Vom beschränkten, aber nützlichen Bewusstsein der Rückepferde – ein Bild für die heutige Schulphilosophie

Feldwege sind eine sinnlose Metapher für schöpferische Denkbewegungen, wie sie das menschliche Bewusstsein ausüben kann. Denn im Normalfall endet der Feldweg am Beginn des Ackers oder der Wiese, die der Bauer für seine Arbeit benötigt. Alternativ führt der Feldweg am Acker vorbei oder entlang, um das schädliche Betreten des Ackers – für den Wanderer – zu vermeiden.

Im Wald sind Wege oft Holzwege, also Sackgassen, die mitten im Wald enden. Als philosophische Metapher sind sie unbrauchbar, da sie nur den Rückweg zum Ausgangspunkt erlauben.

Oft entstehen Holzwege durch die Kraft der Rückepferde, gelenkt durch den Holzfäller. Diese kaltblütigen Pferde erinnern präzise den Rückweg, wenn sie die gefällten Baumstämme aus dem Dickicht des Waldes ziehen, ohne sie zu beschädigen. Dies nenne ich das Bewusstsein der Rückepferde, für die Waldarbeiter von Nutzen. Aber als Bild für einen schöpferischen Denkweg des homo sapiens ist der Holzweg ungeeignet.

Ich denke weiter nach: oft wird gesagt, der Weg sei schon das Ziel – das ist Unsinn. Denn ein Weg, der kein Ziel hat, bleibt für das menschliche Bewusstsein ein Irrweg.

Der Holzweg entspricht dem Bewusstsein der Rückepferde; insofern nützt es den Holzfällern. Aber dieser Weg bleibt der Rückweg zum Ausgangspunkt (außerhalb des Waldes).

Der Holzweg ist ein Rückweg. Er symbolisiert keinen Fortschritt; er ist nicht zielorientiert. Aber möglicherweise kann das Erinnerungsvermögen der Rückepferde ein bildhafter Hinweis für einen notwendigen Zwischenschritt im Labyrinth des menschlichen Bewusstseins sein.

Ich unterstelle, der Holzweg ist ein Bild für die heutige (Hoch-)Schulphilosophie.

Überlegung zu Stephen Hawking: Notwendig einseitige Antworten auf große Fragen

Aus: Die kosmologische Perspektive, in: Aufgeklärter Realismus, Buchprojekt 2019

Vorbemerkung: Es handelt sich bei der folgenden Kritik um ein vorveröffentlichtes Kapitel meines neuen Buches „Aufgeklärter Realismus. Leitfaden zu einem zeitgemäßen Welt- und Menschenbild als Grundlage für eine dreifache Theorie des menschlichen Wissens, des verantwortlichen Handelns und des utopischen Hoffens“, das im Spätherbst dieses Jahres (2019) erscheinen soll.

2018 erschien – kurz nach seinem Tod – seine Schrift „Stephen Hawking: Brief Answers to the Big Questions“, London (zugleich die deutsche Übersetzung: „Kurze Antworten auf große Fragen“, Stuttgart); aus seinem persönlichen Archiv zusammengestellt und von Kollegen, Freunden und der Familie kommentiert.

Um es vorweg zusammen zu fassen: nach der Lektüre seines Vermächtnisses stelle ich fest: Die Aussagen und Prognosen dieses Naturwissenschaftlers und Kosmologen sind optimistisch, vorausblickend und dem Wissenschaftlichen Determinismus verpflichtet. Daher sind seine Antworten auf die großen Fragen notwendig einseitig.

Diese Perspektive führt dazu, dass die Antwort auf die Frage, ob es einen Gott gibt, – je nach Definition, was mit dem Wort „Gott“ gemeint ist, als sinnlos gekennzeichnet wird. Ich meine, mit Recht, wenn Gott mit Natur und ihren Gesetzmäßigkeiten gleichgesetzt werden, oder alternativ die Antworten als beliebig abgetan werden.

Der Gebrauch des Wortes „Gott“ in Religion und Gesellschaft wird nicht ideologiekritisch analysiert; das ist mit den Methoden des naturwissenschaftlichen Determinismus und seinen an der mathematischen Logik orientierten Sprachspielen auch nicht möglich. Daher spreche ich von notwendig einseitigen Antworten, die ohne die „Gott-Schöpfer-Hypothese“ auskommen – müssen.

