Methodischer Atheismus statt Apatheismus/Erlösung als messianische Denkform

Unter „methodischem Atheismus“ verstehe ich den bewussten Verzicht, im Alltag, in der Gesellschaft und in den Wissenschaften die „Gotteshypothese“ zur Lösung von Problemen jeglicher Art zu gebrauchen. Unter den Bedingungen des heutigen, aufgeklärten Weltverständnisses ( des anthropozentrischen Weltbildes) müssen und können alle Probleme des Denkens und Handelns ohne Rückgriff auf einen „Gottesglauben“ gelöst werden. Denn der homo sapiens ist ein homo praestans, der für sein Denken und Handeln allein verantwortlich ist.

Von dieser Einsicht sind alle atheistischen Weltvorstellungen (vom Agnostizismus bis zum Apatheismus) streng zu unterscheiden; diese unterliegen der Ideologiekritik (im Sinne von Projektion und Entlastung). Dies gilt auch für theistische Vorstellungen (vom Polytheismus bis zum Monotheismus und Pantheismus). Auch sie unterliegen der Religionskritik, wie sie im Projekt der Aufklärung entwickelt wurde. Grundlage des heutigen Denkens und Handelns ist der „aufgeklärte Realismus“ auf der Basis des anthropologischen Weltbildes, das von einem Universum, einer Welt – und ihren Gesetzmäßigkeiten (inklusive der möglichen Wahrscheinlichkeitsrelationen) ausgeht. (siehe meine Argumentation in meiner Schrift: Aufgeklärter Realismus, Münster 2020).

Unter „Apatheismus“ versteht das „freie Wörterbuch“ (Wiktionary) ungebräuchlich eine Weltanschauung, nach der die Frage nach der Existenz eines Gottes (oder Götter) bedeutungslos ist, weil sie keine nachprüfbaren Konsequenzen hat. Jan Loffeld (in seinem Buch „Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt, Freiburg im Breisgau 2024) übersetzt diesen Begriff mit „religiöser Gleichgültigkeit“ und kennzeichnet damit (religionssoziologisch) eine bestimmte „saekulare“ Haltung.

Der Apatheismus ist für einen aufgeklärten Menschen (am Ende des Anthropozän) keine Lösung der Gottesfrage. Der Atheismus als Weltanschauung verallgemeinert die notwendige Religionskritik (Stichworte: Projektion, Opium) zu einer fragwürdigen Immanenz des menschlichen Bewusstseins; reduziert seine Möglichkeiten (Potenzen) und damit die Wahrnehmung der Realität.

Im heutigen Labyrinth des Denkens und Nachdenkens führt diese Immanenz zur Ideologie des Naturalismus oder des Konstruktivismus. Die Struktur des Problemlösens wird nicht ausreichend erkannt. So vermischt und verwechselt der Rückgriff auf die „Natur“ und ihre Prozesse der Evolution diese Evolution mit der Menschheitsgeschichte. Der Konstruktivismus erhebt das Provisorium (die bloße Vorläufigkeit) zum Ziel und behauptet letztendlich, dass der Weg schon das Ziel sei.

Demgegenüber verstehe ich das menschliche Denken und Handeln als „sterbliche Schöpferkraft“, um Probleme im Alltag, in der Gesellschaft und in den Wissenschaften kooperativ zu lösen. Problemlösen ist daher die Tätigkeit (mit Hannah Arendt spreche ich von „Arbeit“ im weitesten Sinn), die die Menschen – ohne Rückgriff auf eine „jenseitige“ Realität – leisten und verantworten (müssen!)

Diese Arbeit bedarf – bezüglich der Methoden und des Erfolgs – des dauernden Zweifels und der Prüfung (Kontrolle). Daher spreche ich von der Vorläufigkeit allen Problemlösens. Der homo sapiens ist also ein homo praestans, der für seine Arbeit und die gemeinsame Leistung einsteht und einstehen muss (Stichwort: Verantwortung).

Die Zurhilfenahme von Gotteshypothesen würde diese Verantwortung schmälern, auch wenn eine entlastende Wirkung unterstellt wird. Gott als „Schöpfer“ – und sein Werk: die „Schöpfung“ sind mythologische Vorstellungen; Projektionen, entnommen aus den religiösen Sprachspielen des theozentrischen Weltbildes. Ich lasse die Frage, ob solche Sprachspiele eine Bedeutung für die heutigen Menschen haben, zunächst unbeantwortet; aber sie sind in Bezug auf die Vorläufigkeit allen Problemlösens sekundär.

Was bleibt dem aufgeklärten Menschen angesichts dieser Einsicht in den methodischen Atheismus? Seine Handlungen, seine Art, Probleme zu lösen, müssen vorläufig bleiben, korrigierbar, umkehrbar, verbesserbar sein, ansonsten schlägt sein Denken in Dogmatik und Aberglauben um und sein Verhalten wird widersprüchlich, unsachgemäß und menschenfeindlich.

Diese bewusste Vorläufigkeit bedeutet gerade nicht, dass menschliches Bewusstsein statisch und ziellos ist. Ich spreche daher von der Dynamik des Vorläufigen. Worin besteht diese Dynamik grundsätzlich? Meine Antwort: in der (nur) utopisch denkbaren und auf spezielle Weise aussprechbaren Hoffnung auf Erlösung.

In meinem Bild des Labyrinthes für die Arbeit des menschlichen Bewusstseins bedeutet das: das Labyrinth hat nicht nur einen Eingang (Schwangerschaft und Geburt), ein Zentrum (die Mündigkeit), sondern auch einen „Ausgang“ während des sterblichen Lebens: die Erlösung.

Diese Dynamik erlaubt, erzwingt und befreit (zu) Umkehr und Korrektur bei Irrwegen, Holzwegen: sie ermöglicht und ermutigt zu neuen Lösungen.

In der messianischen, konkret utopischen Denkform und den entsprechenden Sprachspielen der Bibel des Judentums und Christentums wird die Hoffnung auf Erlösung konkret und universal: in der Messias-Erwartung. Ich frage mich daher, ob jenseits der „Menschwerdung Gottes“ im Messias/Christus noch sinnvoll über „Religion“ gedacht und gesprochen werden kann. Zumindest sind religiöse Denkweisen und Sprachspiele gegenüber der primären Hoffnung auf Erlösung sekundär.

Was meine ich mit dem Unterschied von primär und sekundär? Sekundär sind religiöse Vorstellungen über den Kosmos und seine Entstehung, die die Menschen im Laufe ihrer Geschichte gebildet und erzählt haben, um ihre Sterblichkeit und Schuldhaftigkeit zu verstehen. Diese Vorstellungen von „Schöpfung“ im allgemeinen und „Erschaffung des Menschen“ im besonderen werden in erzählenden Sprachspielen umgesetzt (z.B. Schöpfungs- und Paradiesgeschichten), die einerseits die Schuldfrage klären sollen, andererseits das menschliche Leben entlasten.

Religionskritisch analysiert lösen diese Erzählungen das Problem der menschlichen Verantwortung für ihr Tun nicht. Sie sind Projektionen, mythische Erklärungsversuche, die Erlösung nicht bewirken. Daher nenne ich diese Vorstellungen und Sprachspiele „sekundär“. Religion bedarf der Aufklärung. Theistische Weltanschauungen – bis zu den Endformen des Monotheismus – lösen das Problem der Sterblichkeit und Verantwortung nicht.

Auch apokalyptische Vorstellungen vom Ende der Welt und dem Endgericht blicken zwar in die Zukunft, bedürfen aber der Übersetzung, damit chronologische Lösungen nicht mit kairologischen Erfahrungen verwechselt werden.

Erlösung im messianischen Sinn zeigt sich, „offenbart“ sich in existenzieller Erfahrung – jenseits von Raum und Zeit. Daher ist diese Erfahrung nur als Utopie denkbar und (ebenfalls) vorläufig beschreibbar. Sie ist nicht beweisbar, aber kann überzeugen.

Dieses konkret utopische ‚Denken, dieses messianische Denken ist meiner Überzeugung nach (als Resultat meines Nachdenkens) keine Theorie (oder Metatheorie bzw. Weltanschauung), sondern realisiert sich in einem speziellen Theorie-Praxis-Verhältnis: die Erlösung – als Befreiung – in der praktischen Umkehr menschlichen Verhaltens.

Das messianische Denken der jüdisch-christlichen Bibel kennt für diesen Umkehrprozess – in seiner dialogischen Struktur – ein zusammenfassendes Wort: agape – mitmenschliche Liebe. Konsequenz dieser Überzeugung ist die weltweite Durchsetzung der Empathie gegenüber allen Menschen. In dieser Perspektive kann ich das Projekt der (weltweiten) Aufklärung zu Ende denken. Die Realisierung dieses Projektes bleibt eine stetige Aufgabe und Verpflichtung.

Genuss als kommunikative Potenz des menschlichen Bewusstseins

Dass die Empathie zwischen den Menschen „durch den Magen“ geht, ist ein Allgemeinplatz, also eine Alltagsweisheit. Denn die Nahrungsaufnahme ist nicht nur eine biologische Notwendigkeit, um zu überleben, sondern ein gemeinsamer Genuss; zumindest kann sie das sein.

Im Anfang war das Gespräch (sermo), so übersetzt auf mutige Weise Erasmus von Rotterdam den ersten Vers des Prologs des Evangelium nach Johannes. Und ich ergänze: Im Anfang war das Gespräch beim gemeinsamen Essen.

