Notwendige und Sinn-erschließende Übersetzung der Leistungen des menschlichen Bewusstseins vom theozentrischen ins anthropozentrische Weltbild

In einem Weltbild lassen sich die grundsätzlichen Erkenntnismöglichkeiten des menschlichen Bewusstseins in einer jeweiligen Epoche (Weltverständnis) aufzeigen und zusammenfassen. Ich unterscheide die Vorstellungen, Denkmöglichkeiten (Potenzen) und Sprachformen (Sprachspiele) vor und nach der Aufklärung und kennzeichne sie zusammenfassend als theozentrisches und anthropozentrisches Weltbild.

Die Ablösung der Weltbilder lässt sich sowohl historisch als auch strukturell beschreiben. Der Ablösungsprozess verläuft sowohl chronologisch als auch gleichzeitig – in struktureller Konkurrenz – ab.

Im theozentrischen Weltbild (der zwei Wirklichkeiten) sind Theophanie, Apotheose und Adoptionismus vorstellbar und in religiösen Sprachspielen erzählbar. Die Welt der Götter/des Gottes und die Welt der Menschen auf der Erde stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander und werden in vielfältigen Schöpfungsmythen erzählt. Paradieserzählungen stehen oft am Anfang oder werden zukünftig erwartet.

Im anthropozentrischen Weltbild wird die Trennung von Himmel und Erde (und Unterwelt) als Mythos entziffert. Aufgeklärte Menschen halten auf der Basis dieser Welterkenntnis Paradiesvorstellungen (sowohl im Himmel wie auf der Erde) für eine erklärbare Illusion.

Die Frage ist: Bleibt dem aufgeklärten homo sapiens am Ende des Anthropozän nur der allgemeine Pantheismus oder eine vielfältige Form des Atheismus als mögliche Weltanschauung? Meine Antwort ist: Nein!

Zumindest die hebräische Bibel – als Grunddokument von Judentum und Christentum – und ihre griechische Übersetzung (LXX) kennen das Messianische Denken; die Propheten erwarten den Messias als (konkrete) Utopie in vielfältigen apokalyptischen (und damit chronologisch erzählten) Sprachspielen. Die Zeit/Wiederkehr des Messias/Christus ist nahe (als Naherwartung oder in kairologischer Erfahrung – jenseits von Raum und Zeit. In dieser Utopie ist Erlösung universal denkbar, konkret vorstellbar und überzeugend (als Credo/Glaube) mitteilbar.

Ich behaupte, auch für aufgeklärte Menschen – nicht nur aufgeklärte Juden und Christen – ist Erlösung denkbar. Das bedeutet: Atheismus muss keine Weltanschauung sein, sondern auf die „Gotteshypothese“ (so Bonhoeffer) beim Lösen von Problemen im Alltag, in der Gesellschaft und in der Wissenschaft kann verzichtet werde. Ich spreche daher vom „methodischen Atheismus“.

Da alles Problem-Lösen vorläufig ist (Provisorium und Antizipation zugleich), kann und muss Erlösung im heutigen Bewusstsein der Menschen mitgedacht werden. In das anthropozentrische Weltverständnis übersetzt, bedeutet das: Erlösung (konkret: der Erlöser) kann kairologisch erfahren und mitgeteilt werden: als Befreiung und Umkehr.

Für aufgeklärte Christen ist die Botschaft des Messias Jesus aus Nazaret maßgebend (dokumentiert in den „Evangelien“ des Neuen Testamentes als Explikation der prophetischen Verheißungen) und es gilt der kategorische Imperativ des exil-jüdischen Schriftgelehrten Paulus aus Tarsus: „Euer Leben sei ein ‚vernünftiger Gottesdienst‘“ (eine griech. latreia logiké).

p.s.

Chronologisch erzählte Messias-Erwartungen müssen in kairologisch erfahrene Befreiung übersetzt werden.

Gerade habe ich gelesen:

(1) Daniel Boyarin, Die jüdischen Evangelien. Die Geschichte des jüdischen Christus, Würzburg 2015, Judentum, Christentum, Islam. Interreligiöse Studien, Bd. 12 (übersetzt aus dem Amerikan., New York 2012)

Vom Bewusstsein und der Überzeugung aufgeklärter Menschen am Ende des Anthropozän

Auf einem Kalenderblatt des Monats September fand ich den Spruch: „Gläubige brauchen keine Erklärung, Ungläubigen hilft keine Erklärung“. Diese Aussage, vom Kalender als „Sprichwort“ gekennzeichnet, ist doppelt unsinnig.

Ohne die Möglichkeit und Notwendigkeit zu erklären, werden aus Gläubigen Abergläubige, Wundergläubige oder Spinner; und aus Ungläubigen werden Ideologen, Weltanschauungsatheisten oder Kritiker aus Prinzip.

Wer überzeugt ist, zweifelt aus Einsicht, ohne zu verzweifeln. Überzeugend ist nur der, der seine Überzeugung erklären kann, auch wenn im Einzelfall seine Argumentation sprachlicher Oxymora bedarf.

Der alltägliche Gebrauch des deutschen Wortes „glauben“ ist mehrdeutig und mehr als missverständlich. Die Differenz von credere und putare im Lateinischen geht verloren oder der Gebrauch wird missbraucht.

Daher sind mir alltägliche wie verfremdete religiöse Sprachspiele höchst verdächtig, sofern sie nichts (er-)klären, sondern nur behaupten. Sie sind sinn-los. Nur wer argumentiert, kann überzeugen.

