Genuss als kommunikative Potenz des menschlichen Bewusstseins

Dass die Empathie zwischen den Menschen „durch den Magen“ geht, ist ein Allgemeinplatz, also eine Alltagsweisheit. Denn die Nahrungsaufnahme ist nicht nur eine biologische Notwendigkeit, um zu überleben, sondern ein gemeinsamer Genuss; zumindest kann sie das sein.

Im Anfang war das Gespräch (sermo), so übersetzt auf mutige Weise Erasmus von Rotterdam den ersten Vers des Prologs des Evangelium nach Johannes. Und ich ergänze: Im Anfang war das Gespräch beim gemeinsamen Essen.

Wer zum gemeinsamen Essen und Trinken einlädt, will Empathie zeigen und in dieser Form gemeinsame Nahrungsaufnahme realisieren. Das gemeinsame Essen setzt also nicht nur Genussfähigkeit der Menschen voraus, sondern ein Bewusstsein des gemeinsamen Genießens; schon bei der Vor- und Zubereitung des Essens; sogar bei der Einladung zu einem gemeinsamen „Mahl“.

In unserer arbeitsteiligen Warengesellschaft (mit all ihren Konsequenzen) beginnt der Genuss (oder Verdruss/Ärger) schon mit der Auswahl des entsprechenden Restaurants (im Internet) oder (zumindest bei mir) beim Lesen der Speisekarte die Vorfreude des Genießens.

Diese Vorfreude kann durch die Beachtung der Preisangaben der einzelnen Speisen durchkreuzt werden. Überteuerte Preise trüben den Genuss oder schon die Vorfreude und erhöhen das Risiko bei Geschmacklosigkeit.

Diese Überlegung zeigt, Genuss geht nicht nur durch den Magen, sondern stets auch durch den Kopf. Auch Genuss ist eine Bewusstseinsleistung und seine sprachlichen Ausdrucksformen entsprechen sowohl der jeweiligen Ess- wie Gesprächskultur. Selbst in der übertriebenen und oft skurrilen Sprachgebung der Speisen durch den Star- und Sternekoch und dessen Ambitionen bleibt – formal gesehen – der Zusammenhang von Gespräch und Genuss erhalten.

Insofern ist die „Phänomenologie der Ernährung und Umwelt“, wie sie die französische Philosophin Corine Pelluchon in ihrem Buch vorgelegt hat, eine notwendige Reflexion und Ergänzung, wenn (wie meine Absicht) das Programm der Aufklärung „zuende“ gedacht wird. Zu einer aufgeklärten Anthropologie am Ende des Anthropozän gehört die ökologische Analyse mit allen Sinnen.

Diese Anthropologie muss alle Bewusstseinsleistungen – ihre Entstehung, ihre Wirkungen und die zugehörigen Sprachspiele (also Ausdrucksformen) umfassen. So kann ich die Übersetzung des Erasmus – sermo statt verbum zu Beginn des Prologs des Evangeliums nach Johannes – erweitern: Im Anfang war und ist die Kommunikation. Auch das Genießen ist eine Potenz des menschlichen Bewusstseins; diese Möglichkeit kann ansteckend wie abschreckend erzählt werden.

p.s.

Für meine Analyse des Bewusstseins, in der ich mir schon sprachlich den Genuss einer Speise (und anderes darüber hinaus) vorstellen kann, spricht, dass es unterschiedliche Denkformen und Sprachspiele gibt: Einbildung ist weder Einsicht noch Utopie.

Literaturhinweis:

Corine Pelluchon: Wovon wir leben. Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt, Darmstadt 2020

Titel der Originalausgabe: Les nourritoures. Philosophie du corps politique, 2015

Mit dem Elefantenbein ins Mathias-Spital nach Rheine – dort kann geholfen werden.

Wem Gutes widerfuhr, der sollte nicht verschämt schweigen, sondern davon berichten. Denn in Notlagen sich daran zu erinnern, wo einem sachgerecht geholfen wurde, ist von hohem Nutzen.

Nützlich ist auch, sich mit Hilfe eines Stichwortes zu erinnern, denn im Labyrinth des menschlichen Bewusstseins geht manches verloren: auf Holzwegen und in Sackgassen.

Mein heutiges Stichwort ist „Elefantenbein“ und auf dieses Wort hin werde ich mich bis zum Lebensende an die „Methode Professor Lulay“ (im Gefäßchirurgischen Zentrum des Mathias-Spital in Rheine) positiv erinnern.

Der Reihe nach!

Eher zufällig wurde ich vor ein paar Wochen per Notarzt und Rettungswagen mit einem stark geschwollenen linken Oberschenkel in das Mathias-Spital in Rheine eingeliefert und erfuhr schon in der Notaufnahme durch einen Arzt – unter dem missbilligenden Blick seiner Kollegin –, dass es sich wohl um ein Elefantenbein handele.

Ich hörte zum ersten Mal von diesem Befund, war aber nicht irritiert, da ich auf Elefanten als Philosoph, der das Kommunikationsverhalten und das Erinnerungsvermögen dieser Tiere bewundere, positiv reagiere.

So landete ich bei Professor Dr. Gerd Rudolf Lulay, Spezialist für Gefäßchirurgie, und seinem Mitarbeiter, der mit seiner Methode der „kathedergestützten Trombolyse“ mein gefährliches Blutgerinsel in der Beckenvene erfolgreich zerstörte.

Als passioniertem Aufschreiber, so nenne ich meine Tätigkeit als Schriftsteller, bleibt mir die Möglichkeit, auf diese Weise zu danken, und meinen Freundinnen und Freunden mitzuteilen, dass durch die „Methode Lulay“ jedem geholfen werden kann, bei dem sich ein Blutgerinnsel in der Vene der Leistengegend festgesetzt hat; Stichwort: Elefantenbein.

p.s.