Die ideologiekritischen, sozialwissenschaftlichen Konzepte der „Projektion“ werden nicht zur Kenntnis genommen und angewandt.

Daher kann Hawking als „methodischer Atheist“ verstanden werden; denn seine Forschungen und Prognosen haben zum Ziel, „ein rationales Bezugssystem zu finden, um das Universum, das uns umgibt, zu verstehen“ (a.a.O. S.50). Demgegenüber hat mein Projekt des „Aufgeklärten Realismus“ zum Ziel, für Wissenschaft und Gesellschaft, also für die Strukturen des menschlichen Denkens – inklusive religiöser Vorstellungen und ihrer sprachlichen Ausdrucksformen – ein rationales Bezugssystem zu finden, um die Gesellschaften, in denen wir Menschen leben und arbeiten, zu verstehen. Das meine ich, wenn ich fordere, das Projekt der Aufklärung unter heutigen Bedingungen zu Ende zu denken – und die Ergebnisse der Ideologiekritik nicht zu negieren oder zu verharmlosen.

Auch Hawkings Position des „wissenschaftlichen Determinismus“ bedarf der kritischen Prüfung. Möglicherweise verkennt er die vorgegebenen „Idealisierungen“ der Naturgesetze – schon bei der Konstruktion adäquater mathematischer Sprachspiele – und reduziert den synsemantischen Ausdruck „Gott“ auf „Natur“, ohne die wirksamen Projektionsformen in Gesellschaft und Wissenschaft wahrzunehmen.

Dennoch bin ich unsicher, Hawking einen Deisten zu nennen. Sein evolutionärer Optimismus, wie auch sein Verständnis von idealisierter Gesetzmäßigkeit kann hinerfragt werden. Der Gebrauch des Wortes „Gott“ wird beliebig (S. 64: „Wenn Sie wollen, können Sie die wissenschaftlichen Gesetze „Gott“ nennen …“), aber meine Frage bleibt, ob es einen sinnvollen Gebrauch dieses Wortes gibt; wenn nicht, sollte auf ihn verzichtet werden.

Gott“ ist also für Hawking – in meinem Verständnis – ein synsemantischer Ausdruck für die weiter zu erforschende Gesamtheit der Natur in ihrer Gesetzmäßigkeit. Auf die Frage, ob ein Gott das Universum geschaffen hat, antwortet Hawking, dass die Frage sinnlos sei. Die Entstehung und das mögliche Ende unseres Universums läßt sich aus sich erklären. Da die Zeit (im Sinne der Chronologie) wie auch der Raum im „Schwarzen Loch“ verschwinden, wie auch entstehen, ist der Gedanke an die Existenz eines Schöpfers, der das Universum schafft, sinnlos (vgl. S. 62f).

Hawking als Kosmologe ist, wie schon zuvor formuliert, ein methodischer Atheist. Seine Methode ist – in Anlehnung und Fortsetzung der Gedanken Albert Einsteins – das „Gedankenexperiment“ (vgl. a.a.O. S. 224). Die Mathematik versteht er als „Blaupause des gesamten Universums“ (S. 225).

Dabei weiß er um die stochastische Struktur der mathematischen Sprache, wie er anhand der Heisenbergschen Unschärferelation demonstriert. Bei Zukunftsprognosen ist die differenzierte Wahrscheinlichkeitstheorie adäquater Ausdruck der relativen Sicherheit von Voraussagen, Das gilt im übrigen auch und zumeist für Prognosen im sozialwissenschaftlichen Bereich.