Daher weisen aufgeklärte Menschen, Christen, Muslime wie Atheisten, die Anfrage: Was glaubst Du? zurück und entgegnen mit der Rückfrage, was mit dem Wort „glauben“ gemeint sei: unerklärtes, ungeklärtes, unerklärbares „meinen“ oder eine argumentativ begründete Überzeugung, die den Zweifel einschließt.

Überzeugungen werden im Gespräch verstehbar: sie entsprechen dem „beredten Schweigen“ (Oxymoron), sie klären auf, indem sie zwischen chronologischen Vorstellungen und kairologischen Erfahrungen unterscheiden.

Wer die Kunst der Unterscheidung leugnet, bleibt im Labyrinth des Aberglaubens und der Magie gefangen. Wer zu unterscheiden weiss, wer zu argumentieren vermag, der weiss um die Dynamik des Vorläufigen – beim Wahrnehmen wie Erkennen.

Die Potenz des menschlichen Bewusstseins, (alltägliche wie wissenschaftliche) Probleme zu lösen, ist vorläufig (provisorisch) wie vorausschauend (antizipativ) zugleich.

Ich differenziere zwischen drei Möglichkeiten (Potenzen) des Bewusstseins zu denken: das begreifende Denken, das poetische Denken (auch erzählendes Denken) und das utopische Denken.

Dem entsprechen drei verschiedene Sprachspiele: das logische Sprachspiel (auch mathematisches Sprachspiel), die erzählende Sprache (Poesie) und das utopische Sprachspiel (kairologische Erfahrungen jenseits von Raum, Zeit und Vergänglichkeit – im Gegensatz zu chronologischer Wahrnehmung bzw. Erkenntnis).

Wahrnehmen und Erkennen des homo sapiens am Ende des Anthropozän

sind aenigmatisch strukturiert („videmus nunc per speculum in aenigmate“, Ad Cor.I, 13, Paulus aus Tarsus, jüdischer Schriftgelehrte und griechisch sprechender antiker christlicher Philosoph).

 

Dr. Jürgen Schmitter M.A. Metelen, am 21. November 2023

Anthropologie der Aufklärung: Exposé meiner Argumentation (Münster 2023)

Grundlage und Ziel meines Projektes: Aufklärung zu Ende denken

Seit langem versuchen Religionsphilosophie – und auch die Soziologie der Religion das Verhältnis von Profanem und Heiligem und den vermeintlichen Ursprung von beiden zu klären. Demgegenüber hinterfragt mein Projekt der Aufklärung diese Dualität und entwickelt die Möglichkeiten – ich spreche auch von Potenzen – eines einheitlichen menschlichen Bewusstseins – individuell wie sozial/geschichtlich – von Wahrnehmung, (aenigmatischer) Erkenntnis, Projektion und Utopie. Ich beschreibe in einer Theorie des Aufgeklärten Realismus diese Potenzen (oder Leistungen) dieses Bewusstseins am Ende des Anthropozän. „Anthropologie der Aufklärung: Exposé meiner Argumentation (Münster 2023)“ weiterlesen

Der Holzweg ist keine Lösung

Holzwege sind nicht die Lösung des Problems der Erlösung. Holzwege sind spezielle Irrwege im Labyrinth des menschlichen Lebens. Irrwege sind Umwege, die nicht aufgeben, das erhoffte Ziel zu erreichen. Auf dem Umweg wird das Ziel nicht geleugnet, nicht vergessen oder sogar aufgegeben, sondern – bei aller Anstrengung – die Zielorientierung bleibt erhalten. Sie gibt dem Mäandern im Feld des Lebens Sinn. Demgegenüber ist die Aussage, der Weg sei schon das Ziel, sinnlos.

Ich verstehe diese Zielorientierung als die Dynamik des Vorläufigen in allem alltäglichen, gesellschaftlichen und forschendem Problemlösen. Die Struktur des Lösens von Problemen – das zeigt sich sowohl bei den Lösungswegen, als auch bei den Lösungen – ist provisorisch und antizipativ zugleich.

Daher ist auch der Holzweg eine spezielle Form des Umweges, den zu gehen, Mut, Anstrengung und Ausdauer verlangt. Insbesondere verlangt dieses Gehen, mit dem Zweifel umzugehen, ohne zu verzweifeln, und bereit zu sein, umzukehren. Denn der Holzweg ist eine Sackgasse. Er verlangt Umkehr – um im Bild zu bleiben: damit das geschlagene Holz aus dem Wald entfernt und entsorgt werden kann.

Das messianische Denken versteht das menschliche Leben als Bewegung in einem labyrinthartigen Feld. Der Ausgang – die Lösung bzw. Erlösung – ist existenziell erfahrbar, aber nicht erzwingbar oder begreifbar. Diese Erfahrung beginnt mit dem Schweigen, kann als konkrete Utopie beschrieben und in Oxymora erzählt werden.

Zum Reformationstag 2022: Im Anfang war das Gepräch – sermo oder verbum?

Evangelium secundum Johannem. Prologus 1,1-18:

Hieronymus/Vulgata (nach 383):

In principio erat Verbum et Verbum erat apud Deum, et Deus erat Verbum.

… Et Verbum caro factum est et habitavit in nobis.

Zürcher Bibel (2007):

Im Anfang war das Wort, der Logos und der Logos war bei Gott. … Und das Wort, der Logos, wurde Fleisch und wohnte unter uns.

Martin Luther (1545):

Im Anfang war das Wort und das Wort war bey Gott. … Und das Wort ward Fleisch und wonet unter uns.