Natürlich habe ich im Pschyrembel (254. Auflage 1982) nachgelesen: dort heißt es unter dem Stichwort „Elephantiasis“ u.a. „unförmige Anschwellung von Körperteilen, bes. Extremitäten“. Bei Google werde ich unter dem Stichwort „Elefantenbeine Mensch“ mit zahlreichen Bildern erschlagen, vor allem mit Lipödemen „in fortgeschrittenem Stadium bei Frauen“. Ich zitiere aus einer Zeitung des Jahres 2019: „Schluss mit dem Elefantenbein: Kassen übernehmen Kosten“.

Rosenmontagerinnerung

oder: Der Niederrheiner in mir

Seit langem lebe ich im Münsterland, bin 80 Jahre alt, die Zeit des Karnevals hat begonnen, wenn man den Zeitungsberichten über Prinzenpaare, Karnevalssitzungen und Tanzformationen glauben darf.

Heute habe ich eine Tüte, gefüllt mit Puderzucker bestreuten Mutzen erhalten, erworben bei der hiesigen Bäckereifiliale.

B. weiß aus Geschichten meiner Kindheit am Niederrhein, dass meine Mutter am Rosenmontag jedes Jahres Mutzen und Mutzenmandeln auftischte, mit Puderzucker bestreut. Dazu gab es am Nachmittag, nach dem obligatorischen Besuch des Krefelder Rosenmontagszuges mit dem Einfangen und Einsammeln zahlloser Karamelbonbons, die ich als Beute mit nach Hause nahm, aber nie lutschte – ein trotz Nachkriegszeit verwöhntes Einzelkind – heiße Schokolade.

Siebzig Jahre später brühe ich mir am späten Nachmittag einen doppelten Espresso und beiße auf die weiß bepuderten Mutzen. Spontan schmecke ich den Unterschied: damals hatte der Teig mehr Blasen, war dünner und die rautenartig geformten Plätzchen schmeckten leicht süß; verstärkt durch den heißen Kakao, der vielleicht aus einem Care-Paket der Engländer stammte. Das war meine Kindheitssehnsucht an jedem Rosenmontag im Jahr.

Ich bin erstaunt, nicht verwundert über mein präzises Erinnerungsvermögen, die Geschmackserinnerung meines Bewusstseins nach so langer Zeit. Man/frau verzeihe mir diese Formulierung; gerade habe ich Hugo Lagercrantz Buch (Berlin 2019, wissenschaftlich komplex) über die Entwicklung des frühkindlichen Gehirns: Die Geburt des Bewusstseins gelesen.

Ich erinnere die damalige Bäckerei an der Ecke Nordstraße in Krefeld und den jährlich wiederkehrenden Genuss dieses Rosenmontagsgebäcks in der sonst so genussarmen Nachkriegszeit.

Ich denke sowohl über die Erinnerungsmöglichkeit und -Leistung meines Bewusstseins nach, als auch die mangelnde Kenntnis des westfälischen Bäckers, rheinische Mutzen herzustellen. Nach einiger Zeit des Grübelns – der Esspresso schmeckt nicht zu den Mutzen und die Mutzenmandeln fehlen – vermute ich eine grundlegende Differenz zwischen niederrheinischem und münsterländer Gebäck und Geschmack.

Und ich verallgemeinere (typisch philosophisch): der westfälische Geschmack ist herber und bissfester als das rheinische, süßere Empfinden. Und ich übertrage meine Erkenntnis auf eine andere Leibspeise: Wurstebrot (westfälisch) und Panhas (rheinisch).

Und ich schließe meine Rosenmontagsanalyse mit der Einsicht: seit über 50 Jahren lebe ich im Münsterland, aber mein Geschmack ist niederrheinisch geblieben; zumindest in der Erinnerung.

p.s. (lt. Wikipedia)

Mutzen, auch Mutze (ich kenne nur den Plural), sind ein rheinisches Siedegebäck (in Rautenform), das traditionell zu Karneval und Silvester hergestellt wird. Neugierig spüre ich im etymologischen Wörterbuch nach und finde: (ital.) mozzare (abschneiden) und zur Sprachfamilie gehörend (im 20. Jahrh.) „aufmotzen“.

Von der Notwendigkeit doppelten Naturschutzes und der Kritik an missverständlichen Katastrophenszenarien

Konsequenzen aus dem Gastkommentar in der nzz.ch vom 1. Januar 2022: Apocalypse now? Die Menschheit ist gross, doch das Klima grösser.

These: Der Naturschutz hat eine doppelte Aufgabe: Die Natur, unsere Umwelt, vor ihrer Ausbeutung und Zerstörung zu schützen; aber auch: die Menschheit vor den Naturgewalten zu schützen.

Diese doppelte Aufgabe verlangt eine differenzierte Balance im menschlichen Verhalten; das Bewusstsein der Menschen im Anthropozän ist notwendigerweise das eines, „sterblichen Schöpfertums“; denn „um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden“. (Hannah Arendt, 1958)

Die heutigen Katastrophenszenarien lassen eine klare Unterscheidung zwischen „Naturgeschichte“ und „Menschengeschichte“ vermissen, bzw. lamentieren mit unsachgemäßen Katastrophenszenarien. Diese Verwirrung beruht auch auf der Verwechslung von kosmischer Naturentwicklung, Evolution auf dem Planeten Erde und den Möglichkeiten bzw. Verfehlungen menschlicher Geschichte. Ich spreche in diesem Zusammenhang von den widersprüchlichen Potenzen der Problemlösung des menschlichen Bewusstseins.