Für die zukünftige Entwicklung der Menschheit sieht Hawking zwei Möglichkeiten:

Erstens die Erkundung des Weltraumes mit dem Ziel, alternative Planeten zu finden, auf denen wir leben können, und zweitens der gezielte Einsatz Künstlicher Intelligenz zur Verbesserung unserer Welt.“ (a.a.O. S. 229) Dieser Optimismus negiert nicht die Möglichkeit der Selbstzerstörung bzw. Selbstvernichtung, aber er „träumt“ von globalen Problemlösungen; z.B. neue Energiequellen wie die Fusionsenergie: „Kernfusion würde zu einer praktischen Energiequelle und uns – ohne Umweltverschmutzung oder globale Erwärmung – mit einem unerschöpflichen Vorrat an Energie versorgen.“ (S. 237)

Für diese Zukunftsprognosen gibt es – bei allem Optimismus – gute Gründe. Schwieriger wird es, das zukünftige Verhältnis bzw. die Art der Symbiose von Künstlicher Intelligenz und menschlichem Organismus zu klären. (Im Wörterbuch meines Buchprojektes werde ich zum Verhältnis von KI und menschlichem Organismus Stellung nehmen.)

Ungeklärt bleibt bei Hawking das Verhältnis von „Gedankenexperiment“ und der „Problemlösungsstruktur“ konkreter Menschen. Wie müssen wir uns den Menschen bzw. das menschliche Team vorstellen, die sich (in einem Gedankenexperiment) mit Lichtgeschwindigkeit (auf einem Lichtstrahl) durch das Universum bewegen oder in einem „Schwarzen Loch“ verschwinden bzw. wieder auftauchen?

Der Mensch wird in diesen Gedankenexperimenten nur als fiktiver Punkt, als mathematische Größe ohne Ausdehnung verstanden – der Mensch als fiktiver Punkt auf seiner (!?) Reise durch das Universum. Der Mensch, die Menschengruppe, zu einem bestimmten Zeitpunkt degenerieren zu einer mathematischen Konstruktionsgröße. Menschen aber sind sterbliche, komplexe Organismen (in komplizierten, historisch veränderten Organisationsformen), die, wenn auch individuell begrenzt und historisch verändert, zu Organisationsformen, zu nachdenkender Reflexion und Dokumentation ihrer jeweiligen Ergebnisse fähig sind.

In Analogie zur „Unschärferelation“ in der Mikrophysik gefragt: Was bleibt, wenn eine präzise Trennung zwischen Beobachter (als menschlicher Organismus/als menschliche Organisation) und prognostiziertem Prozessablauf nicht möglich ist? Welche „Objektivität“ haben die vermuteten Gesetzmäßigkeiten? Wie beeinflussen/verändern die jeweiligen Zustände den (beobachtenden) menschlichen Organismus? Oder steckt in allen Zukunftsvorstellungen (Prognosen) ein implizierter, unaufgeklärter Dualismus zwischen Geist und Leib? Der aufgeklärten Realität selbst denkender Organismen, die individuell sterblich sind, und vorläufiger Organisationen werden Gedankenexperimente, wie sie auch Stephen Hawking aufstellt, nicht gerecht. Ich halte an der Aussage von Hannah Arendt fest, dass der Mensch ein „sterblicher Schöpfer“ ist und nur in dieser Struktur – in diesem „Menschenbild“ gemeinsam Probleme lösen kann.

Grenzen und Möglichkeiten der Erziehung zur Selbstständigkeit und Eigenverantwortung im System Schule

Erfahrungen und Reflexionen aus dem Bereich der beruflichen Bildung junger Menschen

(Dieser Text entstand im Herbst 2009 und erschien 2010 in überarbeiteter und verkürzter Form G.Bartsch/R.Gaßmann (Hrsg.): Generation Alkopops, Freiburg 2010.)

Nach Angaben des Bildungsreports Nordrhein-Westfalen 2009 (Lander 2009) verließen im Schulabgangsjahr 2008 in NRW 14.296 Jugendliche eine allgemeinbildende Schule, ohne einen Hauptschulabschluss erreicht zu haben. Dies waren 6,4% aller 223.452 Schulabgängerinnen und Schulabgänger. Über die Hälfte (52,8%) dieser Schulabgänger besuchten zuvor Förderschulen. Insgesamt erzielten Mädchen im Durchschnitt bessere Abschlüsse als Jungen (4% zu 2,6% ohne HS-Abschluss).

Die Erfahrungen aus meinen letzten Berufsjahren als Berufsschullehrer (bis 2008) von Schülern eines Berufsgrundschuljahres (alle männlich) ergänzen diese Zahlen: Alle Schüler hatten nur den Hauptschulabschluss. Keiner hatte einen Ausbildungsplatz im dualen System gefunden. Auch die Verweildauer von mindestens 10 Jahren im „allgemeinbildenden“ Schulsystem hatte sie nicht dazu befähigt, einen regulären Ausbildungsplatz zu erlangen.

Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass Schulabschlüsse immer häufiger außerhalb des allgemeinbildenden Schulsystems erworben werden, z.B. an Volkshochschulen, in speziellen Programmen von Bildungsträgern/sozialen Trägern oder an privaten Institutionen (für 2006 13,7% Hauptschulabschlüsse im Vergleich zu 89% Fachhochschulreife und 14,5% Allgemeine Hochschulreife).

Erfahrungshintergrund meiner Ausführungen

Seit langem beschäftige ich mich theoretisch wie praktisch mit „systemischen“ Mängeln unserer (öffentlichen) Schulen und Hochschulen, wie z.B. Bluff-Techniken, Beliebigkeit der Theorie-Produktion, langfristige Erfolgslosigkeit, strukturelle Verantwortungslosigkeit, kontinuierlicher Qualitätsverlust und erhöhte Resistenz gegen Veränderung.

Praktisch habe ich in verschiedenen Projekten gearbeitet: Zur Reform der Hochschulausbildung (1974-1978 Universität Münster), 2005 bis 2008 im Modellversuch MOSEL „Modelle des selbst gesteuerten und kooperativen Lernens und die notwendigen Veränderungen in Bezug auf die Organisations- und Personalentwicklung“ – an drei Berufskollegs im Ruhrgebiet (innerhalb des Modellversuchsprogramms SKOLA).

Reflexion der Erfahrungen aus dem Modellversuch MOSEL[1]

Schülerinnen und Schüler verfügen im Laufe ihrer „Schulkarriere“ über interessengeleitete (wenn auch verinnerlichte) Verhaltensstrategien, die mit den von Lehrerinnen und Lehrern erwarteten Verhaltensweisen nicht kongruent sind. Der schulische Anpassungsprozess betrifft nicht nur die Schülerinnen und Schüler, sondern prägt auch das Verhalten der Lehrkräfte. Sie passen sich durch Ordnungsvorstellungen, Belohnungs- und Bestrafungsverhalten (z.B. in der Leistungsbenotung) und den Umgang mit allen Beteiligten im „Biotop“ Schule den Erwartungen an dieses System an.

Ein teilweise naives Theorie-Praxis-Verständnis bei der Rekonstruktion von Lernprozessen behindert wirksame Lernprozesse. In der alltäglichen Schulpraxis ist „Theorie“ oft nichts anderes als Lehrbuchwissen (inklusive Unterrichtsversuche) und Legitimationswissen (Ideologie) sowie ungeklärte Ritualpraxis (z.B. bei Unterrichtsbeginn oder der Ausgabe von Klassenarbeiten). Die Erfolgskontrolle durch Notengebung in Klassenarbeiten oder Prüfungen spiegelt nur scheinbar reale Leistungen wider. Der Widerspruch zwischen Lernerfolg in der Schule und späterem Misserfolg in Beruf und Alltag – und umgekehrt – bleibt unaufgeklärt.

Es kann mit guten Gründen bestritten werden, dass der oben genannte Anpassungsprozess für die Kompetenzentwicklung, selbst reguliert zu lernen und zu arbeiten, erfolgreich ist. Zum offenen Widerspruch kommt es im Berufskolleg, indem die dort arbeitenden Lehrkräfte oft wie selbstverständlich vom beruflichen Lernen, also von einem vorgegebenen Berufsinteresse ausgehen. Zwei unterschiedliche Strategien treffen aufeinander, kollidieren miteinander; zumindest in dem Unterricht, der sich an beruflichen Lernsituationen orientiert. Diese Brüche oder Kollisionen relativieren sich in der dualen Ausbildung, da die Auszubildenden einen Ausbildungsvertrag geschlossen haben, der für sie den Beginn einer Berufskarriere darstellt und so ein Berufsinteresse (mehr oder weniger zwingend) erzeugt. Es sei denn, die Aufnahme eines bestimmten Ausbildungsverhältnisses ist eine „Verlegenheitslösung“. Dann kollidieren bei dem einzelnen Schüler schon unterschiedliche Interessen.

