Reflexionen in Erinnerung an die Ostseekreuzfahrt im August 2018

Der Sturm auf den Winterpalast – zweifach

Hegel, so wird Karl Marx zitiert, bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Ich vermute, die Wirklichkeit kann komplizierter und komplexer sein.

Als Beispiel nenne ich die Geschichte des zaristischen Winterpalais in St. Petersburg: 1917 wurde es innerhalb der Russischen Revolution von den Bolschewiki übernommen; später hochstilisiert als „Sturm auf den Winterpalast“. Im August 2018 erlebte ich die Eroberung der Eremitage durch den Massentourismus; denn heute ist der Winterpalast – in all seiner goldenen Pracht – Teil der Eremitage, des größten Kunstmuseums – weltweit. War das Geschehen 1917 eine „Tragödie“ und der heutige – mehr oder weniger gesteuerte Massenansturm von Touristen und Touristengruppen – in ihren zahllosen Bussen – eine „Farce“?

Die Entmachtung der Kerenski-Regierung verlief relativ problemlos, auch wenn der Kreuzer „Aurora“ im Hafen einige ungezielte Schüsse abgab; sprachlich „aufgeputscht“ in Anlehnung an den „Sturm auf die Bastille“ zu Beginn der Französischen Revolution. Und das heutige „Durchschleusen“ von zahllosen Touristen hat mit Kunstbetrachtung und Museumspädagogik nichts zu tun, sondern erlaubt bestenfalls ein Dauerstaunen über die Prachtentfaltung und ängstliche Blicke, um die eigene Gruppe (Nr. 6 rot oder Nr. 76 weiß) nicht aus den Augen zu verlieren.

Auch ich werde mein Verhalten später rechtfertigen: Das muss man gesehen haben. Der Zweck heiligt die touristischen Zwangsmittel. Und wie bemerkte der ältere, perfekt deutsch sprechende Reiseführer, als er die Namensänderungen dieser wunderschönen Stadt auf satirische Weise kommentierte: in einigen Jahren sehen wir uns in „Putingrad“ wieder.

Mister Bitter Lemon, der schlafende Zieten

Ich liebe nachmittags an Bord den kleinen Beobachterstatus: Eckplatz, rückenfrei, Blick aufs Meer, Blick auf die wenigen, vorbeigehenden Mitreisenden und den eilfertigen, überfreundlichen Steward. Das war für mehrere Tage mein Aufschreiberplatz in der Galerie neben dem Captains-Club auf dem Promenadendeck. Der Blick aufs Meer wirkte sich sich beruhigend aus; meine Gehirnzellen konnten konzentriert arbeiten, während die Augen sich zeitweilig schlossen – soweit meine Selbstwahrnehmung.

Der Steward schreckte mich auf: „Hallo, Mister Bitter Lemon“, denn er wusste, was ich am Nachmittag trinke, um meine Konzentration zu festigen. Am Horizont sah ich einige Schiffe und einen dünnen Streifen Land; wir durchquerten den finnischen Meerbusen Richtung Stockholm.

Beim Abendessen wurde mir vorgehalten, auf dem Promenadendeck eingeschlafen zu sein; und als Beweis zeigte I. ein Foto, das sie mit ihrem Handy aufgenommen hatte – ohne dass ich irgendetwas bemerkt hatte.

Ich erinnerte mich an den schlafenden Zieten in der Tabakrunde Friedrich II. und unterstelle, dass er als erfolgreicher General an der Seite des Großen Friedrich auch im Schlaf, also in seinem inneren Bewusstsein seine Strategien und Taktiken nachzeichnete, während er für den äußeren Beobachter schlief. Vielleicht war das der innere Grund, warum Friedrich den Schlaf seines väterlichen Freundes duldete.

Ich rechtfertige mein inneres, elitäres Bewusstsein mit der Notwendigkeit des Beobachter-Status als Phänomenologe; Stichwort: Epochè. Ich verbinde die äußere wie innere Beobachter-Rolle mit der kritischen Einschätzung voreiligen politischen Engagements. Der Beobachter-Status – als Grundlage der Analyse der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse – zeigt sich in einer präzisen Urteilsenthaltung, die ein vorschnelles, noch so gut gemeintes Engagement verbietet; dies geht gerade engagierten Politikerinnen und Politikern, die meine Sympathie haben, ab.

Einerseits macht das Engagement sympathisch und auch solidarisch, andererseits führt dieses Verhalten zu vorschnellen Urteilen bzw. Entscheidungen. Ein während der Kreuzfahrt kontrovers diskutiertes Beispiel ist A‘s Traum von einer „Europäischen Republik“. Der Begriff „Republik“ kann zu Kontroversen mit „konstitutionellen Monarchien“ in Europa führen, deren demokratische Struktur unzweifelhaft ist. Daher bleibe ich bei dem Projekt „Vereinigte Staaten von Europa“ und unterscheide mich in der Sache nicht; es geht darum, supranationale Strukturen weiter zu entwickeln, die zu mehr Demokratie, Mitbestimmung und Chancengleichheit führen. Dieser notwendige kurzfristige, mittelfristige und langfristige Prozess darf nicht durch Kontroversen „am Rande“ verzögert bzw. ausgebremst werden.

In einer konsequenten Strategie zur quantitativen wie qualitativen Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse in ganz Europa muss nicht nur – taktisch klug – zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Lösungen unterschieden werden (die sich nicht behindern oder sogar ausschließen dürfen), sondern auch ablenkende Vorschläge und Kontroversen müssen vermieden werden, die das Ziel von Demokratisierung, Gewaltenteilung und Chancengleichheit in allen Ländern und Regionen Europas ausbremsen.

Daher ist in meiner Zielvorstellung, in meiner „Utopie“ die Methode der Epochè ein notwendiges Element, Problemlösungen voranzutreiben, ohne unüberlegt zu handeln. Symbol dieser Methode ist die Eule der Minerva, die in der Dämmerung ihren Flug beginnt und gerade in dieser Zwischenzeit Blick und Überblick bewahrt. Sie steht nicht im Widerspruch zum Gallischen Hahn, der in der Morgenröte seinen Schrei und seine Aktion beginnt. Zwar ist er wachsam und agil, aber er kann nicht (oder kaum) fliegen.

Wie kehre ich von meiner impliziten Kritik der revolutionären Ungeduld zurück zum Schlafenden Zieten? Nun weiß ich es dank der Sprachspiele: aus dem schlafenden Zieten wird der Zieten aus dem Busch. Wir schlafen nicht, wir konzentrieren uns auf unseren Tagtraum und vergessen den Hahnenschrei nicht – manchmal mit Hilfe einer Flasche Bitter Lemon.

Von Zieten aus dem Busch

 Auf dem Promenadendeck
der MS Astor ostseewärts
saß täglich ein alter Mann,
der trank in der Captain‘s Lounge
Bitter Lemon.

Er erinnerte (sich) an
den schlafenden von Zieten
in der Tabakrunde
des alten Friedrich 2.

Zieten aus dem Busch.
Preußens Gloria,
Preußens Untergang.