Wir Menschen am Ende des Anthropozäns beherrschen nicht die sog. „Naturgeschichte“, auch wenn uns unser Bewusstsein ermöglicht, sowohl die kosmischen Abläufe der Eiszeiten auf der Erde sowie die Evolution des Lebens auf der Erde zunehmend zu erkennen. Als Naturwesen sind die Menschen in diese Naturprozesse einbezogen, ohne sie entscheidend beeinflussen zu können. Auch wird mit Recht gesagt, dass die „heutige Krisenrhetorik verkennt, dass das Menschsein seit je krisenhaft ist“.

Wir Menschen als Naturwesen sind daher in doppelter Weise sterblich: sowohl unsere individuelle Lebenszeit ist begrenzt; wie alles Leben auf der Erde, wenn auch in unterschiedlichen Zeitdimensionen (man vergl. die mögliche Lebensdauer eines Bakteriums mit der eines Säugetieres). Aber auch die Lebensbedingungen des homo sapiens – als Gattung – sind zeitlich begrenzt, da an die „Naturzustände“ des Planeten Erde in unserem Sonnensystem unwiderruflich gebunden. Eine Flucht des Menschen vom Planeten Erde als Überlebensstrategie der Gattung Mensch ist zwar phantasierbar (und ansatzweise individuell konstruierbar), aber unter den bestehenden Problemlösungsmöglichkeiten nicht realistisch.

Realistisch – im Sinne des Aufgeklärten Realismus – ist sowohl die menschlich verursachte Selbstzerstörung der bewohnbaren Erde (durch bewusste Freisetzung von welterschütternden Kräften wie der Atomenergie), aber auch die „schleichende“ bewusst zu machende Verschlechterung der Lebensbedingungen (wie z.B. durch Luftverschmutzung, Erderwärmung, unkontrolliertes Bevölkerungswachstum – ohne ausreichende Verbesserung der Lebensbedingungen; aber auch durch – durch nichts zu rechtfertigende – Kriege und Hungersituationen; also durch Ausbeutung und Verelendung.

Diese (sicher unzureichende) Zustandsbeschreibung der menschlichen Geschichte – ihrem Mangel und ihren Möglichkeiten an menschengerechten Problemlösungen – verlangt darüber hinaus für eine humane Überlebensstrategie die Organisation und Sicherung einer menschenwürdigen Gesellschaftsstruktur – und einen doppelten Naturschutz: einen nachhaltigen Schutz vor erkennbaren Naturgewalten (wie z.B. den Dammbau in den Niederlanden) und den Schutz der Natur vor menschlicher Zerstörung (z.B. der Ökosysteme) durch Waldvernichtung oder durch kurzfristige „Verbesserung“ der menschlichen Lebensgrundlagen, deren Nachteile langfristig überwiegen.

Menschen sind als bewusste Lebewesen in der Lage, die Probleme im Sinne des doppelten Naturschutzes und auf der Basis, die Menschenwürde universal durchzusetzen, zu lösen, auch wenn alle Problemlösung vorläufig bleibt und immer neuer Anstrengung bedarf. In dieser Perspektive sind die Menschen für ihre Zukunft am Ende des Anthropozäns verantwortlich. Daher spreche ich (in Form eines kategorischen Imperativs) davon, dass der homo sapiens nur überleben kann, wenn er ein homo praestans wird, ein Mensch, der für andere und sich einsteht.

Überleben schafft keine Chancengleichheit

„Nach einer Epidemie sind alle, die noch da sind, Überlebende.“

So formuliert Ivan Krastev in seinem in diesem Jahr in Englisch und Deutsch erschienenen Buch „Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert, Berlin 2020 (Ullstein; Is It Tomorrow, Yet? How The Pandemic Changes Europe) auf Seite 10.

Diese Aussage ist wahr und falsch zugleich. Angenommen, es gibt einen Zeitpunkt a, an dem eine Epidemie oder Pandemie „vorbei“ ist, dann sind zwar alle Menschen, die zu diesem Zeitpunkt (noch) leben, „Überlebende“, aber sie waren weder vor diesem Zeitpunkt „gleich“, noch sind sie es nach diesem Zeitpunkt. Entweder ist diese Aussage banal, oder sie ist unwahr, wenn damit „Chancengleichheit“ gemeint ist. Die Ungleichheit der Lebensverhältnisse bleibt: reich oder arm, gebildet oder ungebildet, in Arbeit oder arbeitslos. Trotz möglicher Verschiebungen oder besserer Wahrnehmung verändern sich die jeweiligen sozialen Unrechtsverhältnisse in Bezug auf die Lebensbedingungen der Menschen nicht. Die Forderung nach gerechter Verteilung des produzierten Reichtums und unterschiedlicher Bewertung von persönlichem Eigentum und Eigentum an Produktionsmitteln (in Weiterführung und Differenzierung der entsprechenden Grundgesetzartikel), wie auch einer gleichwertigen Mitbestimmung (Demokratisierung) bleiben unerfüllt. Vielleicht werden diese Forderungen offensichtlicher – trotz staatlicher Schutzmaßnahmen, die diese Wünsche auch verdecken.

Zwar nimmt in Zeiten der Pandemie die Hilfsbereitschaft zwischen den Menschen – auf der Grundlage der Empathie – zu, aber der „Ausbruch“ an Sympathie setzt gerade die bestehend bleibende Ungleichheit voraus, auch wenn sie als „unmoralisch“ empfunden wird.