In vollzeitschulischen Ausbildungen oder berufsvorbereitenden Bildungsgängen ist ein spezifisches Berufsinteresse zunächst nicht gegeben. Es muss daher erzeugt und entwickelt werden und darf nicht stillschweigend erwartet und bei Nichtvorhandensein negativ sanktioniert werden. Die Hoffnung, Schülerinnen und Schüler ohne artikulierte und kommunizierte Einsicht in ein für sich selbst akzeptiertes und erfahrenes Berufsinteresse für den Lernprozess in beruflichen Lernsituationen motivieren zu können, ist, so zeigt die Erfahrung, trügerisch. Nur durch die Aktivierung eigener Interessen mit dem Ziel, ein nachhaltiges Berufsinteresse bei den Lernenden zu entwickeln, entsteht und entwickelt sich ein subjektgesteuerter Lernprozess. Hierin steckt die Schwierigkeit, aber auch die Lösungsperspektive des Problems, Lernen als „Holschuld“ und nicht mehr als „Bringschuld“ der Lehrkräfte zu bestimmen.

Die im Bildungsgang der zweijährigen Berufsfachschule im Berufsfeld Sozial- und Gesundheitswesen (Paul-Spiegel-Berufskolleg Dorsten) gemachten und dokumentierten Erfahrungen greifen Tramm und Naeve (2007) auf, um die notwendige Abkehr von einem „naiven didaktischen Naturalismus“ zu begründen und zu explizieren. Gerade wenn es um Selbstorganisation in Bildungsprozessen geht, sind systematische Förderung und die Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen notwendig, denn „lernförderliche authentische Situationen sind nicht einfach naturwüchsig vorzufinden“. Es geht um die Vermeidung von Beliebigkeit und um die sachgemäße und anspruchsvolle Modellierung kompetenzförderlicher Problemsituationen. Sowohl die Entscheidung darüber, woran gelernt werden soll, als auch die Gestaltung lernförderlicher Problemsituationen müssen in der Kompetenz professionell Lehrender liegen (Tramm & Naeve 2007). Dies ist gerade bei der Planung und Durchführung vollzeitschulischer Bildungsgänge relevant. Problemsituationen müssen so ausgewählt und geplant werden, dass sie lösbar sind, keine Überforderung darstellen, kompetenzförderlich und bildungsrelevant sind.

Ein weiteres Element des Konzepts ist die Erzeugung und Entwicklung von Berufsinteresse. Wie sonst ist eine erfolgreiche Entwicklung beruflicher Kompetenz möglich? Wenn dieses Konzept beruflichen Lernens und Lehrens – den Möglichkeiten nach – erfolgreich ist, dann ergeben sich weitreichende schulpolitische Konsequenzen, z.B. für die Förderung und das sog. „Nachholen“ allgemeiner Abschlüsse im Berufskolleg, in dem junge Erwachsene lernen. Individuelle Förderung in den verschiedenen Bildungsgängen ist demnach keine Fortsetzung individueller Förderung in der Grundschule und den Schulen der Sekundarstufe I, sondern eine neue Möglichkeit, auf der Basis beruflicher Kompetenzentwicklung gefördert zu werden. Berufliches Lernen, sowohl als duale Ausbildung mit mehreren Lernorten (Ausbildungsbetrieb, Berufskolleg, überbetriebliche Ausbildungsstätte) als auch vollzeitschulische Ausbildung (Berufskolleg mit Werkstätten für die Fachpraxis, Betriebspraktika), ermöglicht berufliche Qualifikationen verschiedener Art und die Kompetenz, sich selbstständig weiterbilden zu können. Ist die Entwicklung beruflicher Kompetenz, die kommunikative und soziale Kompetenz einschließt, in einem bestimmten Maß erfolgreich erreicht und dokumentiert (durch Berufsabschlüsse unterschiedlicher Art oder auch Teilqualifikationen), kann die jeweilige Gleichwertigkeit in Bezug auf bisher nicht erhaltene Schulabschlüsse (Hauptschulabschluss, Fachoberschul-, Fachhochschul- und Allgemeine Hochschulreife) festgestellt und anerkannt (zertifiziert) werden.

