 2023 (in meinem Buch „Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän“) formuliert:
„Die schöpferische Potenz des menschlichen Bewusstseins besteht darin, Probleme erfolgreich, nachhaltig und überprüfbar zu lösen. Diese Potenz steht unter dem Vorbehalt der Sterblichkeit des Menschen als Individuum und lebt aus der Dynamik des Vorläufigen (provisorisch und antizipativ zugleich).“
In einem summarischen, historisch-kritischen Rückblick (in verschiedenen Szenarien) versuche ich, die Geschichte erfolgreicher Problemlösungen zu skizzieren:
(1) Die ersten Menschen haben gelernt, das Feuer, um das sie in Gruppen saßen, gebrauchsorientiert zu nutzen, nicht nur als Licht- und Wärmequelle, sondern auch zur Nahrungsaufbereitung. Zugleich waren sie (zunehmend) in der Lage, das Feuer zu kontrollieren, insbesondere wenn sie ihr Wissen in Bild und Schrift weitergaben, also nicht nur einander mitteilten, sondern – mitteilbar und anwendbar – fixierten. Die „Auslagerung“ von Wissen aus der Erinnerung im Gespräch – führt zur Arbeitsteilung, Regulierung und der notwendigen Kontrolle, um sich vor Gefahren zu schützen.
Von Anfang an hat der Naturschutz eine doppelte Funktion: er soll die Menschen vor Gefahren schützen und die Natur vor Missbrauch der Natur durch den Menschen.
(2) Während sich die ersten Menschen (nach ihrer Wanderung aus Afrika nach Europa) in ihren Höhlen vor den Naturgefahren schützten, lernten sie auch, sich „die Zeit zu vertreiben“.Sie schnitzten aus Tierknochen und Hörnern Tiere, symbolische Frauenkörper und Flöten, auf denen sie zu musizieren lernten. Zum gemeinsamen Problemlösen gehört auch die künstlerische Tätigkeit: malen, schnitzen, musizieren.
(3) Die ersten Menschen entwickelten ihr Bewusstsein im Umgang mit den verstorbenen Mitmenschen und mit ihrer eigenen Sterblichkeit. Es entstehen Praktiken und Kulturen der Trauer und Erinnerung, sowie Vorstellungen in religiösen Sprachspielen und speziellen Begräbnisformen.
Das Nachdenken über die Sterblichkeit ermöglicht dem aufgeklärten homo sapiens, die Differenz zwischen chronologischen Vorstellungen und Erwartungen und kairologischen Erfahrungen (am Ende des Anthropozän) zu erkennen und auf dieser Basis – in Form konkreter Utopie – die Überzeugung von der Erlösung zu gewinnen.
Vielleicht können auf diese Weise sowohl aufgeklärte Christen als auch aufgeklärte Atheisten (jenseits der Weltanschauungen des Polytheismus, Monotheismus oder Pantheismus sowie des Atheismus) Erlösung denken und ihrer Überzeugung bedeutsamen Ausdruck geben.
(4) Die ersten Menschen haben gelernt und lernen bis heute, ihren Alltag und ihre Zukunft zu regulieren. Dazu gehört auch die Sicherung und die Wissensvermittlung an die Nachkommen. Zeugung, Geburt und Aufzucht werden geplant und gesichert. Ich polemisiere: am Anfang der Menschheitsentwicklung steht nicht die Prostitution, sondern der Hebammen-Beruf.
(5) Die ersten Menschen haben gelernt (und lernen bis heute), alte und kranke Mitmenschen zu versorgen und zu pflegen. Diese Sorge wurde teilweise im Laufe der Jahrhunderte ausgelagert in Spitale und Krankenhäuser und in spezielle Berufe der Pflege und der ärztlichen Versorgung.
(6) Die Menschen haben gelernt und lernen bis heute, ihre Problemlösungen durch Bild, Schrift und Buch systematisch (und für andere erlernbar) auszulagern: von der Bibliothek (des Altertums) über die Vervielfältigung des Wissens durch den Buchdruck bis zum weltweiten Internet.
(7) Auf der Ebene des Handwerks und der Produktion der für das Leben der Menschen notwendigen Güter zeigt sich, dass ihr Charakter als „Ware“ keine Kontrolle im Sinne von Menschenschutz und Naturschutz ist. Auch die weltweite Güterproduktion durch Maschinen ersetzt nicht die Kontrolle, sondern verlangt sie auf sachgemäße Weise.
(8) Die bewusste Wahrnehmung durch die menschlichen Sinnesorgane kann ebenfalls ausgelagert werden. So ist die Wahrnehmung der Umwelt durch einen Roboter (und seine Kommunikation durch künstliche Sprache) imitierbar und als einzelne Sinnesleistung (auch durch sprachliche Reaktion) optimierbar. Diese Formen der Imitation (Auslagerung als homunkulus-Konstruktion) irritieren und regen die Phantasie an, können aber z.B. als Drohnen zu Zerstörung und Vernichtung (im Krieg) missbraucht werden.