Wer zum gemeinsamen Essen und Trinken einlädt, will Empathie zeigen und in dieser Form gemeinsame Nahrungsaufnahme realisieren. Das gemeinsame Essen setzt also nicht nur Genussfähigkeit der Menschen voraus, sondern ein Bewusstsein des gemeinsamen Genießens; schon bei der Vor- und Zubereitung des Essens; sogar bei der Einladung zu einem gemeinsamen „Mahl“.

In unserer arbeitsteiligen Warengesellschaft (mit all ihren Konsequenzen) beginnt der Genuss (oder Verdruss/Ärger) schon mit der Auswahl des entsprechenden Restaurants (im Internet) oder (zumindest bei mir) beim Lesen der Speisekarte die Vorfreude des Genießens.

Diese Vorfreude kann durch die Beachtung der Preisangaben der einzelnen Speisen durchkreuzt werden. Überteuerte Preise trüben den Genuss oder schon die Vorfreude und erhöhen das Risiko bei Geschmacklosigkeit.

Diese Überlegung zeigt, Genuss geht nicht nur durch den Magen, sondern stets auch durch den Kopf. Auch Genuss ist eine Bewusstseinsleistung und seine sprachlichen Ausdrucksformen entsprechen sowohl der jeweiligen Ess- wie Gesprächskultur. Selbst in der übertriebenen und oft skurrilen Sprachgebung der Speisen durch den Star- und Sternekoch und dessen Ambitionen bleibt – formal gesehen – der Zusammenhang von Gespräch und Genuss erhalten.

Insofern ist die „Phänomenologie der Ernährung und Umwelt“, wie sie die französische Philosophin Corine Pelluchon in ihrem Buch vorgelegt hat, eine notwendige Reflexion und Ergänzung, wenn (wie meine Absicht) das Programm der Aufklärung „zuende“ gedacht wird. Zu einer aufgeklärten Anthropologie am Ende des Anthropozän gehört die ökologische Analyse mit allen Sinnen.

Diese Anthropologie muss alle Bewusstseinsleistungen – ihre Entstehung, ihre Wirkungen und die zugehörigen Sprachspiele (also Ausdrucksformen) umfassen. So kann ich die Übersetzung des Erasmus – sermo statt verbum zu Beginn des Prologs des Evangeliums nach Johannes – erweitern: Im Anfang war und ist die Kommunikation. Auch das Genießen ist eine Potenz des menschlichen Bewusstseins; diese Möglichkeit kann ansteckend wie abschreckend erzählt werden.

p.s.

Für meine Analyse des Bewusstseins, in der ich mir schon sprachlich den Genuss einer Speise (und anderes darüber hinaus) vorstellen kann, spricht, dass es unterschiedliche Denkformen und Sprachspiele gibt: Einbildung ist weder Einsicht noch Utopie.

Literaturhinweis:

Corine Pelluchon: Wovon wir leben. Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt, Darmstadt 2020

Titel der Originalausgabe: Les nourritoures. Philosophie du corps politique, 2015

Was ist der aufgeklärten Christen Heimat?

Was ist die „Heimat“ der Menschen, die sich auf unterschiedliche Weise zum Judentum bekennen? Ich spreche sowohl von den Reformjuden als auch von den Orthodoxen, von den Diasporajuden bis zu den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern des heutigen Staates Israel.

Wenn ich Michael Wolffsohn in seinem Buch „eine andere jüdische Weltgeschichte“ (Freiburg 2022) recht verstehe, ist die Antwort: Heimat sind für die jeweils Betroffenen alle Gegenden der bewohnten Erde, in denen jüdische Gemeinden als religiöse Gemeinschaften – seit langem – existieren. Verstärkt wird diese Antwort durch die Realität und die Folgen des Holocaust.

Jüdischen Menschen, die religiös praktizieren (wenn auch in unterschiedlicher Strenge) oder aus orthodoxen Familien stammen, und in verschiedenen Gegenden Europas lebten, wurden durch die deutsche Nazi-Herrschaft systematisch ausgerottet, auch wenn dieses Verbrechen, dieser „liquidierende Antisemitismus“ (so Wolffsohn) nicht hundertprozentig „erfolgreich“ war, trotz über 6 Millionnen ermorderter Menschen. So gibt es heute (wieder) deutsche Juden, also Menschen, deren Heimat (in) Deutschland ist.

Aber da es in Deutschland auch nach der Nazi-Diktatur, also nach 1945 weiterhin mentalen Antisemitismus gab und in immer offensiverer und kriminellerer Weise gibt, verstärkt durch Einwanderung und Fluchtbewegung, verstärken sich auch die Sorgen und Ängste der deutschen jüdischen Bevölkerung. Diskriminierung und Angriffe auf Leib, Leben und Synagogen nehmen rapide zu.

In dieser menschenunwürdigen Situation gab und gibt es (noch) einen sicheren Fluchtpunkt: der im letzten Jahrhundert gebildete Staat Israel, der nicht nur für die orthodoxen Juden das „gelobte Land“ der Bibel ist.

Aber auch diese Sicherheit war und ist gefährdet, weil die Bildung eines zweiten Staates verhindert wurde – und der (mein) Traum eines gemeinsamen Staates, in dem alle Menschen friedlich und gemeinsam leben können (Juden, Muslime, Christen, Beduinenstämme und Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft (mehr) angehören) unerfüllt bleibt. Meine Vorstellung und mein Wunsch einer gemeinsamen Heimat wird konterkariert durch Hass, Terror und Krieg – Formen der Vernichtung. Das Bewusstsein vieler Menschen bleibt geprägt durch Vertreibung und Vernichtung.

Programm und Prozess der Aufklärung leben von dem Ziel, dass alle Menschen am Ende des Anthropozän eine Heimat haben, in der sie gemeinsam, frei, menschenwürdig, gesund und ohne Hunger und Not leben können.

Zur Zeit leben erst unter 30 % der Weltbevölkerung in (demokratischen) Staaten, die zumindest das Ziel des Prozesses der Aufklärung anerkannt haben und dafür arbeiten, dieses Ziel weltweit zu realisieren.

Angesichts dieser Analyse der Realität stelle ich die präzise Frage, was der Christen Heimat sei. Die traditionelle Antwort, Christen hätten auf der Erde keine Heimat, ihre Heimat sei der „Himmel“ – formuliert in einem religiösen Sprachspiel – ist am Ende des Anthropozän nicht nur naiv, sondern un-sinnig; übrigens genau so wie die Vorstellung, ein „Paradies auf Erden“ schaffen zu können.

Aufgeklärte Christen (Messias-Überzeugte) leben in der Tradition des messianisch-jüdischen Täufertums (während der Zeitenwende). Sie leben in der Überzeugung, dass Jesus aus Nazaret der Messias ist. Diese Überzeugung befreit sie von allem Kult, allem Aberglauben und aller Verzweiflung angesichts der Endlichkeit ihres individuellen Lebens.

Diese konkrete Utopie der Erlösung ist erfahr-, erzähl- und weitererzählbar und befähigt den Christen zu erkennen, „was gut und vollkommen ist“ (so Paulus aus Tarsus in seinem Brief an die Römer). Ich übersetze diese Erkenntnis: sie befreit den Menschen, die Probleme dieser Welt zu lösen, wenn auch in der Dynamik des Vorläufigen, in der konkreten Utopie der Erlösung.

Daher stimme ich der Aussage von Hannah Arendt (1958) zu:

„Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden“. Arendts Aussage hat zwei Teile: einen Indikativ (= der homo sapiens ist ein sterblicher Schöpfer, kein Geschöpf) und einen daraus folgenden Imperativ (= die Welt des homo sapiens muss dauernd erneuert werden).

Ich übertrage diese Erkenntnis in meine Argumentation: die Menschen können die Probleme ihres endlichen Lebens auf der Erde selbstbewusst und selbstverantwortlich lösen. Aus der Endlichkeit ihres individuellen Lebens resultiert die Vorläufigkeit aller Problemlösungen (provisorisch und antizipativ).

Die Konsequenz dieser Vorläufigkeit besteht darin, alle Problemlösungen zu überprüfen und gegebenenfalls zu erneuern; im Sinne von Menschenwürde, Gerechtigkeit und Empathie.

Angesichts dieser Überlegung wiederhole ich meine Frage nach der Heimat der Christen und antworte: die von Menschen bewohnte Erde und ihre Natur sind die Heimat. Aus der Zusage der Erlösung ergibt sich der universale Auftrag, die befreiende Verpflichtung, die „Welt im Sein zu erhalten“(so H. Arendt).

Trotz der unlösbaren Differenz in Bezug auf die Messias-Erwartung zwischen Juden und Christen, sind die Aussagen der biblischen Propheten die gemeinsame Wurzel: Heimat ist für Christen wie Juden die bewohnbare Erde unter der Zusage der Erlösung der Welt – für alle Menschen.

Ein fatales Missverständnis: Die Differenz zwischen messianischem Bekenntnis und kirchlicher Institution

In einem Gastkommentar der NZZ (13. August 2022) behauptet der ehemalige Generalvikar des Bistums Chur, Martin Grichting, dass der „Synodale Weg“ der römisch-katholischen Kirche in Deutschland ein „Irrweg“ sei, der zu einer (weiteren) Kirchenspaltung führe, so dass sich schon jetzt zwei Bekenntnisse gegenüberstehen. Dabei greift er auf die Erfahrungen der Schweizer Landeskirchen zurück.