Transzendentale Apperzeption

Ich saß auf einem Stein am Fuß des Denkmals für den Markgrafen Albrecht von Brandenburg und blickte auf das Grabmal Immanuel Kants an der Außenmauer des Königsberger Doms, eingerahmt durch eine russische Säulenhalle. Was ging mir durch den Kopf (nicht durch den Magen)? Kant, komplizierter Aufklärer, kein hitziger Franzose; preußisch diszipliniert, 1804 in Königsberg (heute Kaliningrad) gestorben. Hier hat er sein Leben lang gelebt, gedacht und gearbeitet.

Dennoch schon in seiner Zeit weltberühmt, aber er war kein Säulenheiliger. Sowjetische Heiligenverehrung hätte er zutiefst abgelehnt. Der Markgraf Albert von Brandenburg hatte 1544 die Universität gegründet. Er konnte nicht ahnen, dass ein Professor seiner Albertina die Metaphysik aus den Angeln heben würde; und dieser Kant seine drei schwer verdaulichen Kritiken (der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft) aufschriebe, um die Philosophie zu revolutionieren.

Marx, Freud, Husserl und Wittgenstein sind ohne seine Leistung nicht denkbar. Ich verzichte darauf, in dieser Reihung Hegel zu nennen, denn es ist schwer genug, ihn vom Kopf auf die Füße zu stellen (oder umgekehrt?).

Hastig verlasse ich Grab- und Denkmal, da die Abfahrt des Busses bevorsteht und verwerfe den elitären und unnützen Gedanken, im Bus meine Mitreisenden zu fragen, was „transzendentale Apperzeption“ bei Kant bedeutet. Nein, es bleibt die bescheidene Quizfrage, wie Kants langjähriger Kammerdiener mit Namen hieß. Da müsste uns ein Licht aufgehen! Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten.

p.s. Kants Diener hieß „Lampe“.

Schein und Sein im Kapitalismus der Gründerjahre

Ich liebe den Bauhausstil des 20. Jahrhunderts: die Funktion der Häuser und Wohnungen und der Gebrauchswert der Dinge des Alltags zeigen Stringenz und schlichte Eleganz. Ich weiß, die ästhetische Einheit von Tausch- und Gebrauchswert bleibt in der kapitalistischen Produktionsweise eine (schöne) Illusion.

Demgegenüber demonstriert der Jugendstil – zumindest an den Fassaden der Häuser – für den, der „dahinter“ blickt, den Gegensatz von Schein (der Fassaden) und Sein (Wohnquantität und -qualität).

Dies erkannte ich in Riga, der Stadt des Jugendstils: eine straßenweite Stuck-Explosion und Expansion; für mich ein (schön anzuschauender) „Rückfall“ in Manierismus und Rokoko.

Die Reiseführerin erzählte, dass die Architekten des Jugendstils zunächst das Dekor und die Pracht der Außenfassaden ihrer Häuser planten und in Konkurrenz zueinander realisierten, während die Innen- und Hinterhöfe sowie die Wohnungen bestenfalls funktional, aber ohne jede „Verzierung“ hergestellt wurden. Zwar wurden keine potemkinschen Dörfer entworfen (wie einem Liebhaber der Zarin Katharina unterstellt wird), aber der Gegensatz von Schein (zur Schaustellung) und Sein (Wohnraumbeschaffung angesichts boomender Industrie und überregionalen Handels) ist belegbar.

Ich erinnerte mich an die Handelshäuser in Leipzig – mit ihren goldenen Fassaden und kunstvoll dekorierten Innenhöfen und denke über die Entwicklungsphasen des Kapitalismus nach: vom frühneuzeitlichen Handelskapital der Hanse (und ihren Bauten) bis zum Industrie-Kapitalismus und der heutigen Rekonstruktion vergangener Zeiten für die Selbstdarstellung und den Massentourismus.

Ästhetische Erfahrung bedarf immer der Aufklärung über das Verhältnis von Sein und Schein in der jeweiligen Produktionsweise einer Gesellschaft. Aber ich bleibe dabei: es gibt heutzutage elegantere Darstellungsformen dieses Verhältnisses von Tausch- und Gebrauchswert – und unweigerlich der Einbruch der Realität durch Zerstörung oder Zerfall.

Verweisen statt wahrnehmen

Die Kunst der Aenigmatik des Gerhard Richter

Beobachtungen und Reflexionen zum installierten Kunstwerk
mit dem Foucaultschen Pendel im Innenraum
der Dominikanerkirche in Münster/Westfalen

Meine Neugierde trieb mich in der letzten Woche bei meinen regelmäßigen Besuchen der Landeshauptstadt Münster in Westfalen in die Dominikanerkirche, mitten ins Zentrum der Innenstadt, um die Installation von Gerhard Richter „Zwei Graue Doppelspiegel für ein Pendel“ kennenzulernen. In der Bekanntmachung der Stadt Münster heißt es vollmundig: „Für die Betrachter wird der Besuch der profanierten Kirche zur Begegnung mit der Zeit und mit ihrer Vorstellung von Wirklichkeit“. Ich frage mich, ob sich das „ihrer“ auf Zeit oder Kirche bezieht und erfahre – in fast allen Veröffentlichungen –, dass es sich um eine entweihte Barockkirche handelt (im Eigentum der Stadt). Soll ich rückschließen, dass die Einrichtung eines Kunstwerkes dem Kirchenbau eine erneute Weihe verleiht oder soll ich – im Sinne Gerhard Richters – vermuten, dass der Künstler einen idealen Ort gefunden hat, ein Foucaultsches Pendel aufzuhängen und in Schwingung zu versetzen: eine 48 Kilogramm schwere Metallkugel an einem 28,75 Meter langen Edelstahlseil über einer kreisrunden, äquivalent zur Bewegung des Pendels gewölbten Platte aus Grauwacke, einem 380 Millionen Jahre alten Sedimentgestein? Und weiter heißt es in der städtischen Information: „Ein Magnetfeldantrieb im Zentrum der Bodenplatte sorgt für die ununterbrochen gleichmäßige Bewegung des Pendels. Im Verlauf einer Stunde dreht sich die Ebene unter dem Pendel um 12 Grad nach Osten. Entsprechend dem „Sterntag“, an dem sich die Erde einmal um die eigene Achse dreht und der in Münster etwa 30 Stunden zählt. Damit wird die erstmals im Jahre 1851 von dem französischen Physiker Léon Foucault in einem Pendelversuch nachgewiesene Erdrotation sichtbar“ (kursiv von mir).

Die Behauptung der „Sichtbarkeit“ stelle ich in Frage und unterstelle, dass dies nicht die Absicht des Künstlers ist. Fast eine Stunde habe ich mich im Kirchenraum aufgehalten und die Menschen beobachtet, die unablässig und zahlreich in den Raum (bei offenen Türen) strömten und, wenn ich ihre Gesichter richtig deute, eher ratlos oder andächtig verweilten. Denn alle wussten aus den Medien, dass ein weltberühmter Maler, dessen Werke auf Auktionen für zig Millionen Dollar verkauft werden, der Stadt Münster ein Geschenk auf Dauer vermacht hat.

