Feld oder Raum – „Berechenbarkeit“ ist für eine „Theorie des Bewusstseins“ nicht ausreichend. – Zur Lektüre von Roger Penrose, Nobelpreisträger Physik 2020: Computerdenken
Während der Lektüre von: Roger Penrose: Computerdenken. Die Debatte um künstliche Intelligenz, Bewußtsein und die Gesetze der Physik, Heidelberg/Berlin 2002 (Originaltitel: The Emperor‘s New Mind Concerning Computers, Minds, an the Laws of Physics, New York 1989)
Das Nicht-berechenbare ist begreifbar; insofern ist die Natur – in ihrer Wahrnehmung für den Menschen (als leibgebundenes Vernunftwesen) mehr als eine endliche Summe von Algorithmen. Der Kosmos (der Welt-Raum) ist ebenfalls begreifbar, wenn auch nicht als Algorithmus. So verstehe ich Roger Penrose, den Erforscher der Schwarzen Löcher und diesjährigen Nobelpreisträger für Physik.
Natur ist auch – für den Menschen als leiblich wahrnehmenden, denkenden Organismus (durch seine Sinnesorgane und sein die Eindrücke verarbeitendes Gehirn) – existenziell erfahrbar. Und von diesen Erfahrungen kann – gesprächsweise – erzählt werden.
Penrose macht deutlich, dass die Natur – als Mikrokosmos wie Makrokosmos – nicht (nur) „algorithmisch“ in ihren Gesetzmäßigkeiten verstanden werden kann, sondern (auch) stochastisch wie durch weitere „Reflexionsprinzipien des menschlichen Bewusstseins“ (so R. Penrose) begriffen werden muss.
Natur als Leib- und Umwelterfahrung ist auch existenziell erfahrbar und erzählbar, aber nicht begreifbar. Das Erzählen dieser existenziellen Erfahrungen folgt einer dialogischen Struktur, ist an Mitteilung und Gespräch orientiert und nur in dieser Struktur verstehbar.
Die dialogische Struktur ist selbst da grundlegend gegeben, wo ich bewusst nachdenke (in der Form der Selbstreflexion) und mit mir selbst spreche (als Selbstgespräch). Das Gespräch ist Ausdruck des menschlichen Bewusstseins. So wie das Gespräch einen Dialogpartner verlangt, so geschieht das Gespräch in einem spezifischen Raum; seien es die Höhle, die Studierstube, die Wohnung, oder auch der Unterrichtsraum, Tempel und Kirchen (als ein- und ausgegrenzte Räume), der Bürgersaal, das Parlament oder die Philharmonie.
Bei allen diesen Räumen liegt der dreidimensionale Raum (wie in der klassischen Physik) zugrunde. Anders verhält es sich bei elektrisch geladenen Räumen oder beim Welt-Raum (dem Universum). Albert Einstein spricht in seinem Vorwort zu Max Jammer: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien (Darmstadt 1960) (Original: Concepts of Space (1954); das Vorwort von A. Einstein wurde 1953 auf Deutsch geschrieben) von der „Überwindung des selbständigen Raumes“ der modernen Physik durch den „Feld“-Begriff im Kontext der Feldtheorie:
„Die Überwindung des absoluten Raumes … wurde erst dadurch möglich, dass der Begriff des körperlichen Objektes als Fundamentalbegriff der Physik allmählich durch den des Feldes ersetzt wurde. Unter dem Einfluss der Ideen von Faraday und Maxwell entwickelte sich die Idee, daß die gesamte physikalische Realität sich vielleicht als Feld darstellen lasse, dessen Komponenten von vier raum-zeitlichen Parametern abhängen. Sind die Gesetze dieses Feldes allgemein kovariant, d.h. an keine besondere Wahl des Koordinatensystems gebunden, so hat man die Einführung eines selbständigen Raumes nicht mehr nötig. Das, was den räumlichen Charakter des Realen ausmacht, ist dann einfach die Vierdimensionalität des Feldes. Es gibt dann keinen leeren Raum, d.h. keinen Raum ohne Feld.“ (Einstein 1953 in: Jammer 1960, S. XV)
Ich schlage vor, im Zusammenhang physikalischer Überlegungen, insbesondere der heutigen Mikro- und Makrophysik, von Feld zu sprechen, das schließt den Raumbegriff der klassischen Physik mit ein. Demgegenüber muss die Erzählung (das erzählende Gespräch) unter den Bedingungen des jeweiligen Erzähl-Raumes analysiert werden.