Ich wehre mich entschieden gegen die zugrunde liegende naturalistische Ideologie, Naturkatastrophen würden die Menschen in gleicher Weise betreffen und zur Durchsetzung der Chancengleichheit strukturell beitragen. Ob ich als Rentner mit regulärem Einkommen oder als arbeitslos gewordener Familienvater eine Pandemie überlebe, ist ein grundlegender Unterschied; wobei schon Überlebenschancen unterschiedlich sein können. Das Risiko ist ungleich, da ich mich unterschiedlich schützen kann.

Wir alle kennen den Spruch: „Im Tode sind wir alle gleich.“ Doch selbst dieser Spruch ist missverständlich. Zwar müssen alle Menschen (als Individuen) sterben – der menschliche Organismus ist endlich –, aber objektive Bedingung wie subjektive Erfahrung des individuellen Sterbens sind – weltweit gesehen – brutal unterschiedlich. Die Einforderung, die Würde aller Menschen zu achten, ist ein Postulat, ein kategorischer Imperativ, der umgesetzt werden muss (individuell wie strukturell). Insofern bin ich ein aufgeklärter Realist und bestimme – im Sinne von Hannah Arendt – den Menschen als „sterblichen Schöpfer“. (Vgl. die entsprechenden Reflexionen in meinem 2020 erschienen Buch „Aufgeklärter Realismus“.)

Staat und Verwaltung können zwar zur Sicherung des Allgemeinwohls und zum Schutze die häusliche Domestikation anordnen und erzwingen, aber damit wird die Struktur der Lebensverhältnisse nicht grundsätzlich geändert. Zwar werden in Zeiten einer Pandemie Mängel an gesetzlichen Maßnahmen sichtbar oder Ideologien erkennbar und der Druck der Aufklärung kann sich verstärken, aber um es floskelhaft auszudrücken:

Naturgewalt schafft nicht die kapitalistische Produktionsweise ab.

Der Grundwiderspruch der Marktwirtschaft, in der alle Güter in Waren verwandelt werden, bleibt bestehen. Aber ich hoffe, dass dies immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft erkennen und ihre Lebenspraxis verändern.

Dies verlangt auch eine strukturelle Änderung der bestehenden ökonomischen Verhältnisse. Ich empfehle eine kritische Analyse und Aneignung von Paul Mason: Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie (Im Englischen Original: PostCapitalism. A Guide in Our Future, London 2015), Berlin 2018 (Suhrkamp). Mason zeigt auf, wie aus den Trümmern des Neoliberalismus eine gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft errichtet werden kann.

Kontrollverlust bei Pandemien – und die Schwäche der Gewerkschaften

Pandemien unterscheiden sich von Naturkatastrophen „traditioneller“ Art dadurch, dass ihre Dauer langfristig und ihre zeitliche Wirkung (relativ) unbestimmt ist; sodass man von einem Ende – dann beginnt das „Aufräumen“ – kaum sprechen kann. Das erzwingt staatlicherseits längerfristige Schutzmaßnahmen mit ungewissem Ende bzw. in wiederkehrenden Formen.

Pandemien wirken nicht nur schubweise, sondern auch weltweit – und sind kaum regional eingrenzbar, anders als Tornados oder Erdbeben; trotz deren verheerender Wirkung (z.B. bezüglich der Anzahl der Toten und Verletzten). Die längerfristig verwaltungsseitig verordnete und erzwungene Domestikation (auch mit polizeilicher Gewaltausübung) bewirkt eine soziale Verunsicherung, die gerade bei jungen Menschen zu eruptiven Gewaltausbrüchen und zum zeitweiligen Verlust individueller Kontrolle führen kann.

Dieser Kontrollverlust wird dadurch verstärkt, dass die zeitgleiche, intensive Medienberichterstattung es dem Einzelnen nicht mehr erlaubt, das subjektiv wahrgenommene Bedrohungsszenario zu verarbeiten oder zumindest auszublenden.

Eine regionale Konzentration der Personen, die durch das Virus angesteckt wurden, wie z.B. aktuell in Großschlachtereien und im Wohnumfeld der dort arbeitenden, zum Teil ausgebeuteten Arbeiterinnen und Arbeitern, zeigt die relative Unfähigkeit oder den Unwillen der staatlichen Instanzen, solch „Ausbrüche“ zu verhindern, die industrielle Fleischproduktion, also den Kreislauf von Massentierhaltung, Massentierschlachtung und die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft zu verbieten.

Offensichtlich ist auch die Schwäche der Gewerkschaften, die Interessen der ausgebeuteten „Wanderarbeiter“ wirksam zu vertreten und menschenwürdige Arbeits- und Wohnbedingungen zu erzwingen. Ich frage mich, wo der öffentliche und wirksame Protest und Widerstand des DGB und der zuständigen Einzelgewerkschaften bleibt, um solche Unternehmerstrukturen zu zerschlagen, die schon der sozialen Marktwirtschaft in unserer Gesellschaft zuwiderlaufen?

Nun droht die EU-Kommission den betroffenen Staaten mit einer neuen Richtlinie, da die bestehende EU-Entsenderichtlinie möglicherweise nicht ausreicht. Der zuständige EU-Arbeits- und Sozialkommissar Schmit aus Luxemburg formuliert: „Saisonarbeiter müssen gleichberechtigt zu allen anderen Arbeitskräften behandelt werden … Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. Aber ich frage mich: Wo bleibt der lautstarke und zielgerichtete Protest der Gewerkschaften in Europa? Die strukturelle Schwäche der europäischen Gewerkschaftsbewegung verhindert, die Interessen der Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter in Europa wirkungsvoll zu vertreten und die menschenverachtende Ausbeutung zu beenden.