Ich hätte mir spontan eine Umfrage gewünscht: was nehmen die Menschen wahr, was erwarten sie, die sie die Pendelbewegung beobachten? Und wie ordnen sie die an den zwei Wandflächen der Vierung paarweise gruppierten verspiegelten Glasbahnen (mit den Maßen 6 Meter mal 1,34 Meter) dem Pendel in seiner steten Bewegung und ihrem jeweils eigenen Standort zu? Mir bleibt die Beschreibung zweier Menschen in ihrem jeweiligen Verhalten: der alte Mann mit seinem Regenschirm und der kluge Mitmensch, der aus dem Physikunterricht seiner Schulzeit zitiert.

Der alte Mann nimmt seinen geschlossenen Regenschirm und stellt ihn nahe der Skala der Bodenplatte – jenseits der Absperrung – und schaut konzentriert minutenlang auf die Skala und hofft, anders kann ich sein Verhalten nicht interpretieren, dass die Bodenplatte sich für ein paar Grad gegenüber dem Standort seines Schirmes bewegt hat. Nach einiger Zeit schüttelt er den Kopf, da er keine Drehung wahrnimmt, und zieht seinen Schirm leicht verunsichert wieder hinter die Absperrung zurück. Ich erkenne nicht nur seine Verunsicherung, die vermeintliche Drehung der gewölbten Platte aus Sedimentgestein nicht wahrgenommen zu haben, obwohl er doch seinen Schirm fest auf den Boden gedrückt hatte, sondern ich fühle auch seine Verlegenheit, das Verbot der Absperrung missachtet zu haben. Und ich frage mich: weiß er nicht, dass wir mit dem gesamten Kirchenboden – und damit mit der gesamten Erdoberfläche – rotieren, ohne diese Erdrotation wahrzunehmen?

Mein Nachbar im Kirchenrund, ein kluger Mitmensch, hat diese Situation auch beobachtet und flüstert mir zu, der Herr habe wohl in der Schule nicht aufgepasst; er habe im Physikunterricht gelernt, dass die Erde sich in 24 Stunden um ihre Achse drehe. Ich will nicht belehrend wirken und ihm erläutern, dass auf unserem Breitengrad die Rotationszeit etwa 30 Stunden dauert. Ich nicke lächelnd mit dem Kopf und überlege für mich, dass die Schattenbildung der Metallkugel auf der Platte von Grauwacke durch das einströmende Sonnenlicht die konkrete Gradbestimmung der Drehbewegung der Ebene unter dem schwingenden Pendel verkompliziert – denn auch die Sonne bewegt sich, obwohl wir in der Schule gelernt haben, dass die Erde, auf der wir Menschen leben, nicht nur rotiert, sondern sich auch auf einer elliptischen Bahn um die Sonne dreht. Doch was ist, wenn die Sonne nicht durch die Fenster der Dominikanerkirche scheint? Das Pendel schwingt und die Erde rotiert und einen archimedischen Punkt haben wir Menschen, die wir auf der Erdoberfläche leben, nicht.

Weder die Philosophen noch die Künstler verfügen über den archimedischen Punkt, von dem aus sie alles, was in der Welt der Fall ist, überblicken oder sogar steuern könnten. Was bleibt, wenn die Sprache versagt, nicht aus Mangel, sondern durch strukturelle Begrenzung? Was bleibt, wenn ein Bild universale Erfahrungen des In-der-Welt-Seins nicht abbilden kann? Auch hier frage ich nach den strukturellen Grenzen, nicht nach der individuellen Kompetenz. Dabei geht es nicht nur um die jeweilige Thematik (Ist die Menschenvernichtung in ihrer grenzenlosen Brutalität abbildbar? Oder: Ist „Erlösung“, die mehr und anderes sein will als „Probleme-lösen“ darstellbar?), sondern auch um die Bedingungen der Möglichkeit von menschlicher Wahrnehmung. Ich vermute, Gerhard Richter, der um diese Problematik weiß, will mit seiner Kunst (bei ihm immer auch ein präzises Kunst-Handwerk) auf universale Erfahrungen hinweisen, die die Menschen nicht – zumindest nicht problemlos – wahrnehmen können.

Die Erdrotation betrifft alles und alle, die auf der Erdoberfläche leben, aber sie kann von uns Menschen zwar nicht wahrgenommen werden, aber durch das Foucaultsche Pendel wird auf sie verwiesen – und ihre Geschwindigkeit kann gemessen werden. Dieses Verweisen auf die Drehung des Bodens – und einen skalierten Kreis – über eine gleichmäßige Pendelschwingung, die eine gleichbleibende Ebene bildet, kann optisch verdeutlicht werden; wie beim Foucaultschen Pendel im Deutschen Museum in München – durch im Kreis angeordnete umkippende Klötzchen. In Münster hat Gerhard Richter darauf verzichtet.

Was beabsichtigt der Künstler mit dieser Installation; was ist sein Interesse und was fasziniert ihn?

Ich verzichte auf die Wiedergabe der wenigen veröffentlichten und kargen Aussagen des Künstlers; denn sie mögen für den Eigentümer des Kirchenraumes, die Stadt Münster, wichtig und für den finanziellen Vertragsabschluss (beziehungsweise die Bedingungen der Schenkung) bedeutsam sein; für die Analyse der Aussage und Wirkung eines Kunstwerkes sind sie nicht maßgebend. Ich erinnere mich an die Diskussion einer Schülergruppe mit einem mir befreundeten Maler in seiner Ausstellung: die Schüler wollten wissen, was er mit seinen (abstrakten) Bildern aussagen wolle – und er verweigerte sich. Denn seine Aussagen seien seine Bilder und ihre Bedeutung müssten sie durch ihre eigene Wahrnehmung herausfinden. Auch die Unterschriften seien beliebig und dienten allein der Identifizierung und Katalogisierung (und einem möglichen Verkauf) der einzelnen Bilder.

Damit kehre ich zu der Frage zurück, was die Menschen, die ich in der Dominikanerkirche beobachtet habe, möglicherweise erwarten und wahrnehmen. Nun sollen meine Reflexionen nicht auf ein Psychogramm der Museumsbesucherinnen und -besucher hinauslaufen (z.B. meines „alten Mannes mit Regenschirm“ und meines Nachbarn, der sich, wenn auch unpräzise, an seinen Physikunterricht erinnerte), sondern ich beschreibe im Folgenden meine Erwartung, also meine Kontext-Überlegungen, und meine Wahr-nehmung dieser Installation von Gerhard Richter.