Dabei ist für mich klar: Die Praxis wie Legitimation der römisch-katholischen Kirche – als aktuelle Situation einer lang andauernden Ideologie- und Kriminalgeschichte – verlangen unwiderruflich eine rechtliche wie institutionelle Erneuerung. Diese notwendige Reform – übrigens ein Postulat der „ecclesia semper reformanda“ – führt nicht (weder praktisch noch zwingend) zu einem „abgeschwächten“ oder „liberalisierten Bekenntnis“. Sondern im umgekehrten Sinn gilt: das sachgemäße messianische Bekenntnis und seine konsequente und uneingeschränkte Übersetzung (in Theorie und Praxis) erzwingen die Reform der Institution Kirche.

Vordemokratische Macht- und Entscheidungsstrukturen sowie überholte Formen des „Staatskirchentums“ sowie überholte Formen bürokratischer Prachtgestaltung (mit dogmatischen Engführungen des 19. Jahrhunderts) sind ersatzlos abzuschaffen. Dabei sind bezüglich der römisch-katholischen Kirche als weltweiter Organisation die (ebenfalls) weltweit unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen und staatlichen Machtverhältnisse zu beachten, um die Unabhängigkeit wie Wirksamkeit der Kirche – im Interesse der Menschen – herzustellen bzw. zu sichern. So bedürfen der erst historisch spät durchgesetzte Pflichtzölibat und die überholten (der Gegenreformation geschuldeten) Beichtpraktiken, um nur zwei Beispiele zu nennen, dringend der Reform, weil sie die frühchristlichen Bekenntnisse des Christentums verunklaren und das messianische Bekenntnis aller Christen in den Hintergrund drängen, ja verdecken.

Eine entscheidende Aufgabe aller christlichen Kirchen, die sich nicht in Sekten verwandelt haben, bleibt es, das frühchristliche Bekenntnis bis hin zu den verbindlichen „Glaubensbekenntnissen“ („Credo“) in Theorie und Praxis so zu übersetzen, dass das Christentum in der heutigen Welt glaubwürdig bleibt.

Wird der Mangel an Glaubwürdigkeit erkannt, ist die Reform der Institution „Kirche“ überfällig. Dies gilt insbesondere – in der katholischen Kirche in Deutschland – für unaufgearbeitete Missbräuche gegenüber den getauften Mitgliedern, angesichts verordneter Unmündigkeit und politischer Abhängigkeit durch weitergeltende Praktiken des überholten „Staatskirchentums“.

Das messianische Credo der ersten Christen und ihrer Gemeinschaften kann nur unverfälscht erhalten bleiben – ich wiederhole, wenn es in Theorie und Praxis glaubwürdig übersetzt wird, ohne verfälscht oder relativiert zu werden. Das bedeutet auch, es von dogmatischen Engführungen der letzten Jahrhunderte zu befreien, um den Ursprung der Messias-Botschaft zu erhalten und um zu „verstehen“, was „Erlösung“ im 21. Jahrhundert bedeuten kann und muss.

Wer die derzeitige Herrschaftsstruktur der römisch-katholischen Kirche in Frage stellt und im Interesse der Glaubwürdigkeit dieser Institution verändern will und muss, der relativiert nicht die Überzeugung, dass Jesus aus Nazaret der Messias ist, der die Welt erlöst, sondern befreit dieses 2000 Jahre alte Bekenntnis von falschen, missverstandenen Vorstellungen.

Die Übersetzungstreue gegenüber dem jüdischen Messianismus und der kenosis-Überzeugung kann – meiner Überlegung nach – so weit gehen, dass der (methodische) Atheismus als eine Grundlage für das Lösen von Problemen in der heutigen Zeit akzeptiert werden kann. Daher kann der heute lebende homo sapiens Christ sein; im Sinne der konkreten Utopie der Erlösung der Welt.

Die von mir geforderte Übersetzungstreue der messianischen Botschaft, wie sie z.B. in den synoptischen Evangelien durch die spezielle „basileia tou theou“-Verkündung erklärt wird oder von Paulus aus Kleinasien in seiner kenosis-Theologie entwickelt wird oder in den Bekenntnissen der frühen Konzilien („Credo“) formuliert wird, muss einerseits das Abgleiten in Formen des Aberglaubens verhindern, andererseits das Weltverständnis der Aufklärung (von Kant bis Freud) beachten.

Ein gutes Beispiel für die Abwehr von Missverständnissen bezüglich der Kreuzes- und Opfer-Theologie ist meine Argumentation zum Verständnis des Kreuzes in meinem Buch: „Nachdenken aus der Peripherie des Anthropozän. Anhang“, Münster 2023. Die messianische Botschaft kann auch im anthropozentrischen Weltbild sachgemäß gedeutet und erzählt werden.

Zur Versöhnung von Atheismus und Christentum

oder
Die Ergebnisse der Aufklärung zuende denken

Eine Argumentation im Sinne des Aufgeklärten Realismus; gegen alle Spielarten von Naturalismus und Konstruktivismus sowie Theismus

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus
Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf., Münster 2020 (agenda Verlag, 160 Seiten)

Wer bei dem Wort „Versöhnung“ sofort in eine sog. „Identitätskrise“ verfällt und aus Gründen einer sprachlichen correctness an Wörtern wie „Vertöchterung“ oder „Vergeschwisterung“ bastelt, verkennt nicht nur die etymologische Herkunft des Begriffes, sondern pervertiert auch meine Absicht, über und im Projekt Versöhnung von Atheismus und Christentum nachzudenken, um eine sinnvolle Argumentation präsentieren zu können.

Das Verb „versöhnen“ ist eine Vokalmodulation des älteren Verbs „versühnen“ im Sinne von „Frieden stiften, ausgleichen, vermitteln“ – und eine Vermittlung schlage ich vor: die Position des Atheismus, wenn er streng methodisch verstanden wird, und die Praxis und Lehre des Christentums, wenn es von seinem Ursprung her, den die jüdischen Täufergemeinden (des 1. Jahrhunderts nach Christus) bezeugen, beschrieben wird. Diese Gemeinden, und insbesondere Paulus aus Tarsus, bezeugen, dass der am Kreuz hingerichtete Wanderprediger Jesus aus Nazaret der erwartete Messias/Christus ist.

Die messianische Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft sowie von der erlösenden Funktion der Menschwerdung Gottes (dokumentiert im kenosis-Hymnus des Philipperbriefes) relativieren das theozentrische Weltverständnis (im damaligen Römischen Reich). Denn das jüdisch-messianische Denken greift auf die Exodus-Struktur der Bibel zurück. Und dies führt schon bei manchen Gelehrten im damaligen Römischen Reich zu dem Vorwurf, dass die „Christus-Gläubigen“ Atheisten seien.

Ich übersetze die messianische Botschaft unter den Bedingungen des heutigen, aufgeklärten, anthropozentrischen Weltverständnis als „konkrete Utopie der Erlösung“. Und diese Übersetzung schließt den methodischen Atheismus (zur Lösung von Problemen) nicht aus. Aufgeklärte Christen sind in ihrem Denken und Handeln (zunächst) methodische Atheisten; sie müssen – mit allen Menschen – denken und handeln, als wenn es Gott nicht gäbe (sic deus non datur). Und sie können so denken und handeln, da sie unter dem Vertrauensvorschuss der (konkreten Utopie der) Erlösung befreit sind von religiösem Zwang und gesellschaftlichen Vorurteilen.

Im Gegensatz zum gnostischen Denken (der Selbsterlösung) steht das messianische Denken (im Sinne der kenosis), in dem Erlösung als zu erwartende „Gabe“, als Geschenk gedacht wird, die befreit – aber in einem radikal anderen Sinn als in der Gnosis. Übrigens bleibt Hegel, wenn er in seiner Philosophie des Geistes von Versöhnung spricht, im gnostischen Verständnis.

Für das messianische Denken sind existenzielle Erfahrungen kairologischer Struktur, und damit im strengen Sinn zeitlos, also ewig; während historische oder zukünftige Erwartungen apokalyptischer Art oder als Apokatastasis oder als Weltgericht (am Weltende) in chronologischen Strukturen erzählt werden. Chronologische Rekonstruktionen (z.B. Schöpfungsmythen oder Gerichtsszenarien am Ende der Welt) sind an ein theozentrisches Weltverständnis gebunden.

Schöpfungsmythen wie Paradiesvorstellungen bedürfen daher eines Schöpfers, sind „metaphysisch“ strukturiert. Demgegenüber bestimmt das anthropozentrische Weltbild der Aufklärung (und der heutigen Erfahrungswissenschaften) den Menschen als Schöpfer – und religiöse/metaphysische Sprachspiele als seine Projektionen.

Der Mensch (als Vernunftwesen) versucht, alle Probleme dieser Welt zu lösen (durch Begreifen und Eingreifen), aber diese „Potenz“ (diese Möglichkeit) ist an seine Leiblichkeit und Sterblichkeit gebunden. Der Mensch ist ‚Vernunft- und Naturwesen. Diese Verknüpfung von Natur (Leiblichkeit) und „Geist“ – im Sinne von „Problemlösungspotenzen“ (individuell wie gesellschaftlich, als lebendiger Organismus wie als Gesellschaftsformation) schafft Bewusstsein und Selbstbewusstsein.

In diesem und durch dieses Bewusstsein (in mehrfacher Ausprägung: als Gesprächs-, Reflexions-, Erinnerungs- und Planungsfähigkeit inklusive der Entwicklung von Selbstbewusstsein/Mündigkeit) sind Menschen fähig, ihre Lebensprobleme zu lösen, ihre Natur (Leiblichkeit) und ihre Welt (die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos) zu erkennen und zu gebrauchen.