Der primäre Sinn der Sprache liegt im Mit-teilen, nicht im Benennen. Das Benennen dessen, was ist oder nicht ist, ergibt sich aus dem Ziel des Mitteilens, Wirksamkeit, Klarheit oder Eindeutigkeit herzustellen. Im Anfang war das Gespräch (nicht zwingend chronologisch gemeint), nicht das Wort. Auch deswegen übersetzt Erasmus von Rotterdam (vor 1496 – 1536) vorsichtig – und nur in einigen Varianten des Neuen Testamentes den griechischen Begriff logos (aus dem Prolog des Evangeliums nach Johannes) mit sermo und nicht mit verbum.

Ich versuche, die oben zitierten zwei Verse unter den Bedingungen heutiger Sprache und unter den Bedingungen des anthropologischen Weltverständnisses zu übersetzen:

Grundlage dessen, was ist und was nicht ist, ist dialogischer Struktur und daher (nur) im Gespräch sinn-voll mitteilbar. Dieser grundlegende Sinn wurde durch einen Menschen in Praxis und Gespräch konkret mitteilbar; als konkrete Utopie der Erlösung durch Verhalten und Dialog des Messias Jesus aus Nazaret erfahr- und erzählbar.

Die Mitteilbarkeit der Erlösung (als unerzwingbare und unbegreifbare Grundlage alles Problemlösens), also Erlösung als konkrete Utopie (im religiösen Sprachspiel: Offenbarung) hat die sprachliche Struktur eines Dialoges, nicht eines Dogmas. Dogmen grenzen bestenfalls gegen Fehldeutungen oder Missverständnisse ab; der Dialog will und kann überzeugen.

In der jüdischen JHW-Erfahrung ist GOTT primär kein transzendenter Schöpfergott (der Schöpfungsmythos ist sekundär), sondern JHW steht im dauernden Dialog, in der dauernden Auseinandersetzung mit seinem Volk; es geht um Orientierung und Umkehr im Exodus.

Die lateinische Übersetzung „verbum“ für logos steht in der Gefahr, die dialogische Struktur der Logos-Aussage zu übersehen und in die – situativ notwendige, aber nicht ausreichende – Engführung dogmatischer Aussagen zu führen.

Dies hat der spracherfahrene Humanist Erasmus sicher erkannt und auch deshalb übersetzt er griech. logos mit lat. sermo. Aber Erasmus ist auch vorsichtig, denn er weiß, dass es sich bei der Übersetzung in „verbum“ nicht nur um die Reflexion eines „Kirchenvaters“ im vierten Jahrhundert handelt, sondern auch um den sakrosankten Vulgata-Text, der auf dem späteren Trienter Konzil nochmals als Offenbarungstext fixiert wurde.

Ich vermute, Martin Luther kannte die Übersetzungsvariante bei seiner Arbeit auf der Wartburg, aber sie entsprach weder seiner offenbarungstheologischen Auffassung, noch seiner Frömmigkeitspraxis; er konnte logos nicht mit sermo/Gespräch übersetzen.

Luther war kein Humanist und Erasmus wurde post mortem kirchlicherseits verdammt: seine Schriften wurden auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Aber im Zeitalter der Aufklärung unter den Bedingungen des anthropologischen Weltbildes muss und kann über die Übersetzung des Erasmus von Rotterdam nachgedacht und ihr Sinn erkannt werden: „im Anfang war das Gespräch, der Dialog, der Logos.“

Ein fatales Missverständnis: Die Differenz zwischen messianischem Bekenntnis und kirchlicher Institution

In einem Gastkommentar der NZZ (13. August 2022) behauptet der ehemalige Generalvikar des Bistums Chur, Martin Grichting, dass der „Synodale Weg“ der römisch-katholischen Kirche in Deutschland ein „Irrweg“ sei, der zu einer (weiteren) Kirchenspaltung führe, so dass sich schon jetzt zwei Bekenntnisse gegenüberstehen. Dabei greift er auf die Erfahrungen der Schweizer Landeskirchen zurück.

Dabei ist für mich klar: Die Praxis wie Legitimation der römisch-katholischen Kirche – als aktuelle Situation einer lang andauernden Ideologie- und Kriminalgeschichte – verlangen unwiderruflich eine rechtliche wie institutionelle Erneuerung. Diese notwendige Reform – übrigens ein Postulat der „ecclesia semper reformanda“ – führt nicht (weder praktisch noch zwingend) zu einem „abgeschwächten“ oder „liberalisierten Bekenntnis“. Sondern im umgekehrten Sinn gilt: das sachgemäße messianische Bekenntnis und seine konsequente und uneingeschränkte Übersetzung (in Theorie und Praxis) erzwingen die Reform der Institution Kirche.

Vordemokratische Macht- und Entscheidungsstrukturen sowie überholte Formen des „Staatskirchentums“ sowie überholte Formen bürokratischer Prachtgestaltung (mit dogmatischen Engführungen des 19. Jahrhunderts) sind ersatzlos abzuschaffen. Dabei sind bezüglich der römisch-katholischen Kirche als weltweiter Organisation die (ebenfalls) weltweit unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen und staatlichen Machtverhältnisse zu beachten, um die Unabhängigkeit wie Wirksamkeit der Kirche – im Interesse der Menschen – herzustellen bzw. zu sichern. So bedürfen der erst historisch spät durchgesetzte Pflichtzölibat und die überholten (der Gegenreformation geschuldeten) Beichtpraktiken, um nur zwei Beispiele zu nennen, dringend der Reform, weil sie die frühchristlichen Bekenntnisse des Christentums verunklaren und das messianische Bekenntnis aller Christen in den Hintergrund drängen, ja verdecken.