Wenn ich die Bilder von Gerhard Richter – in seine aktuellen Schaffensperiode – mir anschaue (und ich hatte Gelegenheit, seine letzte umfassende Ausstellung im Kölner Museum Ludwig und auch seinen Birkenau-Zyklus im Burda-Museum in Baden-Baden sowie (mehrmals zu unterschiedlichen Tageszeiten) sein Kölner Domfenster zu besuchen), dann nehme ich seine Absicht wahr, Phänomene darzustellen, die grundsätzlich nicht abgebildet werden können, weil ihre „Totalität“ in einem „Bild“ (in einem Abbild) nicht fassbar ist; auf das, was diese Phänomene bedeuten, kann der Künstler nur verweisen. Verweisen statt abbilden, das ist die Vorerwartung, wenn ich mich den Bildern dieses Künstlers annähere. Welche „Phänomene“ meine ich?

Die Praxis des Übermalens und Verwischens, die Richter präzise und konsequent ausübt, stellt die Wahrnehmung des Abzubildenden in Frage, problematisiert die Möglichkeit des Abbildens – in Bezug auf die gewünschte Aussage des jeweiligen Phänomens. Es bleibt die Möglichkeit des Verweisens auf Phänomene, die grundsätzlich unabbildbar sind. Denn das Abbild löscht das Wesentliche des jeweiligen Phänomens; es bleibt der Verweis, um das Individuelle oder das Totale oder das Unfassbare, eben das Unbegreifbare auszudrücken; es als Künstler im (nicht mehr traditionellen) Bild oder in einer Installation darzustellen. (Das Wort „Verweis“ ist zumindest in der deutschen Sprache doppeldeutig: Hinweis/Verbot.)

Ich nenne diese Form der bildlichen Darstellung aenigmatisch und erkläre die Herkunft dieses von mir gewählten Kunstwortes an späterer Stelle. In dieser Form dokumentiert sich das Besondere des jeweiligen Phänomens: z.B. die Individualität, auch Würde eines Menschen, die im Bild (Abbild) möglicherweise verloren geht; oder der helle Schein einer Kerze (ihr jeweiliges Licht oder ihr Glanz), der in ihrer fotografischen Abbildung verschwindet; oder die Totalität des Verbrechens der systematischen und bürokratischen Menschenvernichtung im Holocaust (vgl. Richters Birkenau-Serie) oder die Fülle (das Pleroma) der Erlösung im Kontext der messianischen Utopie der jüdisch-christlichen Tradition (vgl. Richters Kölner Domfenster mit seinen 11500 Quadraten aus mundgeblasenem Echt-Antik-Glas in 72 unterschiedlichen Farbkombinationen, gewonnen durch einen Zufallsgenerator; Südquerhausfassade 2006).

Phänomene dieser Art können ihren Glanz, auch ihre Individualität oder Brutalität verlieren, wenn sie fotografisch abgebildet werden. Auf Phänomene dieser Art kann nur durch eine spezielle Abmal- oder Übermaltechnik, die Gerhard Richter beherrscht, „verwiesen“ werden.

Im Bereich der menschlichen Sprache drücken sich solche Grenzerfahrungen, die nicht begreifbar sind, in Oxymora aus. Religiöse Sprachspiele wie die Sprache der Utopien leben von solchen Oxymora; sie sind Ausdrucksformen der Sprache der Poesie und Mystik. (Vgl. die Stichworte meines Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten, Münster 2017, und meinen Aufsatz zum „Messianischen Denken in einer Welt ohne Gott“, 2018, auf meiner Homepage.)

Für eine bildende Künstlerin oder einen bildenden Künstler, die an den oben beschriebenen Phänomenen interessiert und von ihnen fasziniert sind, bleibt die Methode der Aenigmatik.

Diese Methode – so das Resultat meiner Überlegungen – praktiziert Gerhard Richter; ich fasse seine Arbeitsweise und ihre Resultate unter dem Slogan zusammen:
Verweisen statt Abbilden.

Den Begriff „Aenigmatik“ – ein Kunstwort, das der Duden nicht kennt – habe ich in Anlehnung an das 13. Kapitel des ersten Korintherbriefes gewählt; verfasst vom jüdisch-christlichen Gelehrten Paulus, um die Methode des messianischen Denkens aus der Messias-Erfahrung heraus unter den Bedingungen der Jetzt-Zeit zu kennzeichnen:

Denn Stückwerk ist unser Erkennen und Stückwerk unser prophetisches Reden. Wenn aber das Vollkommene kommt, dann wird zunichte werden, was Stückwerk ist. Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, überlegte wie ein Kind. Als ich aber erwachsen war, hatte ich das Wesen des Kindes abgelegt. Denn jetzt sehen wir alles in einem Spiegel, in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich ganz erkennen, wie auch ich ganz erkannt worden bin.“ (so die Übersetzung der Zürcher Bibel 2007).

Martin Luther übersetzt die entscheidende Passage: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem tunckeln Wort.“ Und in der lateinischen Vulgata-Übersetzung heißt es: „per speculum in aenigmate“. Schon für die Sprachspiele in Utopie und Mystik habe ich 2017 formuliert: „Die Sprache der Oxymora ist aenigmatisch, kann existenziell wirksam sein, aber bleibt unbegreifbar, und im Medium des Bildes: nicht abbildbar, da nicht wahr-nehmbar.“ (S. 214, Nachwort: Mit der Torheit leben und sterben? Aus: Vademecum, Münster 2017)

In der aenigmatischen Produktionsweise – in Sprache und Bild – wird auf rätselhaft widersprüchliche Weise („in einem tunckeln Wort“, Martin Luther) gedacht und gestaltet: im Bereich der Sprachkunst (Dichtung) soll das „beredte Schweigen“ ausgedrückt werden. Die Sprachspiele der Utopie sind die Sprachspiele der Mystik, nicht der heute verbreiteten, oberflächlichen Esoterik. Mystik aber beginnt und endet mit dem Schweigen. Abbilden wie Begreifen sind Formen des rationalen Denkens, sowohl im theozentrischen Weltbild (von Himmel und Erde), als auch im anthropologischen Weltverständnis: Probleme werden mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden gelöst und mithilfe der einzig erfolgreichen, da eindeutigen Sprache: der Sprache der Mathematik kommuniziert.

Der Gebrauch (wie Missbrauch) religiöser Sprachspiele stellt einen Sonderfall dar, der eingehender Kritik und notwendiger Übersetzung bedarf. Dies gilt auch und vor allem für die sog. Religiöse Kunst. Wenn versucht wird, existenzielle Erfahrungen in religiöser Sprache begreifbar zu machen, so ist das im theozentrischen oder metaphysischen Weltverständnis sehr wohl möglich, bedarf aber der Aufklärung, denn im Kontext eines anthropozentrischen Weltbildes und des für wissenschaftliche Problemlösung notwendigen „methodischen Atheismus“ (zunächst) sinn-los.

Jenseits aller Formen des idealisierten Begreifens und Problemlösens bleibt die Möglichkeit und Notwendigkeit der Kunst, auf das Unbegreifbare zu verweisen. Doch die Methoden der Aenigmatik sind gefährdet: sie können umschlagen in Beliebigkeit. Denn ohne Kontextwissen und Hintergrunderfahrung können die Artefakte aenigmatischer Produktion – im wörtlichen Sinn – oberflächlich – an der Oberfläche – bleiben.