Für ihre Fähigkeiten („Potenzen“ – Aufbewahrung und Gebrauch) sind die Menschen allein verantwortlich. Diese Verantwortung beim Lösen ihrer Probleme (im Alltag und in der Wissenschaft) und der Sicherung ihrer Erkenntnisse können sie – zusammenfassend – als ihre Autonomie bzw. Mündigkeit reflektieren. In diesem Sinn sind sie notwendigerweise „methodische Atheisten“, die weder auf andere Instanzen oder mythologische Erzählungen zurückgreifen. Sie haben gelernt, von dieser (methodischen) Erkenntnisarbeit Ideologien und deren Wirkung zu unterscheiden. Dies gilt für alle Spielarten von Theismus, Naturalismus, Materialismus und Konstruktivismus.

Menschen sind weiterhin in der Lage, Teile und Ergebnisse ihrer Potenzen „auszulagern“; ich denke z.B. an Bibliotheken. Heutzutage sprechen wir von „künstlicher Intelligenz“. Das menschliche Erinnerungsvermögen ist damit weltweit sicherbar und abrufbar. Dies gilt auch in zunehmendem Maße für die Planungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Die Grundlage dieser Potenzen ist das Bewusstsein. Seine Entstehung und Entwicklung bleibt an den „lebenden, selbstgesteuerten Organismus Mensch“ gebunden, selbst wenn eine funktionsbestimmte Loslösung vom menschlichen Organismus (in „Maschinen“) möglich wird.

Selbst die Bildung des geschlechtlichen Ich-Bewusstseins (geschlechtliche Identität) ist zwar an den individuellen Organismus, die Leiblichkeit, gebunden, setzt aber als Selbstaussage der je eigenen Erfahrung Selbstbewusstsein (im Sinne der Mündigkeit) voraus.

Für die Fortpflanzungsmöglichkeit und die Erziehung der Nachkommen gilt die gemeinsame Verantwortung von Vater und Mutter. Gesprächskompetenz ist mehr als Sprachkompetenz und Rechtsbewusstsein ist nicht einfach die Summe individuellen Selbstbewusstseins, sondern ein Lernprozess der Konsensbildung, der sich auf der Basis der Gleichheit an Freiheit und Gerechtigkeit orientiert.

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus
Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf., Münster 2020 (agenda Verlag, 160 Seiten)

Bewusstsein entsteht (bildlich vorgestellt) als Schnittmenge von Natur und Kultur (als Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklung) bei Zeugung und Geburt und endet für das einzelne Individuum durch seinen Tod. Leiblichkeit wie Sterblichkeit sind für das Bewusstsein eines jeden Menschen konstitutiv. Mit Hannah Arendt fasse ich diese Erkenntnis in die Aussage zusammen: Menschen sind sterbliche Schöpfer.

Diese Erkenntnis korrigiert ideologisch geprägte und/oder durch das vorherrschende Weltbild bestimmte Vorstellungen davon, was der Mensch und seine Welt seien. Daher postuliere ich: der Prozess der Aufklärung (als Antwort auf die Frage, was der Mensch sei) muss konsequent zuende gedacht werden. Das Ziel dieses Projektes – als Resultat metatheoretischer Reflexion – fasse ich unter dem Titel „Aufgeklärter Realismus“ zusammen. Erste Ergebnisse dieser Metareflexion (im Sinne einer aufgeklärten Anthropologie) habe ich in meinem gleichnamigen Buch (Münster 2020) veröffentlicht.

Gegen die Lagermentalität – Zum Ursprung des Christentums

Aus dem Brief an die Hebraier (13,13-14):

Daher wollen wir hinausgehen zu ihm (Jesus Christos), außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend, denn nicht haben wir hier eine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. (Übersetzung: Münchener NT) (Vulgata: „extra castra“; NT gr.: ménousan/méllousan pólis; vulg./lat.: civitas)

Das ursprüngliche Christentum ist eine messianische Täuferbewegung innerhalb des Judentums in der damaligen Zeit, deren Gemeinden sich, so der Hebräerbrief (entstanden vor der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die römischen Truppen), als „außerhalb des Lagers“ verstehen, also keine Tempel- und Opfer-orientierte Religionsgemeinschaft sind. Diese Gemeinschaften haben keine „bleibende polis“, sondern erinnern sich an und bekennen sich zu Jesus aus Nazaret als ihren Messias und suchen eine „neue polis“.

Christen können sich also – im religiösen Sinn – nicht auf ein räumliches Zentrum rückbeziehen; weder auf Jerusalem (mit dem Tempel), noch Konstantinopel noch Rom. Denn sie leben und handeln weltweit „außerhalb des Lagers“; das ist ihr universaler Auftrag. Überall, wo sie sich im Namen und Auftrag des Messias (Christos) Jesus zusammenfinden und sich seiner kenosis erinnern und seiner Erlösung (der Welt) gedenken und diese durch ihr Verhalten bezeugen, sind sie zu hause.

Religionen beziehen sich auf ein religiöses Zentrum; daher spreche ich von religio als Rückbezug. Judentum wie Christentum sind durch die Exodus-Struktur gekennzeichnet; kennen aber auch – sekundär – den Schöpfungsmythos (erzählt im Buch Genesis). Das Christentum erwartet und erfährt (als kairologisches Ereignis – in der Deutung des Paulus aus Tarsus) den Beginn der „Gottesherrschaft“. Übersetzt vom theozentrischen Weltbild in das anthropozentrische Weltverständnis bedeutet das die konkrete Utopie der Erlösung, die befreit und verhindert, dass Zweifel und Endlichkeit in Verzweiflung und Vernichtung umschlagen.

Daher akzeptieren aufgeklärte Christen keine „Lagermentalität“; sie ziehen sich nicht in ihre „Kirchen“ zurück, sondern ihre Form der „Entweltlichung“ bedeutet, sich nicht den bestehenden Verhältnissen anzupassen, sondern Verantwortung für die Menschen und die Welt zu übernehmen.

Zum Hintergrund der Argumentation des „Briefes an die Hebraier“

Der Text des „Hebräerbriefes“ ist seiner Argumentation nach ein Traktat eines Gelehrten der Priestertheologie des hellenistischen Judentums, der gelernt hat, mit der biblischen Tempel- und Opfertheolgie zu argumentieren. Die Schärfe seiner Kritik am Tempeldienst und Opferkult (in Jerusalem) besteht darin, dass er diese Opfertheologie allein auf Jesus, den Messias, bezieht und die Adressaten seiner Argumentation, sog. „Judenchristen“, vor einem Rückfall in die Opferpraxis des Tempels in Jerusalem schützen will. Der Kontext im 13. Kapitel des Hebräerbriefes verdeutlicht dies:

Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit.

Lasst euch nicht durch schillernde und fremdartige Lehren verführen. Denn es ist gut, dass das Herz gefesselt wird durch Gnade, nicht durch Speisegebote; die sie befolgten, hatten keinen Nutzen davon.

Wir haben einen Altar, von den zu essen keine Vollmacht hat, wer dem Zelt dient. Denn die Leiber der Tiere, deren Blut der Hohe Priester als Sühnopfer ins Heiligtum hineinbringt, werden außerhalb des Lagers verbrannt.

Darum hat auch Jesus, um durch sein eigenes Blut das Volk zu heiligen, außerhalb des Tores gelitten.

Lasst uns also vor das Lager hinausziehen zu ihm und seine Schmach tragen, denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Durch ihn wollen wir Gott allezeit als Opfer ein Lob darbringen, das heisst die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen.

Vergesst nicht, einander Gutes zu tun und an der Gemeinschaft festzuhalten, denn an solchen Opfern findet Gott Gefallen.

(Hebr. 13,8-16 in der Übersetzung der Zürcher Bibel)

Schärfer kann die Kritik an den Speisegeboten und der Opfertheologie in der Sprache der jüdischen Priestertheologie (Nutzlosigkeit der Speisegebote und die Hinrichtung Jesu außerhalb des Tempelbezirks als einzig sinnvolles Blutopfer der „Heiligung“) nicht formuliert werden, auch wenn für aufgeklärte Menschen (auch Christen) unserer Zeit diese weltbildbezogene Denkweise fremd und unverständlich bleibt. Diese Kritik muss also in Bezug auf unsere Lebenspraxis übersetzt werden.

Ich fasse zusammen:

Der Verfasser der Argumentation des sog. Hebräerbriefes polemisiert gegen die „Lagermentalität“ derer in seinem Freundeskreis (der getauften messianischen Juden), die sich weiterhin am Tempelkult des Hohen Priesters und der dort stattfindenden Opferpraxis orientieren. Ich unterstelle, der Tempel in Jerusalem ist noch nicht durch die römischen Legionäre zerstört ( und das spricht für eine Entstehung des Briefes eindeutig vor 70 n. Chr.). Die Gegenargumentation in der Sprache der Priestertheologie ist:

(1) Es gibt nur einen Hohen Priester, und das ist Jesus aus Nazaret, der vor den Toren der Stadt (außerhalb der Mauern) hingerichtet wurde;

(2) Sein Tod ist das einzige sinnvolle Opfer zur Erlösung der Menschen;

(3) Und deshalb haben die Messias-Vertrauten (die Christen) hier (in Jerusalem) keine „bleibende polis“, sondern sie sind Suchende der „zukünftigen polis“.

Christen haben keinen heiligen Ort, kein Kultzentrum – nur Erinnerungsorte -, denn als „Erlöste“, als freie Menschen können sie überall „Gott loben“ – für die Befreiung danken (Eucharistie als Danksagung), sich sozial (für ihre Mitmenschen) engagieren (Diakonie/Caritas als Konsequenz) und (um der Erinnerung und Bezeugung der Erlösung willen) Gemeinschaft halten (ekklesia).