Eine entscheidende Aufgabe aller christlichen Kirchen, die sich nicht in Sekten verwandelt haben, bleibt es, das frühchristliche Bekenntnis bis hin zu den verbindlichen „Glaubensbekenntnissen“ („Credo“) in Theorie und Praxis so zu übersetzen, dass das Christentum in der heutigen Welt glaubwürdig bleibt.

Wird der Mangel an Glaubwürdigkeit erkannt, ist die Reform der Institution „Kirche“ überfällig. Dies gilt insbesondere – in der katholischen Kirche in Deutschland – für unaufgearbeitete Missbräuche gegenüber den getauften Mitgliedern, angesichts verordneter Unmündigkeit und politischer Abhängigkeit durch weitergeltende Praktiken des überholten „Staatskirchentums“.

Das messianische Credo der ersten Christen und ihrer Gemeinschaften kann nur unverfälscht erhalten bleiben – ich wiederhole, wenn es in Theorie und Praxis glaubwürdig übersetzt wird, ohne verfälscht oder relativiert zu werden. Das bedeutet auch, es von dogmatischen Engführungen der letzten Jahrhunderte zu befreien, um den Ursprung der Messias-Botschaft zu erhalten und um zu „verstehen“, was „Erlösung“ im 21. Jahrhundert bedeuten kann und muss.

Wer die derzeitige Herrschaftsstruktur der römisch-katholischen Kirche in Frage stellt und im Interesse der Glaubwürdigkeit dieser Institution verändern will und muss, der relativiert nicht die Überzeugung, dass Jesus aus Nazaret der Messias ist, der die Welt erlöst, sondern befreit dieses 2000 Jahre alte Bekenntnis von falschen, missverstandenen Vorstellungen.

Die Übersetzungstreue gegenüber dem jüdischen Messianismus und der kenosis-Überzeugung kann – meiner Überlegung nach – so weit gehen, dass der (methodische) Atheismus als eine Grundlage für das Lösen von Problemen in der heutigen Zeit akzeptiert werden kann. Daher kann der heute lebende homo sapiens Christ sein; im Sinne der konkreten Utopie der Erlösung der Welt.

Die von mir geforderte Übersetzungstreue der messianischen Botschaft, wie sie z.B. in den synoptischen Evangelien durch die spezielle „basileia tou theou“-Verkündung erklärt wird oder von Paulus aus Kleinasien in seiner kenosis-Theologie entwickelt wird oder in den Bekenntnissen der frühen Konzilien („Credo“) formuliert wird, muss einerseits das Abgleiten in Formen des Aberglaubens verhindern, andererseits das Weltverständnis der Aufklärung (von Kant bis Freud) beachten.

Ein gutes Beispiel für die Abwehr von Missverständnissen bezüglich der Kreuzes- und Opfer-Theologie ist meine Argumentation zum Verständnis des Kreuzes in meinem Buch: „Nachdenken aus der Peripherie des Anthropozän. Anhang“, Münster 2023. Die messianische Botschaft kann auch im anthropozentrischen Weltbild sachgemäß gedeutet und erzählt werden.

Missverständnisse bezüglich des utopischen Denkens

Das utopische Denken ist keine Strategie zur Durchsetzung der Demokratisierung der Gesellschaft oder der allgemeinen Anerkennung und Durchsetzung der Menschenwürde. Nur auf der Basis eines aufgeklärten Realismus können Friedensordnungen durchgesetzt werden und Gesellschaften bestehen, die die Menschenrechte achten und die Risiken der Zerstörung und Vernichtung minimieren: vom Gesundheitsschutz über den Naturschutz bis zum Menschenschutz. Risikominimierung in diesem Sinn ist eine ständige Verpflichtung unter dem (kategorischen) Imperativ, die Menschenwürde zu achten.

Paradiesvorstellungen sind demgegenüber eine gefährliche Illusion. Ich nenne zwei Beispiele: ein verrücktes und ein zeitgemäßes. Meine Zielvorstellung für ein menschenwürdiges Leben sind weder die (scheinbare) Selbstverständlichkeit goldener Wasserhähne – wie in der Utopia-Vorstellung des Thomas Morus, die dort eine zivilisationskritische Funktion hat –, noch eine phantasierte Erde ohne Eingriff der Naturgewalt.

Dies klingt verrückt und meine Aussage bedarf der Klärung, um nicht missverstanden zu werden: Ich wünsche mir kein Paradies auf Erden und kein Ende der „natürlichen“ Evolution. Das erstere wollen Menschen nicht, wenn sie „aufgeklärt“ sind (im Sinne des homo praestans); das weitere können sie nicht, wenn sie aufgeklärte Realisten sind. Die mögliche Selbstzerstörung der Erde ist der Grenzfall, der die Evolutionsgesetze des Kosmos unberührt lässt.

Zunächst kläre ich, warum ich irrige Zielvorstellungen ablehne:

(1) Die Geschichte der goldenen Wasserhähne ist in der Utopia des Thomas Morus nachzulesen, geschrieben in England im Jahr 1517.

In diesem erfundenen Inselstaat bestehen die Instrumente der Wasserversorgung aus Gold, weil dieses Metall für die Inselbewohner seinen spezifischen Wert verlieren soll.

Der Hintergrund dieser Episode wird deutlich: die Faszination des Goldes/des Geldes wird hinterfragt; in diesem fiktiven Paradies ist es wertlos. Die utopische Vorstellung ist eine Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen.

Ich hoffe, es ist einsichtig, dass ich in einem solchen paradiesischen Utopie-Staat nicht leben will. Denn zu einem menschenwürdigen Leben gehört es, ausreichend sauberes Wasser für alle Menschen zu haben. Der Gebrauchswert des Wassers und seine Zufuhr sind entscheidend und nicht der Tauschwert der Ware „Wasser aus goldenen Hähnen“.