Richters Bilder und Installationen verlangen, um sie zu verstehen, im Zuschauer bzw. Beobachter einen konkreten Denk- und Erinnerungsprozess: bei den Menschenbildern, die auf die Individualität verweisen, ist biografisches Hintergrundwissen notwendig; beim Kerzenbild das Wissen um die Funktion einer Kerze. (Hier wäre ein Vergleich mit den Bildern von Georges de la Tour, dasselbe Sujet betreffend, interessant.) Beim Kölner Domfenster ist die spezifische Aura des Kirchenraumes (soweit noch erfahrbar) ein notwendiger Hintergrund.

Bei dem Birkenau-Zyklus zeigt sich das Problem des Umschlags auf besondere Weise: es ist fraglich, ob die Totalität des Verbrechens der Menschenvernichtung abbildbar ist; aber gibt es nicht andere, mehr beeindruckende Formen des Verweisens, wenn ich an die Bilder von Felix Nussbaum in seinem eigens errichteten Museum in Osnabrück (von Daniel Libeskind gestaltet) denke? Was bleibt von der Wirkung der Birkenau-Bilder, wenn das Wissen um die Konzentrations- und Vernichtungslager verblasst?

Sicher ist auch die aenigmatische Darstellungsweise begrenzt; ohne Denkleistung bleibt das Wahrnehmungsinteresse der Beobachterinnen und Beobachter oberflächlich. Ich kehre zurück zum Foucaultschen Pendel und seiner Installation zwischen zwei grauen Doppelspiegeln in der Dominikanerkirche in Münster. Die physikalisch-technische Innovation bestand 1851 und später darin, gegen die ablehnende Haltung der Kirche, die das Phänomen der Erdrotation vorab aus einer für uns heute überholten, ideologisch bestimmten Weltsicht leugnete, ein „Messinstrument“ zu konstruieren, das das Phänomen der Erdrotation nachweisen und ihre jeweilige Zeitdauer bestimmen konnte.

Gerhard Richter interessiert und fasziniert dieses Phänomen (und sein Nachweis) – so unterstelle ich –, weil es alle Menschen, die auf der Erdoberfläche leben, betrifft, aber von niemandem wahrgenommen werden kann. Das Foucaultsche Pendel symbolisiert die Methode der Aenigmatik, in der Richter seine Arbeitsweise als Künstler erkennt, reflektiert (daher die Wandspiegel) und mitteilt. Er installiert das Pendel in einem (länger gesuchten) spezifischen Raum, der keiner weiteren Nutzung unterliegt; an dessen gegenüberliegenden Wänden sich die gleichbleibende Pendelbewegung in den je zwei grauen Spiegelflächen eigentümlich reflektiert. So wird der Innenraum der Dominikanerkirche zu einem Gesamtkunstwerk, das die Besucher in seiner rätselhaften Wirkung einbezieht.

Diese aenigmatische Wirkung wird verstärkt, da kontrastiert, wenn der in der Kirche vorhandene und zur Zeit verdeckte Hochaltar, ein prachtvoll geschnitzter Barockaltar aus einer Paderborner Kirche, der 1976 restauriert und rekonstruiert wurde, nicht nur (auf Wunsch des Künstlers und gegen den anfänglichen Willen der Stadt) im Kirchenraum erhalten bleibt und wieder sichtbar wird.

Spezifikum dieses Altars ist in seinem Hauptfeld ein Gemälde von Georg Christian Brüll, das die Himmelfahrt Mariens darstellt. Diese Abbildung ist die Phantasievorstellung frommer Menschen auf der Grundlage eines heute überholten (theozentrischen) Weltbildes. Diese Vorstellung resultiert aus einer Legendenbildung des 6. nachchristlichen Jahrhunderts, die schon vor der Zeit der „Gegenreformation“ (vgl. Tizians Gemälde „Mariä Himmelfahrt“ um 1516) immer wieder künstlerisch umgesetzt wurde und sogar 1950 (!) zu einer dogmatischen Engführung in der römisch-katholischen Kirche führte (die leibliche Aufnahme Mariens, der Mutter Jesu, in den Himmel – Assumptio Beatae Mariae Virginis – während die Ostkirchen bis heute von der „Entschlafung“ – dormitio – sprechen).

Auch das christliche Kreuz, das im Kirchenraum anzutreffen ist (ob mit oder ohne Korpus), hat Verweischarakter. Abgebildet wird nicht „Gott“, das wäre sinn-los, oder im christlichen Verständnis Götzendienst und fiele unter das strenge Abbildungsverbot der jüdisch-christlichen Tradition.
Stärker kann der Gegensatz in diesem ehemaligen Kirchenraum nicht sein (wenn dem Wunsch des Künstlers mit Recht – wie ich meine – entsprochen wird): einerseits ehemaliger Ort kultischer Verehrung mit Hilfe eines Bildes religiöser Phantasie, andererseits Ort technisch-wissenschaftlicher Beweisführung in einem aufgeklärten, wissenschaftlichen Weltverständnis. Und ich ergänze – als Beobachter der zahlreichen Besucherinnen und Besucher: Ratlosigkeit bleibt zurück bzw. wird zurückbleiben. Ich wünsche mir, dass das Gesamtkunstwerk „Innenraum der Dominikanerkirche“, gestaltet von Gerhard Richter, Wirkung bei den Besuchern erzeugt: nachzudenken über die Alternative: Verweisen statt Abbilden.

Metelen an der Vechtefurt

Erinnerte Geschichten eines Durchgangsortes

Ich sitze auf der grob gezimmerten Holzbank an der neuen Fischtreppe, höre die intensiven Fließgeräusche der geteilten Vechte, die sich einerseits durch Ellings Wiese, andererseits durch ihr altes Bett an der Stiftsmühle vorbei bewegt. In den letzten Tagen hatte es durchgehend und intensiv geregnet, so dass sich genügend Wasser in den Baumbergen gesammelt hatte und der Wasserstand mächtig gestiegen war.

Ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass sich vor Zeiten Richtung Straßenbrücke das Flussbett so verbreiterte, dass Mensch und Pferdewagen ohne Steinbrücke passieren konnten. Solche Furten waren reisenotwendig, denn Holzstege waren zu schwach und vermoderten mit der Zeit, und Steinbrücken – da fehlten oft kostbares Steinmaterial und konstruktives Wissen.

Das Wort „Furt“ hat es mir angetan und so rufe ich gewohnheitsmäßig „meinen“ GRIMM im Internet auf und finde: ein durchgang für gehende, reitende, fahrende durch ein wasser oder gewässer, vadum, am häufigsten und gewöhnlich versteht man das wort von einem solchen durchgangsorte durch einen flusz. Das Wort Durchgangsort speichere ich und wiederhole mehrfach: „Metelen, ein Durchgangsort“ – zur Erinnerung.

Wenn ich meine Augen wieder öffne, sehe und höre ich die zweigeteilte Vechte, das Quaken der Enten und in der Ferne den Durchgangsverkehr, der zwar die neue Umgehungsstraße meidet, aber das Geschäftesterben im Ort nicht verhindern konnte.