Für das Gelingen eines Gespräches zwischen Menschen in einem Raum, wie auch in unterschiedlichen Räumen (aber einer Atmosphäre) ist die Aktivität des (physikalisch-elektrischen) Feldes notwendig, aber nicht ausreichend, denn das Gelingen menschlicher Kommunikation lässt sich nicht auf die Wahrnehmung von Feld-Aktivitäten reduzieren. Die Differenz der Wahrnehmung zwischen digitaler Kommunikation und realem Gespräch (z.B. im selben Raum), aber auch jeder Erinnerung muss bei der Analyse wie Dokumentation einer Gesprächsaufzeichnung wie jedweder Art von Erzählung beachtet werden.
Digitale Kommunikation ist ortlos (bzw. der Ort wird beliebig), während reale Kommunikation ortsgebunden wahrgenommen werden muss, selbst wenn der Raum weltweit (oder sogar weltraumweit) geöffnet ist. Diese Einsicht hat weitreichende Konsequenzen.
Als Beispiel (im Kontext meiner religionsphilosophischen Überlegungen) verweise ich auf die Übersetzung traditioneller religiöser Sprachspiele. Religiöse Sprachspiele haben ihren „Ort“ oder „Raum“ im (jeweiligen) theozentrischen Weltbild. Um sie sinnvoll in ein heutiges Weltverständnis zu übersetzen, muss ein „Ortswechsel“ vorgenommen werden. Ohne notwendige „Raumtranslationen“ (ein von mir gewählter Ausdruck mit Anspielungscharakter) kann nicht geprüft werden, ob Sprachspiele dieser Art ihren Sinn behalten oder verlieren (oder vielleicht erst eröffnen).
Mein Lösungsvorschlag für das jüdisch-christliche Sprachspiel von der „Menschwerdung Gottes“ – im Sinne eines aufgeklärten Realismus ist, es in eine konkrete Utopie der Erlösung zu übersetzen. Diese Übersetzung ist mit der Grundaussage des anthropozentrischen Weltbildes, dass die Menschen (in dieser Welt, in diesem Welt-Raum) „sterbliche Schöpfer“ sind (eine Aussage von H. Arendt), sinnvoll in Übereinstimmung zu bringen – ohne gnostische Fehlinterpretation einer „Selbsterlösung“.
Zu Ende seines Buches „Computerdenken“ deutet Roger Penrose an, dass die (noch ausstehende) Theorie des menschlichen Bewusstseins mit der Methode der Berechenbarkeit und als komplexer Algorithmus nicht (ausreichend) darstellbar ist, sondern nur als Resultat der Gesprächssituation (Kommunikation) zwischen selbstbewussten Menschen erzielt werden kann.
Menschliches Bewusstsein (in der Form eines komplexen Computers) ist mit algorithmischen Mitteln nicht rekonstruierbar; so urteilt Penrose. Dennoch erwartet er „die Eigenschaft mathematischer Präzision“, die anders als „Berechenbarkeit“ ist. (a.a.O. S.437)
Menschliche Erinnerung hat, so vermutet Penrose nach detaillierter Prüfung aller Formen von Berechenbarkeit, eine näher zu erforschende eigenständige Struktur: „Mein Bewußtseinsstrom ist in die Vergangenheit gerichtet, und in Wirklichkeit besagen meine Erinnerungen nicht, was mir geschehen ist, sondern was mir geschehen wird.“ (a.a.O. S. 438)
Diese Andeutung einer speziellen Zeitstruktur reflektiere auch ich, wenn ich zwischen kairos und chronos unterscheide und davon spreche, dass Erinnerungen dieser Art nur erzählt und tradiert werden können. Aber eine in diesem Sinne sachgemäße Theorie des Bewusstseins liegt bis heute nicht vor.
Literaturhinweise:
Penrose, Roger: Computerdenken. Die Debatte um künstliche Intelligenz, Bewußtsein und die Gesetze der Physik, Heidelberg, Berlin 2002 (Originalausgabe: The Emperor’s New Mind Concerning Computers, Minds, and the Laws of Physics, New York 1989)
Penrose, Roger: SHADOWS OF THE MIND. A Search for the Missing Science of Consciousness, London 2005 (1994/1995)
Schmitter, Jürgen: Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten. Ein Taschenwörterbuch, Münster/Westfalen 2017
Schmitter, Jürgen: Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf, Münster in Westfalen 2020
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