(2) In der notwendigen Diskussion um ausreichenden und wirksamen Naturschutz wird oft suggeriert, der Mensch könne die Gewalt und Entwicklung der Naturkräfte in seinem „Wohnraum“, der Erde, abschaffen. Das ist „natürlich“ eine Illusion.

Der Mensch kann sich wirksam vor den Naturkräften auf der Erde schützen und die Natur vor der Zerstörung bzw. vor dem Missbrauch bewahren – mit der möglichen Konsequenz der Selbstzerstörung (z.B. durch selbstverschuldete Erderwärmung).

Das menschliche Bewusstsein kann sehr wohl zwischen durch Menschen erzeugte Katastrophen und kosmischen Veränderungen, die der natürlichen Evolution und ihren Gesetzen entsprechen, unterscheiden und sachgemäß reagieren.

Naturschutz ist aus menschlicher Sicht immer auch Überlebensschutz. Hannah Arendts Aussage, dass der Mensch ein „sterblicher Schöpfer“ sei, bezieht sich meiner Überzeugung nach nicht nur auf die Sterblichkeit der Individuen, sondern auch auf seine Stellung im Universum.

Was bedeutet diese Erkenntnis für das utopische Denken?

Das utopische Denken – als Bewusstseinserweiterung – beendet nicht – im chronologischen Sinne – die Entwicklung des Universums, deren Gesetzmäßigkeiten im Detail noch erforscht werden (z.B. durch die Theorie der „schwarzen Löcher“), und beendet auch nicht die Entwicklung des Lebens auf den Planeten (auch wenn der „homo sapiens“ eine Endform des Lebens auf der Erde darstellen sollte).

Das utopische Denken – so meine begründete Überzeugung – ermöglicht dem menschlichen Bewusstsein – im kairologischen Sinn – Erlösung zu denken und Befreiung – im Sinne der Menschenwürde für alle Menschen durchzusetzen.

Im religiösen Sprachspiel des messianischen Denkens bedeutet diese Möglichkeit – unter den Bedingungen des aufgeklärten Realismus – für menschliches Bewusstsein am Ende des Anthropozän, Erlösung in Form einer konkreten Utopie zu denken und diese existenzielle Erfahrung – kairologisch, nicht chronologisch in Befreiung und Empathie umzusetzen – und davon – im Sprachspiel der Oxymora – zu erzählen.

Zur Versöhnung von Atheismus und Christentum

oder
Die Ergebnisse der Aufklärung zuende denken

Eine Argumentation im Sinne des Aufgeklärten Realismus; gegen alle Spielarten von Naturalismus und Konstruktivismus sowie Theismus

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus
Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf., Münster 2020 (agenda Verlag, 160 Seiten)

Wer bei dem Wort „Versöhnung“ sofort in eine sog. „Identitätskrise“ verfällt und aus Gründen einer sprachlichen correctness an Wörtern wie „Vertöchterung“ oder „Vergeschwisterung“ bastelt, verkennt nicht nur die etymologische Herkunft des Begriffes, sondern pervertiert auch meine Absicht, über und im Projekt Versöhnung von Atheismus und Christentum nachzudenken, um eine sinnvolle Argumentation präsentieren zu können.

Das Verb „versöhnen“ ist eine Vokalmodulation des älteren Verbs „versühnen“ im Sinne von „Frieden stiften, ausgleichen, vermitteln“ – und eine Vermittlung schlage ich vor: die Position des Atheismus, wenn er streng methodisch verstanden wird, und die Praxis und Lehre des Christentums, wenn es von seinem Ursprung her, den die jüdischen Täufergemeinden (des 1. Jahrhunderts nach Christus) bezeugen, beschrieben wird. Diese Gemeinden, und insbesondere Paulus aus Tarsus, bezeugen, dass der am Kreuz hingerichtete Wanderprediger Jesus aus Nazaret der erwartete Messias/Christus ist.

Die messianische Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft sowie von der erlösenden Funktion der Menschwerdung Gottes (dokumentiert im kenosis-Hymnus des Philipperbriefes) relativieren das theozentrische Weltverständnis (im damaligen Römischen Reich). Denn das jüdisch-messianische Denken greift auf die Exodus-Struktur der Bibel zurück. Und dies führt schon bei manchen Gelehrten im damaligen Römischen Reich zu dem Vorwurf, dass die „Christus-Gläubigen“ Atheisten seien.

Ich übersetze die messianische Botschaft unter den Bedingungen des heutigen, aufgeklärten, anthropozentrischen Weltverständnis als „konkrete Utopie der Erlösung“. Und diese Übersetzung schließt den methodischen Atheismus (zur Lösung von Problemen) nicht aus. Aufgeklärte Christen sind in ihrem Denken und Handeln (zunächst) methodische Atheisten; sie müssen – mit allen Menschen – denken und handeln, als wenn es Gott nicht gäbe (sic deus non datur). Und sie können so denken und handeln, da sie unter dem Vertrauensvorschuss der (konkreten Utopie der) Erlösung befreit sind von religiösem Zwang und gesellschaftlichen Vorurteilen.

Im Gegensatz zum gnostischen Denken (der Selbsterlösung) steht das messianische Denken (im Sinne der kenosis), in dem Erlösung als zu erwartende „Gabe“, als Geschenk gedacht wird, die befreit – aber in einem radikal anderen Sinn als in der Gnosis. Übrigens bleibt Hegel, wenn er in seiner Philosophie des Geistes von Versöhnung spricht, im gnostischen Verständnis.