Hinter dem Gebäude der Äbtissin, das zur Zeit durch seine neuen Besitzer von Grund auf renoviert wird und ab 1720 in Tuchfühlung zur älteren Abtei und zur Stiftskirche Ss. Cornelius und Cyprianus errichtet wurde, brechen die Strahlen der Mittagssonne hervor und unwillkürlich schließe ich wieder die Augen. Ich denke an die letzte Äbtissin, die Tante „unserer Droste“, und erinnere die Worte der Dichterin zur Angst der Stiftsdamen vor den durchziehenden Truppen des Christian von Braunschweig im Jahre 1623. In ihrem Epos „Die Schlacht im Lohner Bruch“ heißt es:

Noch hat die Flur kein Feind betreten,
Noch zittert nur die fromme Luft

Vom Klang der Glocke, welche ruft
Die Klosterfrauen zu Gebeten,
Wo dort aus dichter Buchen Kranz
Sich Meteln hebt im Abendglanz.

 Die Furt ist ein Durchgangsort für Freund und Feind. Ich phantasiere: schon römische Legionäre haben, hastig und in Auflösung begriffen, diese Furt durch die Vechte, die sie vidrus fluvius nannten, durchschritten, durchwatet ohne rückzublicken, in der Hoffnung, das rettende Militärlager am Niederrhein zu erreichen.

Der Urwald Germaniens hatte es in sich, nur die fünf Flüsse Rhein, Yssel, Vechte, Ems und Weser gaben Orientierung, da sie sich in die Nordsee öffneten und zumindest mit leichten Booten befahrbar waren. Doch die Boote der Römischen Legion auf der Ems, mit denen die Soldaten, vom Rheindelta und der Nordsee kommend, weit stromaufwärts gerudert waren, brannten, angesteckt von Urwaldpartisanen der hier lebenden germanischen Stämme, denen die relativ schwerfälligen Legionärstruppen wenig entgegensetzen konnten.

Samuel, das war der Spitzname des Beornrad, Erzbischof von Sens in Frankreich und Mitglied des Intellektuellenzirkels Karls des Großen. Bis zu seinem Tod im Jahre 797 blieb er auch Abt des Klosters Echternach in Luxemburg. Dieser Samuel kannte nicht nur seinen Tacitus und seinen Ptolemäus, sondern war vermutlich ein Jahrzehnt vor Liudger von Karl dem Großen zur Missionsarbeit in den sächsischen Gauen zwischen Rhein und Ems beauftragt worden. Daher kannte er die alten römischen Wege durch germania magna nicht nur aus der Literatur, sondern aus seiner Arbeit als Missionar. Er konnte also seinem Kaiser wertvolle Tipps geben, wie der in das Herz der sächsischen Stämme rechts des Rheins und nördlich der Lippe militärisch vordringen konnte.

Vermutlich war Samuel kein Freund der Zwangsmissionierung – und sein Missionsauftrag scheiterte –, aber sicher hat er mehrfach die Vechtefurt durchfahren und vielleicht den Plan geschmiedet, auch hier ein Königsgut mit fränkischen Vasallen anzusiedeln, um diesen Durchgangsort, den schon Ptolemäus von Hörensagen kannte, abzusichern.

Hundert Jahre später wird Arnulf von Kärnten, König des Ostfrankenreiches, ein Ururenkel Karls des Großen und kurzzeitig römischer Kaiser, einer geadelten Frau aus dieser fränkischen Familie mit Pioniergeist mit Namen Friduwi dieses Gut als Frauenkloster zurückschenken und unter seinen Schutz stellen. Damit wird für Jahrhunderte aus dem Durchgangsort eine kaiserliche Freiheit, ein Ort des Gebetes und des Lernens.

Die „Freileins“, wie die Klosterfrauen und späteren Stiftdamen im Wigbold Metelen genannt wurden, konnten nicht nur beten und singen, sie konnten schreiben und lesen – im Gegensatz zu den Männern in ihren Familien –, sie wussten auch ihre Erfahrung und ihr Wissen weiterzugeben; sie gründeten eine Volks- und Lateinschule. So wurden über die Jahrhunderte aus Sachsen gebildete Münsterländer, auch wenn Heinrich Heine im 19. Jahrhundert über die Westfalen – wenn auch mit Sympathie – spottete.

Mein fiktiver Freund Heinrich Krechting, Bürgermeister und Richter in Schöppingen, Kanzler des Täuferreiches in Münster, gewandelter Calvinist und Hafenplaner in der Herrlichkeit Gödens am Schwarzen Brack, ist – wie sein Vater Engelbert – in Metelen zur Schule gegangen und sein Enkel wurde ein gelehrter und berühmter Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen. Dieser Enkel, getauft auf den Vornamen seines Großvaters, hat die Geschichte und Herkunft seiner Familie, auch wenn er sich als calvinistischer Hochschullehrer und republikanischer Bürgermeister als Großstadtmensch zeitgemäß Kreffting nannte, nicht vergessen, sondern dokumentiert.

Auch die katholische Reformbewegung des 17. Jahrhunderts, die nicht ohne Grund „Gegenreformation“ genannt wird, hat Durchgangsreisende geschaffen, die in Metelen zur Schule gingen. Ich denke an den Theologen Hermann Bavinck, der Pfarrer in S. Maria de Anima in Rom und Reiseführer für deutschsprachige Rompilger wurde. Seine Schriften kann man in der Heidelberger Universitätsbibliothek noch heute einsehen, auch wenn er vor Ort vergessen ist.

Noch immer sitze ich an der Fischtreppe der Vechte und denke mir, auch eine Fischtreppe schafft Durchgang, ist eine Furt – und in mir reift der Vorschlag: sollten die gelben Orts- und Hinweisschilder nicht auch ergänzt werden: Metelen an der Vechtefurt?

Wieviel % hatte das Jordanwasser, mit dem Jesus aus Nazaret durch Johannes getauft wurde?

Wieviel % hatte das Jordanwasser, mit dem Jesus aus Nazaret durch Johannes getauft wurde?

Diese von mir gestellte Frage ist entweder ungehörig oder missverständlich; denn wieviel Prozent wovon sind gemeint: Salz- oder Alkoholgehalt ?

Wenn der Salzgehalt gemeint wäre, liegt ein Missverständnis vor: nicht der See Genezaret oder das Tote Meer sind im Blick, sondern gefragt wird nach der Wasserqualität des Jordans, also eines Flusses. Die Antwort in Prozent-Zahlen interessiert vielleicht einen Fischer oder Wasserfachmann – aber provozierend ist die Frage nach dem Alkoholgehalt.

Und ungehörig ist die Fragestellung für einen theologisch gebildeten Christen, denn schon in der Frage könnte eine Verunglimpfung der Religion stecken – fast schon ein Straftatbestand. Meine Frage hat jedoch einen konkreten wie realen Hintergrund: der 38%ige Urkorn der Firma Sasse aus Schöppingen.