Chaos produzierende „Randalen“ sind auch eine Folge aus der „Unfähigkeit“ der Gewerkschaften, organisierten, wirksamen und zielgerichteten Widerstand gegen diese Unternehmerstruktur der industriellen Fleischproduktion („Schlachtindustrie“) zu entwickeln, um diese Strukturen abzuschaffen. Übrigens trifft diese Kritik nicht nur Einzelunternehmer wie Tönnies, die auch als Fußballfunktionäre das seit römischer Zeit bekannte Spiel „Brot und Spiele“ betreiben, sondern auch genossenschaftliche Unternehmen wie Westfleisch, in denen die Landwirte (mit ihrer Massentierhaltung) das Sagen und den Gewinn haben. Die gesamte Produktionskette ist menschenunwürdig und allein am Eigennutz orientiert.

Kommunikation als Lernprozess? – Telefonieren oder Handeln per Handschlag

ICH gehöre zu den Menschen in Deutschland, die zu Ende des Zweiten Weltkrieges noch während der Nazi-Diktatur geboren wurden und in der sog. Nachkriegszeit ohne Telefon aufgewachsen sind; oder wie wir am Niederrhein zu sagen pflegten: die ohne Telefon groß geworden sind.

WIR kannten nur das Radio, entweder als Volksempfänger für Kriegsstandsmeldungen und Bomberangriffe, eingebettet in politische Propaganda, oder als Begleiter (für meine Mutter in unserer Wohnküche) mit Schlager- und Volksmusik. Daher kannte ich – fast auswendig – Willy Schneiders Lied: „Man müsste nochmals 20 sein und so verliebt wie damals …“ – oder die gleich große (und alte) Conny Froeboes mit ihrem geträllerten: „Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein und dann raus ins Schwimmbad …“ – das Problem: ich hatte und habe keine kleine Schwester.  Ich blieb Einzelkind (overprotected durch meine Mutter) – und musste mit meinem Vater wöchentlich ins städtische Hallenbad.

Nach der Währungsreform stand in unserem Wohnzimmer, das nur an hohen Feiertagen und bei besonderem, seltenen Besuch geheizt wurde, ein großes Blaupunkt-Radiogerät. Dort durfte ich sonntags nach dem Mittagessen – wohlverpackt in Decken im guten Sessel Kinderfunk hören: „Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv“.

Der kleine Radioempfänger in der Wohnküche auf dem Küchenschrank diente sowohl der Unterhaltung wie der Information durch die Nachrichtensendungen des NWDR. Gestalt wie Gebrauch eines Telefonapparates (der hing noch im Flur an der Wand) habe ich erstmals im Haus des Arbeitgebers meiner Mutter, einem umtriebigen und kinderfreundlichen Viehhändler aus dem niederrheinischen Umland, wahrgenommen.

Meine Mutter war als Buchhalterin bei diesem Viehhändler beschäftigt und montags in aller Frühe wurde sie von ihm mit seinem Mercedes abgeholt, um auf dem Düsseldorfer Schlachthof den Viehverkauf finanziell zu regeln. Ab und zu, wenn mein Großvater zum Kinderhüten nicht zur Verfügung stand, durfte ich mitfahren (die ersten Autofahrten in meinem Leben) und nach dem Schlachthofbesuch waren wir noch im Haus des Viehhändlers; dort musste meine Mutter die Buchhaltung so regulieren, dass illegale Transaktionen gegenüber dem Finanzamt nicht auffielen – und ich erlebte das Telefon als Medium des An- und Verkaufs von Kühen und Schweinen.

Schon auf dem Düsseldorfer Schlachthof hatte ich seltsame, mir fremde Formen der Kommunikation zwischen den Viehhändlern und den kaufenden Metzgern erlebt. Der Viehhändler verkaufte im Auftrag der Bauern – in meinem Fall meist aus Friesland und Oldenburg – das Vieh stückweise an die Metzger, die morgens früh in den Schlachthof gekommen waren und vor dem Kauf und der Schlachtung das Vieh begutachteten. Beim Geschäftsgespräch zwischen Viehhändler und Metzger wurde ein Kilopreis für jedes Rindvieh ausgehandelt, in abgekürzten Sprachfetzen und mit wiederholtem gegenseitigen Schlagen der Handflächen, bis durch einen endgültigen Handschlag der Verkauf besiegelt war.

Jetzt begann die vertrauensvolle Arbeit meiner Mutter; sie musste den Kilopreis verbindlich notieren; dann wurden die Tiere gewogen; das Gewicht wurde ebenfalls notiert – und meine Mutter errechnete den Gesamtpreis. So weit, so gut oder schlecht für Käufer oder Verkäufer. Denn zwischen Verkauf und Waage wurden die Tiere, die laut brüllten, mit Wasser getränkt. Die Viehknechte beruhigten mich, indem sie sagten, der Durst der kurz vor der Schlachtung stehenden Kühe und Schweine müsse natürlich gelöscht werden. Schon damals war ich unsicher, ob diese Aussage der Wahrheit entsprach, denn zwischen den Verkäufern, Käufern und Knechten gab es immer wieder Rangeleien; laut und für mich unverständlich. Es ging um das verbindliche Gewicht der Tiere; denn danach richtete sich der Gesamtpreis.

Heute weiß ich, welche Rolle meine Mutter in diesem Geschacher spielte: sie galt in ihrer feinen Kleidung als unangreifbar und ihre Notizen über Preis und Gewicht waren verbindlich. Für den Zwischenhändler war diese Arbeit unschätzbar günstig – und so durfte sie später im Hause des Viehhändlers und seiner Frau sich für den Eigenbedarf Butter stampfen und von Zeit zu Zeit eine Rinderzunge mitnehmen – für meinen Vater und bis heute für mich eine Delikatesse.