Für das messianische Denken sind existenzielle Erfahrungen kairologischer Struktur, und damit im strengen Sinn zeitlos, also ewig; während historische oder zukünftige Erwartungen apokalyptischer Art oder als Apokatastasis oder als Weltgericht (am Weltende) in chronologischen Strukturen erzählt werden. Chronologische Rekonstruktionen (z.B. Schöpfungsmythen oder Gerichtsszenarien am Ende der Welt) sind an ein theozentrisches Weltverständnis gebunden.

Schöpfungsmythen wie Paradiesvorstellungen bedürfen daher eines Schöpfers, sind „metaphysisch“ strukturiert. Demgegenüber bestimmt das anthropozentrische Weltbild der Aufklärung (und der heutigen Erfahrungswissenschaften) den Menschen als Schöpfer – und religiöse/metaphysische Sprachspiele als seine Projektionen.

Der Mensch (als Vernunftwesen) versucht, alle Probleme dieser Welt zu lösen (durch Begreifen und Eingreifen), aber diese „Potenz“ (diese Möglichkeit) ist an seine Leiblichkeit und Sterblichkeit gebunden. Der Mensch ist ‚Vernunft- und Naturwesen. Diese Verknüpfung von Natur (Leiblichkeit) und „Geist“ – im Sinne von „Problemlösungspotenzen“ (individuell wie gesellschaftlich, als lebendiger Organismus wie als Gesellschaftsformation) schafft Bewusstsein und Selbstbewusstsein.

In diesem und durch dieses Bewusstsein (in mehrfacher Ausprägung: als Gesprächs-, Reflexions-, Erinnerungs- und Planungsfähigkeit inklusive der Entwicklung von Selbstbewusstsein/Mündigkeit) sind Menschen fähig, ihre Lebensprobleme zu lösen, ihre Natur (Leiblichkeit) und ihre Welt (die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos) zu erkennen und zu gebrauchen.

Für ihre Fähigkeiten („Potenzen“ – Aufbewahrung und Gebrauch) sind die Menschen allein verantwortlich. Diese Verantwortung beim Lösen ihrer Probleme (im Alltag und in der Wissenschaft) und der Sicherung ihrer Erkenntnisse können sie – zusammenfassend – als ihre Autonomie bzw. Mündigkeit reflektieren. In diesem Sinn sind sie notwendigerweise „methodische Atheisten“, die weder auf andere Instanzen oder mythologische Erzählungen zurückgreifen. Sie haben gelernt, von dieser (methodischen) Erkenntnisarbeit Ideologien und deren Wirkung zu unterscheiden. Dies gilt für alle Spielarten von Theismus, Naturalismus, Materialismus und Konstruktivismus.

Menschen sind weiterhin in der Lage, Teile und Ergebnisse ihrer Potenzen „auszulagern“; ich denke z.B. an Bibliotheken. Heutzutage sprechen wir von „künstlicher Intelligenz“. Das menschliche Erinnerungsvermögen ist damit weltweit sicherbar und abrufbar. Dies gilt auch in zunehmendem Maße für die Planungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Die Grundlage dieser Potenzen ist das Bewusstsein. Seine Entstehung und Entwicklung bleibt an den „lebenden, selbstgesteuerten Organismus Mensch“ gebunden, selbst wenn eine funktionsbestimmte Loslösung vom menschlichen Organismus (in „Maschinen“) möglich wird.

Selbst die Bildung des geschlechtlichen Ich-Bewusstseins (geschlechtliche Identität) ist zwar an den individuellen Organismus, die Leiblichkeit, gebunden, setzt aber als Selbstaussage der je eigenen Erfahrung Selbstbewusstsein (im Sinne der Mündigkeit) voraus.

Für die Fortpflanzungsmöglichkeit und die Erziehung der Nachkommen gilt die gemeinsame Verantwortung von Vater und Mutter. Gesprächskompetenz ist mehr als Sprachkompetenz und Rechtsbewusstsein ist nicht einfach die Summe individuellen Selbstbewusstseins, sondern ein Lernprozess der Konsensbildung, der sich auf der Basis der Gleichheit an Freiheit und Gerechtigkeit orientiert.

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus
Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf., Münster 2020 (agenda Verlag, 160 Seiten)

Bewusstsein entsteht (bildlich vorgestellt) als Schnittmenge von Natur und Kultur (als Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklung) bei Zeugung und Geburt und endet für das einzelne Individuum durch seinen Tod. Leiblichkeit wie Sterblichkeit sind für das Bewusstsein eines jeden Menschen konstitutiv. Mit Hannah Arendt fasse ich diese Erkenntnis in die Aussage zusammen: Menschen sind sterbliche Schöpfer.

Diese Erkenntnis korrigiert ideologisch geprägte und/oder durch das vorherrschende Weltbild bestimmte Vorstellungen davon, was der Mensch und seine Welt seien. Daher postuliere ich: der Prozess der Aufklärung (als Antwort auf die Frage, was der Mensch sei) muss konsequent zuende gedacht werden. Das Ziel dieses Projektes – als Resultat metatheoretischer Reflexion – fasse ich unter dem Titel „Aufgeklärter Realismus“ zusammen. Erste Ergebnisse dieser Metareflexion (im Sinne einer aufgeklärten Anthropologie) habe ich in meinem gleichnamigen Buch (Münster 2020) veröffentlicht.