Dieser Hinweis wirkt zunächst rätselhaft, bedarf daher der Aufklärung. Der genannte Schnaps-Produzent aus dem Münsterland vertreibt zu Ehren Martin Luthers und seiner Reformation vor 500 Jahren eine Flasche Urkorn zu 38% Alkohol und zu einem Preis von 18,90 EUR mit einem eindeutigen Produktnamen: TAUFWASSER.

Ich fand dieses Produkt – in einer schönen altmodischen Flasche und von klarem Wasser optisch nicht zu unterscheiden – im Andenkenladen des Münsteraner Stadtmuseums in der Salzstraße. Was ging mir spontan „durch den Kopf“?
° Taufen mit Alkohol ist laut Codex Iuris Canonici (CIC) und der liturgischen Vorschriften ungültig; d.h. der Taufakt kommt nicht zustande; ist darüber hinaus vermutlich ein „sacrilegium“, gleich ob der Säugling ihn einatmet oder ein Erwachsener ihn trinkt (= Missbrauch hoch 2). Selbst wenn ich die Gesundheitsgefährdung außen vor lasse – auch die historisch verbürgte Ganzkörpertaufe war nicht ohne Risiko – , ist klares H2O taufaktkonstitutiv.

Wie kommt die Schnapsbrennerei Sasse (auf wessen Anforderung oder Anregung?) dazu, zugegeben reinsten Schnaps als Taufwasser zu kreieren? Auch hier hilft eine kritische Kontextanalyse weiter.

Im Stadtmuseum Münster wird z.Z. eine kleine, aber interessante Ausstellung präsentiert: „Die Macht des Wassers – Taufen in der Reformation, verantwortet vom Stadtmuseum (Barbara Rommé) und vom Evangelischen Kirchenkreis Münster. Dokumentiert werden die christlichen Taufgebräuche und Gebete und die dazugehörigen Holzschnitt- und Buchdruck-Abbildungen aus der Reformationszeit. Im Einzelnen werden die Taufpraktiken der (katholischen) Altgläubigen, der Lutheraner und der in Münster bis heute berüchtigten Taufgesinnten – immer noch „Wiedertäufer“ genannt – erklärt. Im Mittelpunkt der Glaubenstaufe der Münsteraner Täufer steht ein kleiner Holzbottich, ein ausgewiesenes Imitat; wobei mir spontan nicht klar war, ob aus diesem Holzeimer das Taufwasser geschöpft wurde, um es dem nieder knieenden Taufbewerber über seinen Kopf zu gießen oder ob der gesamte Eimerinhalt über den Täufling ausgegossen wurde. Wie dem auch sei, die beigefügten Animationszeichnungen legen die erste Version nahe. Auf jeden Fall wurde mit Wasser getauft und nicht mit Schnaps.

Was soll also der 38%ige Alkohol in der Flasche Taufwasser ? Ich vermute, Inhalt wie Verpackung dienen der Kommerzialisierung religiöser Gebräuche, so wie es (auf dem selben Tisch) Luther-Schokolade gibt. Aus Trier, dem Geburtsort von Karl Marx, wurde mir vor Jahren Karl-Marx-Schokolade (aus einer Konditorei nahe seines Geburtshauses) geschenkt.
Aber warum hat es, soweit ich weiß, noch keinen Protest von kirchlicher Seite, zumindest der anderen Konfessionen, gegen diese Vermarktung gegeben ? Zumindest sollten sich doch die Kräfte rühren, die markt- und kapitalismuskritisch sein wollen.

Oder – eine perverse Vermutung, ja Unterstellung – Museumsleitung und Kirchenkreis (Lutheraner?) wollen suggerieren, die Täufer hätten mit Alkohol getauft. Dies würde ihre – zeitgenössisch unterstellten – Verzückungen erkären und die Ungültigkeit bekräftigen. Als Kenner der Täuferbewegung lege ich gegen diese Unterstellung Protest ein, auch wenn ich es für plausibel halte, den Münsteraner Täufern (melchioritischer Konfession) neben der Vielweiberei (als sexuelle Orgien phantasiert) auch ausgeprägten Alkoholismus vorgeworfen zu haben.

Meine Lösung des Problems geht vom Naheliegenden aus: den ökonomischen Gesetzen des Marktes. Der Warencharakter des Taufwassers , und damit der Besitzwunsch potentieller Käufer soll verstärkt werden, trotz des relativ hohen Preises. Doch ich warne vor den Folgen. Ich stelle mir nämlich vor, ein „Ungläubiger“ – gleich welcher Herkunft – , der sich, durch die Artefakte der derzeitigen Skulpturausstellung verunsichert, in das Stadtmuseum flüchtet, entdeckt dieses Taufwasser, erkennt schon am Geruch den Alkoholgehalt und zieht den Rückschluss, Christen taufen mit Alkohol, der wie Wasser aussieht. Weitere Rückschlüsse erspare ich mir.

Auch eine harmlosere Konsequenz kann ich mir vorstellen: Rheinische wie Westfälische Christen entdecken diese Flaschen, gewinnen ihnen eine symbolische Bedeutung ab – und trinken in Erinnerung an die Jordantaufe diesen Urkorn.

Was hat sich die Kornbrennerei Sasse bei dieser Perversion gedacht? Die Kommerzialisierung religiöser Produkte ist vor allem verkaufsfördernd, wenn auf den ersten Blick der Alkoholgehalt des reinen Wassers unsichtbar bleibt.

Wie dem auch sei, ich schließe diese Episode mit der Replik eines weiteren Besuchers dieser Ausstellung, der meine halblaute Kritik an den Taufwasser-Flaschen zum Verkauf bemerkte und ökologisch bewusst formulierte: „…besser als verschmutztes Wasser aus der Leitung.“ Und ich füge, ein wenig boshaft, hinzu: zumindest katholisches Taufwasser ist gesegnet (optimal in der Osternacht) und damit innerlich gereinigt.

Die Heimsuchung des Zeichners Matthias Beckmann

Als Mensch, der sich berufsmäßig mit Theorie und Praxis von Lernumgebungen beschäftigt hat, weiß ich um die Bedeutung einer sachgemäßen wie unterstützenden Umgebung für erfolgreiche Lernprozesse. Aber neben der stimulierenden Wirkung kenne ich auch die inszenierte Wirkung eines Kopfarbeiters in seinem Arbeitszimmer, abgebildet in einer Fotografie oder in einer Lithografie. Die entschlüsselbare Symbolik der Selbst- oder Fremddarstellung soll die Bedeutsamkeit des oder der Porträtierten zeigen und verstärken.

Beispielhaft erinnere ich an eine Fotografie von Virchows Arbeitszimmer in der Charité in Berlin: der berühmte Chirurg mit mehr als einem halben Dutzend menschlicher Skelette und zahlreichen Schädeln hinter seinem Arbeitstisch. Oder ich denke an Dürers Kupferstich „Der heilige Hieronymus im Gehäus“ aus dem Jahre 1514 mit dem gutmütigen Löwen und dem schlummernden Hund im Vordergrund. Der Löwe geistert bis heute durch die Literatur. Nicht zu vergessen sind die Holzschnitte des „Büchernarren“ seit dem Mittelalter bis zum „Wol-geschliffenen Narren-Spiegel … hrsg. durch Wahrmund Jocoserius, Nürnberg 1730; in der Nachfolge von Sebastian Brants „Narrenschiff“.