Überlegung zu Stephen Hawking: Notwendig einseitige Antworten auf große Fragen

Aus: Die kosmologische Perspektive, in: Aufgeklärter Realismus, Buchprojekt 2019

Vorbemerkung: Es handelt sich bei der folgenden Kritik um ein vorveröffentlichtes Kapitel meines neuen Buches „Aufgeklärter Realismus. Leitfaden zu einem zeitgemäßen Welt- und Menschenbild als Grundlage für eine dreifache Theorie des menschlichen Wissens, des verantwortlichen Handelns und des utopischen Hoffens“, das im Spätherbst dieses Jahres (2019) erscheinen soll.

2018 erschien – kurz nach seinem Tod – seine Schrift „Stephen Hawking: Brief Answers to the Big Questions“, London (zugleich die deutsche Übersetzung: „Kurze Antworten auf große Fragen“, Stuttgart); aus seinem persönlichen Archiv zusammengestellt und von Kollegen, Freunden und der Familie kommentiert.

Um es vorweg zusammen zu fassen: nach der Lektüre seines Vermächtnisses stelle ich fest: Die Aussagen und Prognosen dieses Naturwissenschaftlers und Kosmologen sind optimistisch, vorausblickend und dem Wissenschaftlichen Determinismus verpflichtet. Daher sind seine Antworten auf die großen Fragen notwendig einseitig.

Diese Perspektive führt dazu, dass die Antwort auf die Frage, ob es einen Gott gibt, – je nach Definition, was mit dem Wort „Gott“ gemeint ist, als sinnlos gekennzeichnet wird. Ich meine, mit Recht, wenn Gott mit Natur und ihren Gesetzmäßigkeiten gleichgesetzt werden, oder alternativ die Antworten als beliebig abgetan werden.

Der Gebrauch des Wortes „Gott“ in Religion und Gesellschaft wird nicht ideologiekritisch analysiert; das ist mit den Methoden des naturwissenschaftlichen Determinismus und seinen an der mathematischen Logik orientierten Sprachspielen auch nicht möglich. Daher spreche ich von notwendig einseitigen Antworten, die ohne die „Gott-Schöpfer-Hypothese“ auskommen – müssen.

Die ideologiekritischen, sozialwissenschaftlichen Konzepte der „Projektion“ werden nicht zur Kenntnis genommen und angewandt.

Daher kann Hawking als „methodischer Atheist“ verstanden werden; denn seine Forschungen und Prognosen haben zum Ziel, „ein rationales Bezugssystem zu finden, um das Universum, das uns umgibt, zu verstehen“ (a.a.O. S.50). Demgegenüber hat mein Projekt des „Aufgeklärten Realismus“ zum Ziel, für Wissenschaft und Gesellschaft, also für die Strukturen des menschlichen Denkens – inklusive religiöser Vorstellungen und ihrer sprachlichen Ausdrucksformen – ein rationales Bezugssystem zu finden, um die Gesellschaften, in denen wir Menschen leben und arbeiten, zu verstehen. Das meine ich, wenn ich fordere, das Projekt der Aufklärung unter heutigen Bedingungen zu Ende zu denken – und die Ergebnisse der Ideologiekritik nicht zu negieren oder zu verharmlosen.

Auch Hawkings Position des „wissenschaftlichen Determinismus“ bedarf der kritischen Prüfung. Möglicherweise verkennt er die vorgegebenen „Idealisierungen“ der Naturgesetze – schon bei der Konstruktion adäquater mathematischer Sprachspiele – und reduziert den synsemantischen Ausdruck „Gott“ auf „Natur“, ohne die wirksamen Projektionsformen in Gesellschaft und Wissenschaft wahrzunehmen.

Dennoch bin ich unsicher, Hawking einen Deisten zu nennen. Sein evolutionärer Optimismus, wie auch sein Verständnis von idealisierter Gesetzmäßigkeit kann hinerfragt werden. Der Gebrauch des Wortes „Gott“ wird beliebig (S. 64: „Wenn Sie wollen, können Sie die wissenschaftlichen Gesetze „Gott“ nennen …“), aber meine Frage bleibt, ob es einen sinnvollen Gebrauch dieses Wortes gibt; wenn nicht, sollte auf ihn verzichtet werden.

Gott“ ist also für Hawking – in meinem Verständnis – ein synsemantischer Ausdruck für die weiter zu erforschende Gesamtheit der Natur in ihrer Gesetzmäßigkeit. Auf die Frage, ob ein Gott das Universum geschaffen hat, antwortet Hawking, dass die Frage sinnlos sei. Die Entstehung und das mögliche Ende unseres Universums läßt sich aus sich erklären. Da die Zeit (im Sinne der Chronologie) wie auch der Raum im „Schwarzen Loch“ verschwinden, wie auch entstehen, ist der Gedanke an die Existenz eines Schöpfers, der das Universum schafft, sinnlos (vgl. S. 62f).

Hawking als Kosmologe ist, wie schon zuvor formuliert, ein methodischer Atheist. Seine Methode ist – in Anlehnung und Fortsetzung der Gedanken Albert Einsteins – das „Gedankenexperiment“ (vgl. a.a.O. S. 224). Die Mathematik versteht er als „Blaupause des gesamten Universums“ (S. 225).

Dabei weiß er um die stochastische Struktur der mathematischen Sprache, wie er anhand der Heisenbergschen Unschärferelation demonstriert. Bei Zukunftsprognosen ist die differenzierte Wahrscheinlichkeitstheorie adäquater Ausdruck der relativen Sicherheit von Voraussagen, Das gilt im übrigen auch und zumeist für Prognosen im sozialwissenschaftlichen Bereich.

Für die zukünftige Entwicklung der Menschheit sieht Hawking zwei Möglichkeiten:

Erstens die Erkundung des Weltraumes mit dem Ziel, alternative Planeten zu finden, auf denen wir leben können, und zweitens der gezielte Einsatz Künstlicher Intelligenz zur Verbesserung unserer Welt.“ (a.a.O. S. 229) Dieser Optimismus negiert nicht die Möglichkeit der Selbstzerstörung bzw. Selbstvernichtung, aber er „träumt“ von globalen Problemlösungen; z.B. neue Energiequellen wie die Fusionsenergie: „Kernfusion würde zu einer praktischen Energiequelle und uns – ohne Umweltverschmutzung oder globale Erwärmung – mit einem unerschöpflichen Vorrat an Energie versorgen.“ (S. 237)

Für diese Zukunftsprognosen gibt es – bei allem Optimismus – gute Gründe. Schwieriger wird es, das zukünftige Verhältnis bzw. die Art der Symbiose von Künstlicher Intelligenz und menschlichem Organismus zu klären. (Im Wörterbuch meines Buchprojektes werde ich zum Verhältnis von KI und menschlichem Organismus Stellung nehmen.)

Ungeklärt bleibt bei Hawking das Verhältnis von „Gedankenexperiment“ und der „Problemlösungsstruktur“ konkreter Menschen. Wie müssen wir uns den Menschen bzw. das menschliche Team vorstellen, die sich (in einem Gedankenexperiment) mit Lichtgeschwindigkeit (auf einem Lichtstrahl) durch das Universum bewegen oder in einem „Schwarzen Loch“ verschwinden bzw. wieder auftauchen?

Der Mensch wird in diesen Gedankenexperimenten nur als fiktiver Punkt, als mathematische Größe ohne Ausdehnung verstanden – der Mensch als fiktiver Punkt auf seiner (!?) Reise durch das Universum. Der Mensch, die Menschengruppe, zu einem bestimmten Zeitpunkt degenerieren zu einer mathematischen Konstruktionsgröße. Menschen aber sind sterbliche, komplexe Organismen (in komplizierten, historisch veränderten Organisationsformen), die, wenn auch individuell begrenzt und historisch verändert, zu Organisationsformen, zu nachdenkender Reflexion und Dokumentation ihrer jeweiligen Ergebnisse fähig sind.

In Analogie zur „Unschärferelation“ in der Mikrophysik gefragt: Was bleibt, wenn eine präzise Trennung zwischen Beobachter (als menschlicher Organismus/als menschliche Organisation) und prognostiziertem Prozessablauf nicht möglich ist? Welche „Objektivität“ haben die vermuteten Gesetzmäßigkeiten? Wie beeinflussen/verändern die jeweiligen Zustände den (beobachtenden) menschlichen Organismus? Oder steckt in allen Zukunftsvorstellungen (Prognosen) ein implizierter, unaufgeklärter Dualismus zwischen Geist und Leib? Der aufgeklärten Realität selbst denkender Organismen, die individuell sterblich sind, und vorläufiger Organisationen werden Gedankenexperimente, wie sie auch Stephen Hawking aufstellt, nicht gerecht. Ich halte an der Aussage von Hannah Arendt fest, dass der Mensch ein „sterblicher Schöpfer“ ist und nur in dieser Struktur – in diesem „Menschenbild“ gemeinsam Probleme lösen kann.

Der Papst steht Kopf

Wie sein Geheimbesuch in Münster in Westfalen das Weltbild der römisch-katholischen Kirche radikal veränderte – Eine skurrile Aufklärungsgeschichte

Vorbemerkung: diese folgende „skurrile Aufklärungsgeschichte“, eine fiktive Glosse mit „biografischen Einsprengseln“, ist eine Vor-Veröffentlichung. Ich plane, sie – statt eines Nachwortes – in meinem neuen Buch „Aufgeklärter Realismus. Leitfaden zu einem zeitgemäßen Welt- und Menschenbild als Grundlage für eine dreifache Theorie des menschlichen Wissens, des verantwortlichen Handelns und des utopischen Hoffens“, das im Spätherbst dieses Jahres (2019) erscheinen soll, zu veröffentlichen.