Die erfolgreiche Anerkennung von Schulabschlüssen ist daher nicht als Resultat der Wiederholung bisheriger Lerninhalte und Methoden misszuverstehen, sondern die formale Anerkennung, im Medium der Beruflichkeit erfolgreich und damit auch eigenverantwortlich gelernt zu haben. Lernprozesse dieser Art sind Bildungsprozesse. Vermutlich trüge diese Art von Lernerfolg auch dazu bei, die Abbruchquoten in der Fachhochschul- und Hochschulausbildung zu senken. Zu bedenken bleibt: Mentalitäten sind – soziologisch gesehen – habituelle Verhaltensweisen, die weder durch Entschluss noch durch Motivation oder Lernmethoden kurzfristig zu ändern sind. Die gesamte Lernumgebung ist neu zu gestalten, die Ausbildung der Lehrenden – inklusive der Aufarbeitung beruflicher Erfahrung – grundsätzlich zu reformieren. Die Erzeugung, Entwicklung und Erfahrung von Berufsinteresse ist daher von großem Nutzen.

Schlussfolgerungen und Vorschläge

Selbstorganisiertes, „eigenverantwortliches“ Lernen ist für berufliches Lernen konstitutiv, um erfahrungswissenschaftlich geprägtes Können zu erzeugen (Neuweg 2005) und zu reflektieren (Kutschka 2008). Empfundene Beliebigkeit gegenüber beruflich relevanten Problemsituationen und bestehendes Desinteresse gegenüber den Anforderungen des beruflichen Lernfelds kann bei den Lernenden nicht durch – noch so gut gemeinte – Motivierungskonzepte verändert werden, sondern verlangt ein anspruchsvolles Gesamtkonzept professionellen Lehrens und Lernens.

Wenn nach den Grenzen und Möglichkeiten der Erziehung zur Selbstständigkeit im System Schule gefragt wird, dann muss empirisch geprüft werden:

Erstens, ob beim schulischen Lernen Verhaltensweisen positiv und nachhaltig verändert werden können.

Zweitens, ob bestehende Entwicklungsstörungen (z.B. aus der Kindheit bzw. aufgrund der Familiensituation) durch die Schule überhaupt abgebaut werden können, so dass auch außerhalb der Schule dauerhaft Selbstständigkeit und Eigenverantwortung praktiziert werden können (Stichworte: soziales, selbst reguliertes Lernen).

Und drittens, ob der systemische Zusammenhang des Lernortes Schule von Lehrenden wie Lernenden erkannt und bearbeitet wird, um Fehleinschätzungen zu vermeiden und wirksam handeln zu können (Stichworte: Wechselwirkung von Lernhandlung und Lernumgebung, Rolle der Lehrkräfte, Wirksamkeit der Erfolgskontrollen).

Um das Lernziel der Selbstständigkeit zu erreichen plädiere ich für folgende Maßnahmen:

  • Problemlösendes Lernen in (beruflichen) Lernsituationen, statt in Schulfächern.
  • Erfolgskontrolle durch Selbst- und Fremdevaluation z.B. durch konsequentes Arbeiten mit dem Lerntagebuch (Portfolio).
  • Nichtsprachliche Lernmethoden (z.B. durch Visualisierungen oder Rollenspiele, um Wünsche zu erkennen oder Tagträume in der Gruppe wahrzunehmen). Die Ausbildung der Lehrkräfte z.B. in Wahrnehmungspsychologie ist bislang mangelhaft.
  • Berufsinteresse entwickeln, statt Motivationstricks anzuwenden (Bildung im Medium der Beruflichkeit) Lernumgebungen verändern, um eigenverantwortliches Lernen zu fördern.
  • Vollständige Lernhandlungen durchführen und evaluieren, statt Lernprozesse dadurch unwirksam zu machen, dass sie voreilig und vorzeitig abgebrochen werden (Ein mögliches Beispiel ist das Arbeiten/Lernen in der sog. „Produktionsschule“).

Darüber hinaus sind zwei Erkenntnisse für selbst reguliertes und selbstbewusstes Lernen und Arbeiten junger Erwachsener konstitutiv:

Alle Lehrkräfte müssen professionell beratungskompetent sein bzw. werden, um die oben genannten Lernprozesse begleiten zu können.