Immer steht im Mittelpunkt der Zeichnung die Person und seine Umgebung; vom heiligen Gelehrten bis zum bibliophilen Narren und zum Pathologen in seinem Panoptikum. Anders verhält sich der Zeichner und Grafiker Matthias Beckmann aus Berlin. Ihn interessiert die Umgebung und das Arbeitszimmer als Ort – der Arbeitsstuhl bleibt leer.

Vermittelt durch ein Stipendium des DA Kunsthauses Gravenhorst im Kreis Steinfurt war Matthias Beckmann in unserer Wohnung in Metelen und hat u.a. mein Arbeitszimmer heimgesucht. Das zeichnerische Ergebnis seiner konzentrierten und auswählenden Beobachtung liegt vor. Ich bin so frech zu behaupten, dass von der Zeichnung auf den Eigner des leeren Arbeitssessels, also mich, rückgeschlossen werden kann und wird. Die einen werden es Chaos nennen, die anderen mögen im Bereich der Kreativität nach einer passenden Bezeichnung suchen. Ich nenne die Bleistift-Zeichenmethode induktiv; sie erlaubt einen Rückschluss vom Arbeitsort auf den dort (nicht) sitzenden Kopfarbeiter.

Zum Schluss meiner Reflexion kann die Praxis der „Heimsuchung“ durch den Künstler Matthias Beckmann aufgeklärt werden: wie bei mir üblich ziehe ich das etymologische Wörterbuch zu Rate: das mittelhochdeutsche Wort heime suochen bedeutet: „in freundlicher oder feindlicher Absicht daheim aufsuchen“ und heimsuochunge meint: “Hausfriedensbruch“. Ich kann die freundliche Absicht bezeugen. Aber eine letzte Frage sei erlaubt: Wie hätte der Löwe reagiert, wenn Matthias Beckmann Hieronymus in seiner Studierstube heimgesucht hätte?

Grillasch (Grillage)

Krefeld/Metelen, 14./16. April 2016 (16 Uhr Café Heinemann, Hochstr.)

In Erinnerung an meine Mutter, eine Ur-Krefelderin

Ich sitze – in Erinnerung an meine Eltern (regelmäßige Café-Heinemann.Besucher; speziell meine Mutter, entweder mit ihren Freundinnen oder meinem Vater im Schlepptau) – in diesem Café, habe mir einen Tisch mit Rundblick ausgesucht und bestelle mir bei der „Bedienung“ – jüngere Frauen mit leicht Krefelder Akzent und weißer Schürze, auch wenn sie mir im Gespräch gesteht, aus Mönchengladbach zu sein, also ich bestelle mir – neben dem üblichen „Latte“ und der Flasche Mineralwasser – ein Stück „Grillasch-Torte“; eine Krefelder/Niederrheinische Spezialität.

Grillagetorte deswegen, damit mir der spezielle Geschmack dieser gefrorenen, süßlichen, mit Schokoladensplitter durchsetzten Torte die Erinnerung an die ersten 18 Jahre meines Lebens in Krefeld verstärkt.

Und ich höre Gesprächsfetzen einer älteren Frauengruppe am Nebentisch:
Gebärmutter, Eierstöcke – stationär oder in der Praxis; typisches Gerede beim Kaffee. Der Krefelder/die Krefelderin wissen endlos über Krankheiten und Operationen, zumeist anderer, zu erzählen – Hans-Dieter Hüsch (das Schwarze Schaf vom Niederrhein) und meine Mutter lassen grüßen.

Ich bin für einen Tag an den Niederrhein, in meine Geburtsstadt Krefeld zurückgekehrt. Und werde nie die Episode mit meiner Mutter im Café vergessen: es muss 1980 gewesen sein. Ich saß mit meinen Eltern im damaligen Café Sinn auf der ersten Etage; es war am Nachmittag brechenvoll. Wir hatten zielsicher doch noch einen Tisch gefunden. Ich (1943 geboren, Einzelkind, overprotected) wurde von meiner Mutter so plaziert, dass ich ihren Persianermantel (oder wars schon der Nerz) an der Garderobe ständig „im Auge“ hatte, um einen möglichen Diebstahl – oder sei es nur eine Verwechslung – zu verhindern – sonst hätte sie ihren kostbaren Mantel, der im Sommer wohlverpackt im Kleiderschrank hing und nach Mottenkugeln roch – denn die Motten waren nach den Dieben die zweite Bedrohung, sonst hätte sie ihre Kostbarkeit auch im vollbesetzten, dampfenden Café nicht ausgezogen.

Plötzlich entdeckte meine Mutter Clementine eine Freundin auf der anderen Seite der Tischreihen, sprang auf, fuchtelte aufgeregt mit den Armen, so dass die Freundin aufmerksam wurde, und rief quer durch den Raum: „Niere raus, Promotion gut!“

Ich erbleichte und errötete zugleich. Noch heute spüre ich die Veränderung meiner Gesichtshaut. Aber die Freundin hatte verstanden, wie sie durch ein leichtes Kopfnicken andeutete und steuerte auf unseren Tisch zu, DieTischnachbarn horchten kurz auf, der Inhalt schien sie nicht weiter zu irritieren – und die Gesprächskulisse setzte sich fort.

So sind sie, die Krefelderinnen, so erinnere ich meine Mutter – und kann die Wahrnehmung von Hans-Dieter Hüsch nur bestätigen. Der Informationsgehalt der Botschaft meiner Mutter ist nur noch von marginalem Interesse: Meine Tante war zunächst erfolgreich operiert worden und ich hatte mein Doktorexamen erfolgreich abgeschlossen.

Ich bin für einen Tag und eine Nacht zu einem Klassentreffen nach Krefeld zurückgekehrt und am nächsten Tag wieder ins Münsterland zurückgefahren.

P.S. Der Abrechnungszettel des Cafés Heinemann druckt den Namen der Torte korrekt: Grillage Torte. Aber ich bin sicher: kaum ein Krefelder kennt die korrekte Schreibweise; denn wer Grillaasch sagt, der schreibt auch Grillasch.
Da es sich bei diesen Episoden um Weiter-zu-Erzählendes handelt, bestand eine Freundin darauf: Grillage-Tochte(pardon:)Torte gäbe es auch in Bochum (Ruhrgebiet). Wohin die Niederrheiner überall ausgewandert sind! Und ein letztes Wort: Wikipedia kennt Fundorte für Grillage in Böhmen und Bayern schon im 19. Jahrhundert. Und hätte ich meiner Mutter gesagt: laut Internet wird Grillage auch Havanna-Torte genannt, hätte sie geantwortet: „Junge, Du spinnst!“ – trotz Promotion.