Zurück zum Telefon an der Wand. Wenn ich mich recht erinnere, dienten die damaligen Telefongespräche allein dazu, die Viehtransporte zwischen Friesland und dem Schlachthof in Düsseldorf terminlich zu organisieren. Selten rief ein Landwirt vor Ort an, weil er eine Kuh oder ein Schwein verkaufen wollte oder eher musste. Hausschlachtungen waren an der Tagesordnung und der Viehhändler musste schon eine gehörige Überredungskunst einsetzen, wenn eine Kuh vom Niederrhein den Weg ins Schlachthaus antreten sollte. Es war Nachkriegszeit und Fleisch Mangelware.

Am Telefon wurden Gespräche vereinbart, aber Kaufgespräche niemals abgeschlossen. Wie sollte auch der notwendige Handschlag (oder mehrere Handschläge) medial übersetzt werden? Das Telefongespräch (abgesehen von der öfteren Unterbrechung oder mangelnder Qualität der Übertragung) diente – kurz und knapp – der Terminvereinbarung, niemals dem Kaufabschluss. Kaufgespräche geschahen in Augenhöhe, manchmal stimmgewaltig – und ohne schlagende Hände kam kein Deal zustande.

Zugegeben, diese kommunikative Situation führte auch – bewusst oder unbewusst – zu Missverständnissen oder Betrug. Wurden Betrug oder Täuschungsabsicht erkannt, dann war das Kaufgespräch „ein für allemal“ beendet; man war „übers Ohr gehauen“ worden. Übrigens kannte der Viehhändler seine „Pappenheimer“ und arbeitete mit einem Vertrauensvorschuss, der auf Erfahrung beruhte. Natürlich war auch der Kaufvermittler ein Schlitzohr: er konnte vortäuschen, was er nicht war, wenn er sprach und handelte.

Das wussten auch seine Handelspartner. Aber da gab es noch meine Mutter, die ehrenhafte, korrekte Buchhalterin aus katholischem Hause; sie brachte aus der Not, ihre Familie zu ernähren, ihre Tugend, ihre Tadellosigkeit in das Geschäft des (Vieh-)Marktes ein. Hinzu kam, dass sie eine Verbündete hatte: die Ehefrau des Viehhändlers. Beide konnten verhindern, dass er zu oft gerichtlich belangt wurde (und er seinen Gewinn verspielte). Zwar gelang das nicht immer, und die Geschichte fand kein glückliches Ende.

Zurück zur Struktur von Kommunikation: Was lernen wir über die Struktur von Sprachspielen im Medium der Telefonübertragung? Mich zumindest hat diese frühe Erfahrung zu telefonieren – in diesem mir fremden Milieu – bis heute geprägt; telefonieren dient mir (wenn ich nicht schreiben oder mailen kann) der Informationsweitergabe und ersetzt kein Gespräch „auf Augenhöhe“. Ich muss mich anstrengen, wenn ich Erfahrungen und Emotionen übermitteln soll oder will. Am liebsten unterbreche ich und bitte um ein „persönliches“ Gespräch. Wenn das die Situation nicht erlaubt, verharre ich in einer Notsituation.

Doch ich muss, schon wenn ich andere Familienmitglieder beobachte, feststellen, dass der gewohnheitsmäßige Gebrauch des Mediums Telefon die kommunikative Situation verändert hat: Ehefrau und Tochter führen Dauergespräche mit ihren Freundinnen am Telefon, in denen sie auch „ihr Herz ausschütten“ können. Was bedeutet das für das Medium Telefon und die Struktur der Kommunikation?

Es gibt keine „digitale“ Kommunikation, sondern einen digitalen Informationsaustausch (notwendiger- und sinnvollerweise), da die Wahrnehmung der Kommunikationspartner, realer Menschen, eingeschränkt, möglicherweise verzerrt oder gestört oder manipuliert ist. Die Möglichkeit oder Notwendigkeit (um störende Nebengeräusche zu vermeiden) stummzuschalten, zeigt die Verkehrung gegenüber zwischenmenschlicher Kommunikation. Disziplinierung, und nicht Empathie (oder auch Antipathie), wird zum Maßstab des Informationsaustausches.

Das ist für den Austausch von Informationen (z.B. im Straßenverkehr oder in den Wissenschaften) notwendig (Prinzip der Eindeutigkeit), zumindest hinreichend für das gemeinsame Verstehen der Information, aber für zwischenmenschliche Wahrnehmung unzureichend. An menschlicher Wahrnehmung sind Augen, Nase, Ohren, Hautkontakt und Körperhaltung beteiligt und werden im Gehirn verarbeitet.

Natürlich weiß ich, dass auch Zustimmung oder Ablehnung, Empathie der Antipathie symbolisch mitteilbar sind – die Mobile-Aktivitäten zeigen es in zunehmendem Maße  und das Angebot an symbolischen Zeichen wird immer größer, aber der spontane „Austausch von Gefühlen“ geht verloren; bzw. ist manipulierbar. Zwar ist auch der ausgebildete Schauspieler in der Lage, unterschiedlichen Rollen ein ausdruckstarkes „Gesicht“ zu geben, aber in diesem Fall ist das ein Resultat seiner beruflichen Leistung; jedoch im Fall der Handy-Kommunikation reicht ein Tastendruck. Hinzu kommt, dass gezeigte Emotionen von Außenstehenden kontrollierbar werden.