Im Folgenden schreibe ich auf, wie ich dieses imaginäre Ereignis aufgearbeitet habe. In der obigen Überschrift meines Berichtes wird die Tendenz schon deutlich: Der Papst steht Kopf. Wie sein Geheimbesuch in Münster in Westfalen das (sein?) Weltbild der römisch-katholischen Kirche radikal veränderte.

Es ist kein Zufall, denn den gibt es nicht (casus non datur), und grenzt fast schon an ein Wunder (und daran glaube ich nicht), dass ich in meinem Alter von weit über 70 Jahren – obwohl dieses Alter die Kommunikation mit dem Bischof von Rom erleichterte – die einmalige Gelegenheit hatte, den Bischof von Rom, den ein Teil der Christen als sog. Oberhaupt anerkennt, für einen Tag durch die Stadt Münster zu begleiten und das Wahrgenommene – von mir ausgewählt – zu kommentieren.

Ich nenne das Ergebnis oder die Wirkung meiner eigenwilligen Stadtführung vorweg, um traditionelle Leserinnen und Leser, wenn es die dann gibt, nicht zu sehr zu irritieren: Es gelang, nein, nicht mir, sondern der Macht der reflektierten Wahrnehmung, das Weltbild des Bischofs von Rom, und damit das Menschen- und Weltbild der römisch-katholischen Kirche umzukehren, vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Ich phantasiere, der Bischof von Rom, also das von den Mitgliedern der römisch-katholischen Weltkirche (mehr oder weniger) anerkannte Oberhaupt, wäre zu einem unvermuteten Kurzbesuch inkognito in Münster eingetroffen und ich hätte die Aufgabe, ihm als ein sachkundiger Stadtführer und aufgeklärter Christ innerhalb eines Tages drei Dokumente aus der Geschichte und Gegenwart dieser Stadt zu zeigen und zu erläutern; einer ehemals fürstbischöflichen Stadt der Friedensverhandlungen zu Ende des Dreißigjährigen Krieges mit weitreichenden Konsequenzen; einer Stadt mit (ehemals) katholischem Milieu, die nie reformiert und aufgeklärt wurde.

Ich würde mit dem Bischof von Rom die Astronomische Uhr im Paulusdom besuchen, die Besonderheiten des Lambertikirchturms erklären – inklusive zweier Abstecher in den Friedenssaal des Rathauses und in das Stadtmuseum am Ende der Salzstraße –, und abschließend in der (ehemaligen) Dominikanerkirche verweilen, um anhand des Foucaultschen Pendels in der künstlerischen Fassung von Gerhard Richter die heutige Menschen- und Weltsicht erklären.

Mein Ziel, meine Intention des folgenden Berichtes mit Reflexion ist also, das Menschen- und Weltbild des Papsttums der römisch-katholischen Kirche vom Kopf auf die Füße zu stellen. Vor der Niederschrift meines Berichtes kann ich noch einige Marginalien klären, die meinem Bericht eine ausreichende Plausibilität verleihen.

Wir waren am Morgen vor der Bischöflichen Residenz auf dem Domplatz verabredet. Er hatte darum gebeten, von keiner örtlichen Geistlichkeit oder lokaler wie nationaler Politikprominenz begleitet zu werden. Auch ich war gebeten worden, alleine zu erscheinen; vor allem die Medien nicht zu informieren. So stand der Bischof von Rom im schwarzen Anzug ohne römischen Kragen im Vorhof des bischöflichen Palais, begleitet von seiner Sekretärin (ohne Ordenskleid) und seinem Sekretär in ziviler Kleidung (vielleicht ein Sicherheitsbeamter der päpstlichen Garde).

Bei einem Vorgespräch mit seiner Sekretärin im Campo Santo Teutonico im Vatikan – dazu war ich überraschenderweise eingeladen worden – hatten wir ein Erkennungszeichen vereinbart: seine Anzugsjacke zierte ein kleines Petruskreuz; das hatte ich nicht ohne Hintergedanken vorgeschlagen, obwohl bei seiner Medienpräsenz nicht notwendig; stattdessen Sonnenbrille und ein weitkrampiger Stohhut. Auch ich war in schwarz; nichts besonderes, sondern bei mir oft üblich. Auf dem Revers meiner Jacke klebte ein kleines Fischsymbol (mit den griechischen Großbuchstaben: ICHTYS).

Durch welche Indiskretion oder welches Missverständnis ich zu dieser ungewöhnlichen Stadtführung eingeladen wurde, weiß ich nicht. Manche werden das Verb „einladen“ durch „auserwählen“ ersetzen wollen und ihren Neid kaum verbergen können. Ich war zutiefst überrascht. Die Ordensschwester und Sekretärin, die ich auf meinen Wunsch hin im Campo Santo Teutonico im Vatikan traf, verriet nur soviel: man wisse, dass mein Studium in Freiburg im Breisgau durch die Stiftung der deutschen Bischöfe gefördert worden sei (meine Doktorarbeit wurde dann durch ein Stipendium des Landes NRW unterstützt) und ich vor kurzem ein Buch über das Verhältnis von Christen und Atheisten veröffentlicht hätte. Auch sei ich meinem Taufgelöbnis (das meine Großeltern für mich abgegeben haben) trotz aller Distanzierung treu geblieben und hätte bis zum Rentenalter katholischen Religionsunterricht erteilt. Und da ich mich mit der Täuferbewegung in Münster intensiv und öffentlich beschäftigt habe, würde ich nun gebeten, den Papst in einer geheimen Mission zu unterstützen. Der Papst zähle auf meine Verschwiegenheit.

Demgegenüber verwies ich auf meine langjährige Distanzierung zur Praxis der Kirche, die mit gutem Grund als Kriminalgeschichte zu deuten sei. Daher hätte ich auch den Deutschen Friedhof im Vatikan als Treffpunkt ausgewählt, denn vor längerer Zeit sei der Leiter, ein deutscher Prälat, der zuvor Leiter des Cusanuswerkes war, wegen dunkler Geschäfte „aus dem (öffentlichen) Verkehr“ gezogen worden. Sie entgegnete, immerhin hätte ich unter seiner Leitung drei Wochen lang hier in Rom eine Akademie besucht. Ich schwieg und wunderte mich nicht über die exakten biografischen Vorermittlungen, sondern gab meine Zustimmung.

Aber einen Wunsch meinerseits bat ich weiterzuleiten: auch weil es sich um einen geheimen Besuch handele, würde ich den Papst mit „Herr Bischof“ anreden. Denn so wie es mit Recht keine Fürstbischöfe mehr gebe, dürfe es auch keinen Papst-Titel mehr geben. Leider habe sich die Säkularisierung weltweit und vor allem im Vatikan noch nicht durchgesetzt.

Ich sah ihr Stirnrunzeln, aber sie versprach, meinen Wunsch weiterzuleiten. Zuvor hatte ich sie damit zu trösten versucht, dass ich ihr davon erzählte, dass ich 1963 in der Universität Münster die Vorlesung von Josef Ratzinger „Einführung ins Christentum“ mit Interesse besucht hätte. Eine Reaktion blieb aus.

Das Weltbild der Astronomischen Uhr im Dom zu Münster: Die zerbrechende Einheit von Astrologie und Astronomie – Zum Verhältnis von Chronos und Kairos

Leicht verunsichert, ob nicht doch die Presse uns umzingeln würde, gingen wir auf den Dom zu und erreichten durch das Paradies, die Vorhalle, den südlichen Chorumgang und blickten auf die dreiteilige Schauwand der Astronomischen Uhr.

Die nach der Zerstörung durch die Täuferbewegung 1540 wiederhergestellte Uhr unterstellt einerseits das theozentrische Weltbild mit christologischer Perspektive, erlaubt andererseits eine chronologisch exakte Zeitbestimmung auf der Erde wie den Lauf der Planeten. Diese Konstellationen konnten also den Stand der Planeten am Himmel während eines bestimmten Zeitpunktes fixieren und – im Sinne der Astrologie – bewerten. Astronomie und Astrologie bildeten eine auch von der Kirche akzeptierte , wenn auch zunehmend zerbrechende Einheit. Der Stand der Gestirne am Himmel erlaubte eine auch prognostische Bewertung der irdischen Abläufe. Wobei der Ablauf der Geschichte auf der Erde durch den Kreislauf der Jahreszeiten geprägt war – und nur einmal im Jahr – in der Silvesternacht – musste der Jahreszeiger von Menschenhand bewegt werden. Die Messbarkeit und Wiederkehr der Himmelsmechanik schien die Stabilität der chronologisch ablaufenden Geschichte auf der Erde zu sichern. Noch korrelierten Kosmologie und menschliche Herrschaft miteinander und die christliche Kirche war der Garant dieser Stabilität Reform und Revolution waren in diesem Weltbild nicht (oder nur insgeheim) denk- und realisierbar; Reformation, Umsturz und Aufklärung blieben „außen vor“.

Meine Gäste stehen staunend vor diesem Kunstwerk und seiner bis heute ablaufenden Mechanik; aber ich gebe zu bedenken, schon wenige Jahre vor dieser Neukonstruktion stellten die Täufer diesen Ablauf radikal in Frage; wenn auch in Form einer chronologisch vorgestellten endzeitlichen Apokalyptik. Und die Reformatoren hinterfragten die Stabilität dieser Konstruktion und die Berechtigung der christlichen Kirchen, diese Konstruktion zu legitimieren.

Wer den Dombezirk verlässt und sich dem bürgerlichen Stadtbezirk mit seinem Prinzipalmarkt nähert, kann die spätgotische Lambertikirche mit ihrem heutigen Turm (vom Ende des 19.Jahrhunderts) nicht übersehen.