Wahrnehmungsformen: begreifbar – erfahrbar – erzählbar

Feld oder Raum – Berechenbarkeit“ ist für eine „Theorie des Bewusstseins“ nicht ausreichend. – Zur Lektüre von Roger Penrose, Nobelpreisträger Physik 2020: Computerdenken

Während der Lektüre von: Roger Penrose: Computerdenken. Die Debatte um künstliche Intelligenz, Bewußtsein und die Gesetze der Physik, Heidelberg/Berlin 2002 (Originaltitel: The Emperor‘s New Mind Concerning Computers, Minds, an the Laws of Physics, New York 1989)

Das Nicht-berechenbare ist begreifbar; insofern ist die Natur – in ihrer Wahrnehmung für den Menschen (als leibgebundenes Vernunftwesen) mehr als eine endliche Summe von Algorithmen. Der Kosmos (der Welt-Raum) ist ebenfalls begreifbar, wenn auch nicht als Algorithmus. So verstehe ich Roger Penrose, den Erforscher der Schwarzen Löcher und diesjährigen Nobelpreisträger für Physik.

Natur ist auch – für den Menschen als leiblich wahrnehmenden, denkenden Organismus (durch seine Sinnesorgane und sein die Eindrücke verarbeitendes Gehirn) – existenziell erfahrbar. Und von diesen Erfahrungen kann – gesprächsweise – erzählt werden.

Penrose macht deutlich, dass die Natur – als Mikrokosmos wie Makrokosmos – nicht (nur) „algorithmisch“ in ihren Gesetzmäßigkeiten verstanden werden kann, sondern (auch) stochastisch wie durch weitere „Reflexionsprinzipien des menschlichen Bewusstseins“ (so R. Penrose) begriffen werden muss.

Natur als Leib- und Umwelterfahrung ist auch existenziell erfahrbar und erzählbar, aber nicht begreifbar. Das Erzählen dieser existenziellen Erfahrungen folgt einer dialogischen Struktur, ist an Mitteilung und Gespräch orientiert und nur in dieser Struktur verstehbar.

Die dialogische Struktur ist selbst da grundlegend gegeben, wo ich bewusst nachdenke (in der Form der Selbstreflexion) und mit mir selbst spreche (als Selbstgespräch). Das Gespräch ist Ausdruck des menschlichen Bewusstseins. So wie das Gespräch einen Dialogpartner verlangt, so geschieht das Gespräch in einem spezifischen Raum; seien es die Höhle, die Studierstube, die Wohnung, oder auch der Unterrichtsraum, Tempel und Kirchen (als ein- und ausgegrenzte Räume), der Bürgersaal, das Parlament oder die Philharmonie.

Bei allen diesen Räumen liegt der dreidimensionale Raum (wie in der klassischen Physik) zugrunde. Anders verhält es sich bei elektrisch geladenen Räumen oder beim Welt-Raum (dem Universum). Albert Einstein spricht in seinem Vorwort zu Max Jammer: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien (Darmstadt 1960) (Original: Concepts of Space (1954); das Vorwort von A. Einstein wurde 1953 auf Deutsch geschrieben) von der „Überwindung des selbständigen Raumes“ der modernen Physik durch den „Feld“-Begriff im Kontext der Feldtheorie:

Die Überwindung des absoluten Raumes … wurde erst dadurch möglich, dass der Begriff des körperlichen Objektes als Fundamentalbegriff der Physik allmählich durch den des Feldes ersetzt wurde. Unter dem Einfluss der Ideen von Faraday und Maxwell entwickelte sich die Idee, daß die gesamte physikalische Realität sich vielleicht als Feld darstellen lasse, dessen Komponenten von vier raum-zeitlichen Parametern abhängen. Sind die Gesetze dieses Feldes allgemein kovariant, d.h. an keine besondere Wahl des Koordinatensystems gebunden, so hat man die Einführung eines selbständigen Raumes nicht mehr nötig. Das, was den räumlichen Charakter des Realen ausmacht, ist dann einfach die Vierdimensionalität des Feldes. Es gibt dann keinen leeren Raum, d.h. keinen Raum ohne Feld.“ (Einstein 1953 in: Jammer 1960, S. XV)

Ich schlage vor, im Zusammenhang physikalischer Überlegungen, insbesondere der heutigen Mikro- und Makrophysik, von Feld zu sprechen, das schließt den Raumbegriff der klassischen Physik mit ein. Demgegenüber muss die Erzählung (das erzählende Gespräch) unter den Bedingungen des jeweiligen Erzähl-Raumes analysiert werden.

Für das Gelingen eines Gespräches zwischen Menschen in einem Raum, wie auch in unterschiedlichen Räumen (aber einer Atmosphäre) ist die Aktivität des (physikalisch-elektrischen) Feldes notwendig, aber nicht ausreichend, denn das Gelingen menschlicher Kommunikation lässt sich nicht auf die Wahrnehmung von Feld-Aktivitäten reduzieren. Die Differenz der Wahrnehmung zwischen digitaler Kommunikation und realem Gespräch (z.B. im selben Raum), aber auch jeder Erinnerung muss bei der Analyse wie Dokumentation einer Gesprächsaufzeichnung wie jedweder Art von Erzählung beachtet werden.

Digitale Kommunikation ist ortlos (bzw. der Ort wird beliebig), während reale Kommunikation ortsgebunden wahrgenommen werden muss, selbst wenn der Raum weltweit (oder sogar weltraumweit) geöffnet ist. Diese Einsicht hat weitreichende Konsequenzen.