Grundsätzlich stellt sich bei allen Formen menschlicher Kommunikation das Verhältnis von Distanz und Nähe. Mit welchen Mitteln ist z.B. ein „vertrautes Gespräch“ herstellbar, selbst wenn die Gesprächspartner weit voneinander entfernt sind? Das Verhältnis von Distanz und Nähe ist nicht durch die Entfernung der Gesprächspartner voneinander bestimmbar. Dies lässt sich durch ein uraltes Mittel der Kommunikation klären: den Brief. Und die Vertrautheit eines Briefes lebt von der Sprache.

Zum Neuen Jahr und zu Mariä Lichtmess 2020: Erleuchtung bedarf der Aufklärung, sonst zerstreut sich das Licht.

Kritische Überlegungen zur LWL-Aktion „finde dein Licht“ 2020 in der Klosterlandschaft Westfalen-Lippe

Das Licht strahlt nicht nur in der Finsternis, sondern – gezielt eingesetzt – erhellt es die Dunkelheit voller Chaos, Vernichtung und Verbrechen. Die Aufklärung von Versagen, Verbrechen, Vertreibung, Krieg und mutwilliger Vernichtung ist notwendige Voraussetzung der Verantwortung, die wir Menschen für uns, für unsere Mitmenschen, für die Natur, für die Welt haben.

Diese Verantwortung der Menschen als „sterbliche Schöpfer“ (so Hannah Arendt 1958) ist nicht abschiebbar, nicht delegierbar auf eine „höhere Macht“ oder „die Natur“, sondern die Menschen sind eigenverantwortlich für das, was sie tun und ob und wie sie Probleme lösen.

Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden“, so formuliert Hannah Arendt bereits 1958 in ihrem Aufsatz „Die Krise in der Erziehung“. Nicht von ungefähr, sondern bewusst steht diese Aussage innerhalb ihrer Konzeption aufgeklärten Lernens für das Problemfeld Gesellschaft; ausgehend von der Erziehungskrise der Nachkriegszeit in den USA.

Der Anspruch, verantwortlich für Gesellschaft und Welt zu sein, wäre eine Überforderung, würde sie den Menschen als bloßes Individuum betreffen. Verantwortung kann nur wirksam sein, wenn sie auch gesellschaftlich strukturiert und organisiert ist. Mitbestimmung, Gewaltenteilung, Minderheitenschutz, demokratische Verfassung und Rechtsstaatlichkeit sind keine Zugaben, sondern für das friedliche und gerechte Zusammenleben der Menschen konstitutiv, denn, um Hannah Arendt noch einmal zu zitieren, die Welt muss „dauernd neu eingerenkt werden“.

Hannah Arendt (1906-1975) hat in ihrer publizistischen Tätigkeit immer wieder auf die Notwendigkeit und das Risiko des Denkens und Lernens „ohne Geländer“ hingewiesen. Ich verweise zum Lektüreeinstieg auf die Text- und Briefsammlung „Denken ohne Geländer“, hrsg. v. H. Bohnet und K. Stadler, im Piper-Verlag, München/Zürich 2005.

Des weiteren erinnere ich an Pablo Picassos berühmtes Bild „Guernica“, das 1937 als Reaktion auf die Zerstörung der Stadt Guernica im spanischen Bürgerkrieg durch den Luftangriff der deutschen Legion Condor entstand und heute im Museum in Madrid zu sehen ist. Die Fackelträgerin – in diesem Bild – erhellt die Vernichtung von Mensch und Tier durch faschistische Gewalt.

Ich wünsche mir, dass die Veranstaltungen in den 31 Klöstern und Kirchen der Klosterlandschaft Westfalen-Lippe „finde dein Licht“ zu Beginn des Neuen Jahres 2020 diese – weiterhin weltweit aktuelle – Aufklärung mit bedenken und zur Sprache bringen. Denn die Lichtmetapher ist mehrdeutig: sie zielt nicht nur auf die Erleuchtung nach innen, sondern verlangt Aufklärung in die Gesellschaft und die Welt.

Ich sehe darin eine dauernde Verpflichtung für die Arbeit in meinem Projekt des „Aufgeklärten Realismus“ und verweise auf mein im Februar 2020 erscheinendes Buch: „Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf“. Das Buch erscheint im agenda-Verlag in Münster, umfasst etwa 240 Seiten, und kostet 17,90 EUR.

Inkonsequente Perversion

Spontane Anmerkung zum Adorno-Denkmal
auf dem Theodor-W.-Adorno-Platz in Frankfurt am Main

Ich weiß, es gibt keinen Zufall. Aber der Frankfurt-Tourismus macht das Unwahrscheinliche möglich: Bei der Wikipedia-Lektüre im Internet – ich bereitete unter dem Stichwort: neue Altstadt Frankfurt einen vorösterlichen Besuch vor – fand ich einen Hinweis auf das Adorno-Denkmal von Vadim Zaktarov, seit 2003 auf dem Theodor-W.-Adorno-Platz in Frankfurt am Main aufgestellt.

Da ich seit längerem nicht mehr in der Krönungsstadt der deutschen Kaiser und des Bankenkapitals war, wußte ich nichts von diesem Glaskubus, „frei zugänglich und immer geöffnet“, wie die Touristen-Information behauptet; gerne – und unreflektiert – würde ich mich an Adornos Schreibtisch setzen und den stupiden Takt seines Metronoms auslösen.

Aber nein, mir gingen beim Anschauen der Fotografie andere Phantasien perverser Art durch meinen Kopf:

(1) Perversion eins: Hätte nicht auch Adorno gleich Lenin oder Pater Pio einbalsamiert werden können und, an seinem Schreibtisch sitzend, für die Ewigkeit ausgestellt?

Ich gebe zu, diese perverse Phantasie übersteigt seine von mir unterstellte Eitelkeit und widerspricht meinem Wissen und meiner Sympathie für die negative Dialektik einerseits, und seinen hochaktuellen „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ andererseits; Reflexionen, in denen sich der Begriff Erlösung – um der Erkenntnis willen – nicht vermeiden lässt.