Stigmata am heutigen Lambertikirchturm: Schiller, Goethe und die Käfige der hingerichteten Täufer. Der spezifische Umgang mit der missachteten Aufklärung: zwischen Possenspiel (Stadtmuseum am Ende der Salzstraße, Säulenkapitelle an der Rathausfassade) und Friedenskompromiss (Friedenssaal des Rathauses)

Ich erläutere, dass Ende des 19. Jahrhunderts der baufällig gewordene Kirchturm abgerissen wurde, und ein neuer Turm entstand, gegen den Wunsch der preußischen Obrigkeit ein Imitat des Freiburger Münsters. Vor allem die drei abgelassenen Eisenkäfige, in denen die Körperteile der hingerichteten Anführer des Täuferreiches den Vögeln zum Fraß ausgesetzt und den Bürgerinnen und Bürgern zur Abschreckung und Warnung ausgestellt worden waren, wurden wieder – allen sichtbar – hochgezogen. Daran änderte auch das Possenspiel nicht, das Professor Landois, exkommunizierter Priester und Darwinist, Gründer des Münsteraner Zoos und später zu einem Münsteraner Original stilisierter Zoologe, veranstaltet hatte. Er ließ drei weitere Eisenkäfige nachbauen und behauptete, diese seien die echten. Heute sind diese Resultate der Possenspielerei im Stadtmuseum am Ende der Salzstraße zu bestaunen. Dieser verharmlosende, touristenattraktive Umgang mit der Geschichte hat in Münster, der katholischen Metropole des Münsterlandes Tradition; daran ändern auch die in den Käfigen angebrachten, der Kunst verpflichteten „Irrlichter“ nicht. Und das regelmäßige Trompetensignal der (städtisch angestellten) Trompeterin mochte vor Feuersbrunst in früheren Zeiten schützen, aber den Schlaf der Münsteraner Bürgerinnen und Bürger stört es bis heute nicht.

Mehr oder weniger versteckte Elemente der Possenspielereien konnte ich meinen Gästen zeigen: zwei der in Stein gemeißelten Heiligenfiguren im Westportal erinnern in ihren Gesichtern an Schiller und Goethe, ein Säulenkapitell am nach dem Krieg wiederhergestellten Renaissance-Rathaus zieren Köpfe der auf dem Prinzipalmarkt hingerichteten Täuferführer, und im Stadtmuseum ist neuestens, in kleine Flaschen verpackt, Taufwasser der Täufer zu kaufen: hochprozentiger klarer Schnaps.

Die Verwunderung meines Inkognito-Gastes nahm zu und er murmelte etwas von italienischen Verhältnissen, die er im Münsterland nicht vermutet habe. Aber meine voreilige Interpretation des spezifischen Umgangs mit der gefürchteten Obrigkeit und der missachteten Aufklärung beeindrucke nicht weiter. Während wir nach einem Umweg in den Friedenssaal zu Ende des Dreißigjährigen Krieges Richtung ehemaliger Dominikanerkirche gingen, erzählte ich von den vergeblichen Einsprüchen der päpstlichen Delegation, dessen Leiter später Bischof von Rom (und damit Papst) wurde: Die Niederlande erhielten ihre garantierte Unabhängigkeit und das Recht der freien Religionsausübung. Und eine einmalige „Absonderlichkeit“ des Friedensvertrages, die Nachbardiözese Osnabrück betreffend, musste ich erwähnen: die dortigen Fürstbischöfe waren – bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, also bis 1803, abwechselnd katholisch oder evangelisch.

Wie der römische Papst in der Dominikanerkirche die Erdrotation erfuhr, die leibliche Himmelfahrt als symbolische Täuschung erkannte und als aufgeklärter Bischof in seine römische Diözese zurückkehrte.

Höhepunkt und Abschluss meiner außergewöhnlichen Stadtführung war der Aufenthalt in der Dominikanerkirche mit der durch Gerhard Richter künstlerisch gestalteten Installation des Foucaultschen Pendels. Ich war überrascht, dass er, der vor Jahren auch in Deutschland studiert hatte, die Wirkung dieses Pendels (aus dem Deutschen Museum in München) kannte, und mir, nachdem ich die unterschiedlichen Weltbildvorstellungen zwischen dem barocken Hochaltarbild der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel aus dem Jahre 1708 (das hinter einer eisernen Gittertür zu sehen ist), und der nur indirekt erfahrbaren Erdrotation, die uns alle trifft und betrifft, offen zugab, das Weltverständnis, das dem Mariendogma von 1950 zugrunde läge, sei für einen aufgeklärten Menschen nicht mehr versteh- und vermittelbar. Und das habe auch Konsequenzen für ein aufgeklärtes Menschenbild. Seine Sekretärin – die unerkannte Ordensschwester – wollte immer noch nicht glauben, dass sie, auf dem Erdboden stehend, um das gleichschwingende Pendel rotierte. Der Bischof von Rom scherzte noch, dass er nicht 30 Stunden Zeit habe, das Pendel zu umkreisen,

bedankte und verabschiedete sich, und verschwand mit seiner Begleitung im Dienstwagen Richtung Flughafen.

p.s.

Wenn ich mich nicht getäuscht habe, ist in naher Zukunft eine Enzyklika zum Thema Säkularisierung, Aufklärung und Menschenwürde durch den Bischof von Rom zu erwarten.

Übrigens wäre das Petruskreuz am Revers seines Anzugs umdrehbar. Den legendären Petrusakten nach wurde Petrus nach seiner Verhaftung kopfüber gekreuzigt. Er habe seinen Wunsch damit begründet, dass er nicht würdig sei, auf die gleiche Weise wie Christus zu sterben.

Die konkrete Utopie der Erlösung als „Entäußerung“ (Kenosis)

Im Bedenken und Übersetzen (als Versuch) eines urchristlichen Hymnus, den Paulus, der sich wahrscheinlich in Rom im Gefängnis befindet (um das Jahr 59/60 n.Ch.) und der sich als Sklave des Christus Jesus bezeichnet, in seinem Brief an seine Freunde in Philippi (Makedonien), die er als die Heiligen des Christus Jesus kennzeichnet, zitiert (Phil 2, 5-11):

Dies sinnt bei euch, was auch in Christos Jesus, der, als er in Gestalt Gottes war, nicht für Raub hielt das Sein gleich Gott, sondern sich selbst entäußerte, Gestalt eines Sklaven annehmend, in Gleichheit von Menschen geworden; und im Äußeren erfunden wie ein Mensch, demütigte er sich selbst, geworden gehorsam bis zum Tod, zum Tod aber (des) Kreuzes. Deshalb auch erhöhte ihn Gott und schenkte ihm den Namen, der über jedem Namen (ist), damit im Namen von Jesus jedes Knie sich beuge, (der) Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne: Herr (ist) Jesus Christos zur Herrlichkeit Gottes (des) Vaters.“

(Studienübersetzung Münchener Neues Testament, Düsseldorf 1998, 5.A.)

Übersetzung des Urtextes (Koine-Griechisch) ins Deutsche 2007; Zürcher Bibel:

Niedrigkeit und Erhöhung Christi
Seid so gesinnt, wie es eurem Stand in Christus Jesus entspricht:
Er, der doch von göttlichem Wesen war,
hielt nicht, wie an einer Beute daran fest,
Gott gleich zu sein,
sondern gab es preis
und nahm auf sich das Dasein eines Sklaven,
wurde den Menschen ähnlich,
in seiner Erscheinung wie ein Mensch.
Er erniedrigte sich
und wurde gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz.
Deshalb hat Gott ihn auch über alles erhöht
und ihm den Namen verliehen,
der über allen Namen ist,
damit im Namen Jesu
sich beuge jedes Knie,
all derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind,
und jede Zunge bekenne,
dass Jesus Christus der Herr ist,
zur Ehre Gottes, des Vaters.

Wer war Paulus von Tarsus (Kilikien; heute südl. Türkei)?

P. war, soweit wir heute wissen, ein griechisch gebildeter jüdischer Gelehrter, wie (damals üblich) auch ein ausgebildeter Zeltmacher, Anhänger des messianischen Judentums seiner Zeit, Römischer Bürger, Kenner der hellenistischen Philosophie seiner Zeit, Bekenner des Messias Jesus aus Nazaret, Botschafter und erster Theologe des Urchristentums, das sich „weltweit“ (also im Römischen Reich) entwickelte.

In diesem Hymnus wird auf sehr spezielle und konkrete Weise die „Menschwerdung Gottes“ im und durch den „Messias Jesus“ aus Nazaret verkündet, natürlich unter den Erfahrungen und Bedingungen eines theozentrischen (wie auch durch das römische Reich geprägten) Weltbildes.

Mein Problem und meine Frage ist: wie kann die Botschaft des Paulus, und insbesondere der von ihm zitierte „Hymnus“ sinnvoll unter den Bedingungen der anthropozentrischen Welterfahrung und den bewährten Methoden moderner Problemlösung („als wenn es Gott nicht gäbe“), also im „Zeitalter der Aufklärung und Wissenschaft“ übersetzt und verstanden werden?

Ich setze voraus (was ich anderswo erläutert habe), dass unter den Bedingungen der Aufklärung (Kritik jeder Metaphysik, Religionskritik, Sprachkritik) „Erlösung“ der Welt (als Grenzerfahrung allen vorläufigen Problemlösens) denkbar und erfahrbar, aber nicht begreifbar ist. „Erlösung“ ist daher nur als „Utopie“ beschreibbar.