(9) Den Menschen gelingt es, durch „affective computing“ die emotionale Wirkung von Gefühlen zu imitieren und diese Wirkung gezielt auszulagern. Solche KI-Programme können die Autonomie des einzelnen Menschen gefährden. Für alle Mensch-Maschine-Systeme gilt: Rückschlüsse von wahrgenommener Gestik und Mimik auf emotionale Zustände sind nie eindeutig und bedürfen der Überprüfung, um Missverständnisse (gewollt oder ungewollt) und Missbrauch auszuschließen. Das gilt übrigens sowohl für den Automaten (hinter den menschliche Interessen stecken) wie den Menschen.
(vgl. E. Weber-Guskar: Gefühle der Zukunft. Wie wir mit emotionaler KI unser Leben verändern, Berlin 2024)
Alle „Auslagerungen“ der Potenzen des individuellen Bewusstseins sind ein Fortschritt in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften, aber zugleich ein Risiko, das der Kontrolle der Menschen vom Anfang „ihrer“ Geschichte bedarf. Die heute vorherrschenden Ideologien des Naturalismus und Konstruktivismus be- und verhindern die Einsicht, dass Auslagerung und Kontrolle zusammen gehören.
Aus der Erkenntnis, Probleme des Lebens und Überlebens gemeinsam erfolgreich lösen zu können, aus der Einsicht in die Vorläufigkeit aller Lösungen und aus der notwendigen Vorsicht, also Kontrolle des eigenen Verhaltens während der Problemlösungsprozesse, sowie der Erkenntnis, Gebrauch und Missbrauch aller „Werkzeuge“ unterscheiden und bewerten zu können, entwickelt sich das eigenständige Bewusstsein des homo sapiens und bilden sich die gesellschaftlichen Normen.
In meiner „Anthropologie der Aufklärung“ stelle ich die Möglichkeiten des menschlichen Bewusstseins als gemeinsame Schnittmenge von Natur (ES) und Gesellschaft/Norm (ÜBERICH) in der Geschichte dar. Daraus wird deutlich, dass die Geschichte der Menschheit anders verläuft als die Evolution der Natur. Auch versuche ich in meiner Anthropologie der Aufklärung zu zeigen, dass der Prozess der menschlichen Geschichte nicht ziellos verläuft, wie konstruktivistische Weltanschauungen vermuten, sondern „Erlösung“ als Utopie gedacht werden kann.
Der homo sapiens zeigt sich am Ende des Anthropozän als homo praestans, der für sein Denken und Handeln einsteht; seine Verantwortung ist ungeteilt.
Die Menschen lernen, ihre „sterbliche Schöpferkraft“ einzuschätzen und zu regulieren. Dieser Lernprozess verläuft nicht zwangsläufig, sondern entscheidungsorientiert.
Ich fasse zusammen:
Von Anfang an ist Verantwortung in kommunikativen Strukturen die einzige Möglichkeit, Konsequenzen aus der Dynamik des Vorläufigen bei allen Problemlösungen zu ziehen und den „Fortschritt“ der Menschheitsentwicklung zu sichern. Dabei ist dieses Wort problematisch, weil es das Risiko der Dynamik des Vorläufigen in allen Problemlösungsprozessen (im Alltag, in der Gesellschaft, in der Wissenschaft) unterschlägt. Dass ein zunehmend großer Teil dieser Problemlösungsprozesse seit jeher ausgelagert und optimiert wird, ändert nichts an der Verantwortung der Menschen für diesen Prozess.
Um es pointiert zu formulieren:
Der zerstörerische Brand der Bibliothek von Alexandria im Altertum bleibt genau so verantwortungslos wie die Produktion von (imitierten) fakenews im weltweiten Internet.
Und ich füge hinzu: die mythologischen Erzählungen von der Schöpfung (inklusive der Paradiesvorstellungen) setzen ein – historisch gesehen – überholtes theozentrisches Weltverständnis voraus; auch wenn die Bedeutung der religiösen Sprachspiele der (möglichen) Übersetzung bedarf. Für den aufgeklärten Menschen bleibt klar: es gab und gibt und wird nicht geben: das Paradies im Himmel wie auf Erden.
Die heute fortschreitende Auslagerung von menschlichen Bewusstseinsleistungen verlangt eine angemessene und wirksame Kontrolle. Diese Kontrolle ist nicht ziellos, sondern orientiert sich zuerst an dem, was eine erfolgreiche und sachgemäße Problemlösung bedeutet, und zuletzt bzw. grundsätzlich, was die Utopie der Erlösung verheißt.