„Gleichwertigkeit“ beim Nachholen von Schulabschlüssen von jungen Erwachsenen (in beruflichen Lernfeldern) ist nicht das Wiederholen des „gleichartigen“ Lernstoffes der Sekundarstufe I.

Literatur

Kutscha, Günther (2008). Beruflichkeit als regulatives Prinzip flexibler Kompetenzentwicklung – Thesen aus berufsbildungstheoretischer Sicht, in: bwp@, Ausgabe 14 (www.bwpat.de)

Lander, Bettina (2009). Bildungsreport Nordrhein-Westfalen 2009. Statistischen Analysen und Studien, Bd. 63. Information und Technik Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

Neuweg, Georg Hans(2005). Implizites Wissen als Forschungsgegenstand, in: Rauner, Felix (Hrsg.): Handbuch der Berufsbildungsforschung, Bielefeld, S. 581 ff

Schmitter, Jürgen (2007a) Die Bildungsgangarbeit des Modellversuches MOSEL, in: F.-W. Horst/J. Schmitter/J. Tölle, Hrsg.: Lernsituationen unter dem Fokus selbst gesteuerten und kooperativen Lernens – Wie MOSEL Probleme löst, Bd. 2, Paderborn, S. 11ff

Schmitter, Jürgen & Weber, Norbert (2007b). Schülerinnen und Schüler zu professionellem Lernen verleiten, in: F.-W. Horst/ J. Schmitter/J. Tölle, Hrsg.: Lernarrangements wirksam gestalten (Wie MOSEL Probleme löst, Bd.1), Paderborn S. 12ff

Schmitter, Jürgen & Weber, Norbert (2008). Schulleitungshandeln: Balance zwischen Innovation und Funktion – Erfahrungen und Maßnahmen aus dem Modellversuch MOSEL, in: Diesner/Euler/Pätzold/Thomas/von der Burg, Hrsg.: Selbstgesteuertes und kooperatives Lernen. Good-Practice-Beispiele aus dem Modellversuchsprogramm SKOLA, Paderborn, S. 271ff

Schmitter, Jürgen & Tölle, Jens (2008). Notwendigkeit und Möglichkeit der Entwicklung von Berufsinteresse in vollzeitschulischen Ausbildungsgängen des Modellversuchs mosel, in: Diesner/Euler/Pätzold/Thomas/von der Burg, Hrsg., a.a.O., S. 247ff

Tramm, Tade & Naeve, Nicole (2007). Auf dem Weg zum selbstorganisierten Lernen – Die systematische Förderung der Selbstorganisationsfähigkeit über die curriculare Gestaltung komplexer Lehr-Lern-Arrangements, in: bwp@, Ausgabe 13 (www.bwpat.de)

Weitere Literaturhinweise

Fuchs, Carina (2005). Selbstwirksam lernen im schulischen Kontext, Kennzeichen – Bedingungen – Umsetzungsbeispiele, Bad Heilbrunn

Karsten, Maria-Eleonora (2005). Evaluation beruflicher Kompetenzentwicklung in der Erzieherausbildung, in: Rauner, Felix (Hrsg.): Handbuch Berufsbildungsforschung, Bielefeld, S. 501ff

Lisop, Ingrid & Schlüter, Anne (Hrsg.) (2009). Bildung im Medium des Berufs?, Frankfurt/Main

Neuweg, Georg Hans (2006). Das Schweigen der Könner – Strukturen und Grenzen des Erfahrungswissens, Linz

Schmitter, Jürgen (1992). Den aufrechten Gang lernen? Das Projekt Gesellschaftkritische Wissenschaftstheorie als Experiment zur Reform der Hochschulausbildung, in: W. Blumberger/D. Nemeth (Hrsg.), Der Technologische Imperativ. Philosophische und gesellschaftliche Orte der Technologischen Formation, München/Wien

Schmitter, Jürgen (2004). Modernisierung der Bildung, Essen 2004

Schiefele, Ulrich, Wild, Klaus-Peter (Hrsg.) (2000) Interesse und Lernmotivation – Untersuchungen zu Entwicklung, Förderung und Wirkung, Münster, New York u.a.

  • [1] Schmitter, Jürgen 2007 und 2008