Ich übersetze den von Paulus zitierten „Kenosis-Hymnus“ in ein heutiges Sprachspiel. Unsere Sprachen kennen nicht nur „logische“ Sprachspiele, die widerspruchsfrei und begreifbar sind, sondern auch Sprachspiele, die die Struktur von „Oxymora“ haben und auf spezielle Weise erfahrbar sind (auch dies habe ich anderswo erläutert).

Ein erster Versuch:

Erlösung als konkrete Utopie

Ein konkreter Mensch
prophezeit das Ende der Zeit (als kairos nicht chronos),
nicht als mächtiger Herrscher (König oder Kaiser oder Führer),
der das Paradies auf Erden verspricht;
sondern als hingerichteter Verbrecher (in der Sicht und Macht der Mächtigen)
Vertrauen erwartet (ohne es erzwingen zu können oder wollen).

Wer dem Gekreuzigten als „Messias“ vertraut (pistis),
der kann befreit und ohne Zwänge denken und handeln,
der muss sich nicht den herrschenden Gesetzen der Macht anpassen,
sondern kann und muss prüfen, was gut und gerecht ist.

In diesem Sinn ist er befreit und bereit,
Gerechtigkeit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit zu realisieren.
Selbst der Tod hat keine Macht mehr über ihn,
obwohl er als Naturwesen sterblich bleibt.

Zum Verhältnis von Macht und Gewalt, Gebrauch und Missbrauch

Unkontrollierte Macht schlägt in Gewalt um. Gewalt realisiert sich in Zerstörung und Selbstzerstörung; in Hass und Vernichtung. Der Gebrauch der Macht kann in Missbrauch umschlagen; das ist der Preis der Freiheit.

Menschen sind Vernunft- und Naturwesen. Sie sind, wie Hannah Arendt sagt: sterbliche Schöpfer.

Sie können ihre Macht gebrauchen und missbrauchen. Sie allein sind verantwortlich für Verbrechen, aber auch für die Durchsetzung der Menschenwürde und Menschenrechte und die Gestaltung gerechter gesellschaftlicher Verhältnisse.

Menschen (als Vernunftwesen) haben die dauernde Verpflichtung und Aufgabe, Menschenwürde für alle und Pflege der Natur durchzusetzen. Als Vernunftwesen sind sie in der Lage und dafür verantwortlich, gerechte Lebensverhältnisse zu realisieren und Missbrauch zu verhindern bzw. einzugrenzen. Menschen sind daher dazu bestimmt (im Sinne der Selbstbestimmung), Probleme zu erkennen und zu lösen; Erlösung ist eine (notwendige) Utopie.

Ein zweiter Versuch:

Jesus Christus Erlöser (Erlösung gedacht in einer und durch eine konkrete Person), diese Botschaft (in Form einer konkreten Utopie) setzt auf Vertrauen; und dieses Vertrauen (pistis) verheißt zeitloses Leben (im Sinne des kairos). Diese konkrete Hoffnung wird existenziell erfahren und ermöglicht, Probleme in der Dynamik des Vorläufigen zu lösen.

Zwar bleiben alle Lösungswege und Ergebnisse bzw. Entscheidungen an Endlichkeit und Irrtum des menschlichen Daseins gebunden, aber in der „Nachfolge Christi“ sind sie weder Zufall noch Schicksal, das in Vernichtung oder Auflösung endet, sondern ermöglichen Korrektur und Umkehr.

Zwar wird die Differenz zwischen Erfahrung der Umkehr oder Korrektur (metanoia) und Erkenntnis des Begriffenen nicht aufgehoben, aber für die Zeit des irdischen Lebens im Lichte der Zusage des ewigen Lebens relativiert.

„Ewiges Leben“ (ein Oxymoron höchster Stufe) ist als Synonym für „Erlösung“ das entscheidende Sprachspiel eines „Christen“; es beschreibt die existenzielle Erfahrung der Zusage der Erlösung (als eines Geschenkes, das weder erkauft noch erzwungen werden kann). Die Macht dieser Zusage gegenüber den Bedingungen begenzten Lebens (als Naturwesen) kann weder aufgehoben, noch kann diese konkrete Utopie in menschlicher Sprache „begriffen“ werden. Aber dieses „Geschenk“ wurde und wird in einer radikalen Form sprachlich beschrieben, die alle theologischen Vorstellungen „sprengt“: Gott ist Liebe (theòs agápe estín).

Im ersten Johannesbrief wird der Gottesbegriff (im Lichte der Messias-Botschaft) entziffert, und die Gottesvorstellungen des theozentrischen Weltbildes werden so radikal zerlegt, dass diese Aussage auch für uns heutige Menschen verstehbar und bedeutsam sein kann: „Gott“ ist ein synsemantischer Ausdruck für konsequente Menschenliebe. So zumindest übersetze ich das Sprachspiel der „johanneischen Schule“.

p.s.

Diese Reflexion bleibt grenzwertig, da ich nicht ausreichend geklärt habe, wie das Verhältnis von begreifenden Sprachspielen und Sprachspielen, die existenzielle Erfahrungen beschreiben, sinnvoll zu klären ist. Aber dieses spezifische Verhältnis versuche ich in der „Formel“ von der Dynamik des Vorläufigen auszusprechen.

Zusammenfassende Übersetzung:

Erlösung in der Dynamik des Vorläufigen

„Jesus Christus Erlöser“ –
diese Botschaft setzt auf Vertrauen
und verheißt zeitloses Leben.

In der Dynamik des Vorläufigen
können Probleme gelöst werden;
gebunden an Irrtum und Endlichkeit.

In der Nachfolge Christi
herrscht weder Zufall noch Schicksal;
sondern Korrektur und Umkehr sind möglich.

Ewiges Leben steht für Erlösung;
Ein Geschenk, das alle frommen Vorstellungen sprengt:
Gott ist Liebe.

Kosmos, Chronos, Kairos

In-der-Welt-Sein ist immer auch In-der-Zeit-Sein. Kosmos (mundus) und Chronos entsprechen einander.

Ob die Welt einen Anfang oder ein Ende hat, ist als chronologische Frage bis heute nicht eindeutig gelöst und vielleicht nicht zu lösen. Ich unterstelle, der Kosmos ist endlos und hat deswegen auch keinen Anfang; also der kosmos ist anfangslos und endlos – chronologisch gesehen. Demgegenüber ist unser Planet Erde in unserem Sonnensystem mit allem organischen Leben endlich; hat also – in dieser Form – einen Anfang und ein Ende.

Alle Lebewesen auf dieser Erde sind sterblich, aber in der Lage, sich (ihre Art) zu reproduzieren. Der Mensch ist ebenfalls in der Lage, sich (seine Art) zu reproduzieren, sowohl genetisch, wie auch durch Entwicklung künstlicher Intelligenz. Der Mensch ist als Individuum nicht nur sterblich, er ist sich seines Sterbens bewusst. Zugleich weiß er, dass seine Gattung weiterlebt und unter bestimmten Bedingungen selbst gesteuert weiterleben kann. Er weiß um seine Geschichte, seine Herkunft und Zukunft. Und der Mensch hat die Möglichkeit, Ewigkeit zu denken (nicht missverständlicherweise als Endlosigkeit), sondern als Kairos, als Erfahrung des geglückten/glücklichen Augenblick (in Mystik, als Schweigen), jenseits chronologischer Erwartungen.

Diese Erfahrungen bleiben im endlichen Leben immer vorläufig; die Erlösung als Aufhebung von individuellem Tod und Vergänglichkeit ist eine Utopie. In einem nachmetaphysischen Weltverständnis (in einer „Welt ohne Gott“) ist die Hoffnung auf Erlösung nicht sinnlos, sondern als Utopie denkbar und in konkreten Utopien erzählbar (wenn auch grundsätzlich in der Form von Oxymora).

Daher bedarf es für ein aufgeklärtes Weltverständnis der Übersetzung religiöser Sprache und Sprachspiele. Wenn wir heutigen Menschen, zumindest in unserer Gesellschaftsformation, denken und handeln – in Wissenschaft wie im Alltag – „als wenn es Gott oder Götter nicht gäbe“, also wenn wir in Theorie und Praxis „methodische Atheisten“ sind, dann darf die notwendige Übersetzung religiöser Sprache (und Weltbilder) kein Rückfall in theozentrische Weltvorstellungen (und entsprechende Sprache) sein.

Religion verschwindet nicht aus der Gesellschaft; insofern ist die Behauptung (im Sinne einer geschichtsphilosophischen Konzeption), dass Religion (auf Dauer) verschwindet, gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der wir leben, inadäquat. Hans Joas kritisiert daher zu Recht die zugrunde liegende geschichtsphilosophische (ins soziologische gewendete) Vorstellung der „Entzauberung“ in der modernen Welt, wie sie von Max Weber konzipiert wurde.

Religion verschwindet nicht, wie eine vulgäre Vorstellung geschichtlicher Entwicklung moderner Gesellschaften unterstellt und oftmals prophezeit hat, aber das entbindet eine kritische Theorie der Gesellschaft nicht, die Funktion der Religion im allgemeinen und des Christentums im besonderen zu analysieren, denn die Grundsätze der Aufklärung, ihre Metaphysik- und Religionskritik, sowie die moderne Sprachkritik sind nicht überholt.

p.s.

Zum Kontext dieser Überlegung verweise ich auf meinen Aufsatz: „Was bedeutet strukturell Erlösung in einer Welt ohne Gott?“ in der Abteilung Religion meiner Homepage: schmitter.sifisu.org – und als Ergänzung auf mein Lehrgedicht: Metamorphose (1) – (4), Mai 2018