Als Beispiel (im Kontext meiner religionsphilosophischen Überlegungen) verweise ich auf die Übersetzung traditioneller religiöser Sprachspiele. Religiöse Sprachspiele haben ihren „Ort“ oder „Raum“ im (jeweiligen) theozentrischen Weltbild. Um sie sinnvoll in ein heutiges Weltverständnis zu übersetzen, muss ein „Ortswechsel“ vorgenommen werden. Ohne notwendige „Raumtranslationen“ (ein von mir gewählter Ausdruck mit Anspielungscharakter) kann nicht geprüft werden, ob Sprachspiele dieser Art ihren Sinn behalten oder verlieren (oder vielleicht erst eröffnen).

Mein Lösungsvorschlag für das jüdisch-christliche Sprachspiel von der „Menschwerdung Gottes“ – im Sinne eines aufgeklärten Realismus ist, es in eine konkrete Utopie der Erlösung zu übersetzen. Diese Übersetzung ist mit der Grundaussage des anthropozentrischen Weltbildes, dass die Menschen (in dieser Welt, in diesem Welt-Raum) „sterbliche Schöpfer“ sind (eine Aussage von H. Arendt), sinnvoll in Übereinstimmung zu bringen – ohne gnostische Fehlinterpretation einer „Selbsterlösung“.

Zu Ende seines Buches „Computerdenken“ deutet Roger Penrose an, dass die (noch ausstehende) Theorie des menschlichen Bewusstseins mit der Methode der Berechenbarkeit und als komplexer Algorithmus nicht (ausreichend) darstellbar ist, sondern nur als Resultat der Gesprächssituation (Kommunikation) zwischen selbstbewussten Menschen erzielt werden kann.

Menschliches Bewusstsein (in der Form eines komplexen Computers) ist mit algorithmischen Mitteln nicht rekonstruierbar; so urteilt Penrose. Dennoch erwartet er „die Eigenschaft mathematischer Präzision“, die anders als „Berechenbarkeit“ ist. (a.a.O. S.437)

Menschliche Erinnerung hat, so vermutet Penrose nach detaillierter Prüfung aller Formen von Berechenbarkeit, eine näher zu erforschende eigenständige Struktur: „Mein Bewußtseinsstrom ist in die Vergangenheit gerichtet, und in Wirklichkeit besagen meine Erinnerungen nicht, was mir geschehen ist, sondern was mir geschehen wird.“ (a.a.O. S. 438)

Diese Andeutung einer speziellen Zeitstruktur reflektiere auch ich, wenn ich zwischen kairos und chronos unterscheide und davon spreche, dass Erinnerungen dieser Art nur erzählt und tradiert werden können. Aber eine in diesem Sinne sachgemäße Theorie des Bewusstseins liegt bis heute nicht vor.

Literaturhinweise:

Penrose, Roger: Computerdenken. Die Debatte um künstliche Intelligenz, Bewußtsein und die Gesetze der Physik, Heidelberg, Berlin 2002 (Originalausgabe: The Emperor’s New Mind Concerning Computers, Minds, and the Laws of Physics, New York 1989)

Penrose, Roger: SHADOWS OF THE MIND. A Search for the Missing Science of Consciousness, London 2005 (1994/1995)

Schmitter, Jürgen: Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten. Ein Taschenwörterbuch, Münster/Westfalen 2017

Schmitter, Jürgen: Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf, Münster in Westfalen 2020

Das utopische Denken. Zur Dynamik des Vorläufigen

Die Vorläufigkeit des konstruktivistischen Denkens für endgültig zu erklären, ist eine resignative Form der Metaphysik. Vorläufiges Denken und Handeln hat eine Dynamik, die durch utopisches Denken – im heutigen anthropozentrischen Weltverständnis – gekennzeichnet werden kann.

Menschliches Denken und Handeln im Prozess der Aufklärung ist – zusammenfassend – als Problemlösen strukturiert. Diese Struktur als endlich zu analysieren, eröffnet die Utopie der Erlösung, die existenziell erfahren und konkret erzählt werden kann, aber nicht begriffen.

Das Vorläufige ist nicht das Endgültige. Die Endlichkeit alles Menschlichen enthält (verbirgt und eröffnet) eine Dynamik: Provisorium und Antizipation zugleich; Erkenntniszuwachs wie Erkenntnisfortschritt. Der entscheidende Impuls für alles Problemlösen ist die Utopie der Erlösung (als Erwartung: zeit- und ortlos).

Religion, wie sie sich heute präsentiert, ist der Rückzugs-Ort des Heiligen in einer profanen Welt. Demgegenüber umfasst das Utopische Denken den Welt-Raum. Dieses Denken benötigt weder Tempel noch Heiligtümer; es wirkt mitten unter den Menschen, mitten in unserer verdinglichten, entfremdeten Welt. Historisch wie biografisch gesehen hat das Utopische Denken konkret einen Namen: gebunden in der – und übersetzt aus der jüdisch-christlichen Täufer-Tradition: das messianische Denken.

Utopisches Denken wird im Alltag der Menschen erfahrbar und erzählbar, aber bleibt unbegreifbar. Der „Ort“ der Utopie, der einzige Ort des Ortlosen (ein Oxymoron) ist das Gespräch; in ihm kann erzählt und gehört werden, was Erlösung bedeutet (in der Struktur der Antizipation). Die Differenz von chronos und kairos ist erkennbar, erfahrbar, erzählbar, aber nicht aufhebbar.

Das Gespräch dient sowohl der gemeinsamen Rückerinnerung, als auch der gemeinsamen Entwicklung von Perspektiven und Aktionen; es ist der Raum der Umkehr (Revision) und Verantwortung. Entscheidend ist die dialogische Struktur des Gespräches, selbst da, wo der Einzelne sich mit sich selbst verständigt (verständigen muss). Verantwortung ist nicht delegierbar, Selbstkritik und Umkehr befreien.