(2) Perversion zwei: Ich stelle mir vor, mein Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer in M. wäre öffentlich zur Schau gestellt. Der Berliner Zeichner Matthias Beckmann hat ihn in meinem „überfüllten“ Zimmer gezeichnet und mein Chaos dokumentiert. Abgesehen davon, ob es überhaupt möglich wäre, diese Unordnung – so die äußere Wahrnehmung – post mortem nachzukonstruieren, B. hätte gegen diese Perversion ihr Veto eingelegt; denn diese Zur-Schau-stellung hätte die Vergeblichkeit ihrer Mahnung, endlich einmal aufzuräumen und Ordnung zu schaffen, „in Ewigkeit“ dokumentiert.

(3) Perversion drei: Meiner Überzeugung nach ist die einzig sachgemäße Lösung eines Denk-mals für einen toten Philosophen und Musiktheoretiker: ein leerer Glaskubus; mit der Unterschrift versehen: Über die Vergeblichkeit, die Dialektik von kairos und chronos aufzuheben.

Dann wären alle geehrt, die mit Leidenschaft nachdenken. Aber ich vermute, nicht nur die Berufsphilosophen würden dieses Artefaktum ebenfalls als inkonsequente Perversion verdammen.

Herbstgedanken – scheinbar ungeordnet

  1. Ich erfreue mich an Astern; sie dokumentieren im Garten die Farben des Herbstes.
  2. Ich weiß, eher aus dem literarischen Kontext, um Herbstzeitlose (Colchicum autumnale); Gift- und Heilpflanze zugleich.
  3. Vor mir auf meinem Schreibtisch steht das magische Zahlenquadrat aus Dürers Melencolia I aus dem Jahr 1514; wie ein „Wunder“ ergibt jede Summierung den Wert 34.
  4. Das Efeu am Nachbarschuppen ist zunehmend wein- bis blutrot geworden; mein Blick aus dem Fenster bestätigt mir: es ist Herbst. Ein kurzer intensiver Sonnentag, ein zeitiger Sonnenuntergang, eine kühle Nacht – und ich sehne das winterliche, gemütliche Oberbett herbei.

Die Summe dieser Wahrnehmungen und Empfindungen signalisiert mir: Herbstzeit ist Endzeit – und ermöglicht mir, konsequent über Endlichkeit, Ewigkeit und Tod nachzudenken. Daher sitze ich jetzt an meinem Schreibtisch und formuliere die Ergebnisse meiner Reflexion; Nachdenken und Aufschreiben sind meine Passion im Alter und seit jeher meine Leidenschaft – ich weiß, in der Dämmerung beginnt die Eule der Minerva ihren Flug.

Nur wer Endlichkeit und Tod radikal denkt, kann auch Ewigkeit – ein anderes Wort für Erlösung – radikal, also von der Wurzel her denken. Die Hoffnung auf ein besseres Leben „in einer anderen Welt“ ist irrig; chronologisch gesehen ein Unfug.

Um diese Behauptung zu verstehen (und nicht als Produkt meiner herbstlichen Melancholie zu desavouieren), hole ich im Folgenden weit aus:

Ich habe gehört, Rosen können ohne Stacheln gezüchtet werden; ich nenne diese Praxis pervers.

Denn die Rosen ihres Schutzes zu berauben, ist nicht nur unsachgemäß, sondern nimmt ihnen ihr natürliches Sein, ihre Schönheit. Vorsicht im Umgang mit der Natur gehört zur Verantwortung der Menschen als „sterbliche Schöpfer“ (Hannah Arendt). Ich würde es auch ablehnen, Herbstzeitlose ohne Gift zu züchten, denn das ist keine Problemlösung, sondern eine Problemverdrängung durch Manipulation. Abgesehen davon nützt das produzierte Gift den Menschen; es kommt allein auf die Dosis an; die Herbstzeitlose ist auch eine Heilpflanze: sie repräsentiert nicht nur eine Jahreszeit, sondern nutzt auch uns Menschen. Natürlich sind Menschen als autonome Vernunftwesen in der Lage, die Natur zu manipulieren, aber ich werte diese Fähigkeit in diesem Kontext als Missbrauch und nicht als Problemlösung.

Karl R. Popper sah das Leben als einen andauernden Prozess des Problemlösens an, dessen Erkenntnis der Fehlerhaftigkeit den Lernprozess vorantreibt. Aber meiner Überzeugung nach hat die kritische Analyse menschlicher Lernprozesse mehrere Dimensionen: Es geht nicht nur darum, aus eingestandenen Fehlern zu lernen, sondern auch, Gebrauch von Missbrauch zu unterscheiden, und den Gebrauchswert der Dinge zu erkennen und zu schützen, um den der arbeitsteiligen, kapitalistischen Geldwirtschaft geschuldeten Tauschwert zu relativieren; besser noch: in Schach zu halten. Ob der dem Grundgesetz von 1949 entnommene Begriff der „Sozialpflichtigkeit des Eigentums“ dafür eine ausreichende Bewertungsbasis darstellt, wage ich weiterhin zu bezweifeln. Der radikale Unterschied von Privateigentum und gesellschaftlichem „Eigentum“ an Produktionsmitteln (im weiten Sinn) bleibt eine notwendige Basis für Erkenntnis und Handeln.

Ja, lieber Bertolt Brecht, wir leben in finsteren Zeiten, aber das ist weder Zufall, noch Schicksal, sondern wir tragen die Verantwortung für die Zukunft der Menschen und der Natur in der Gegenwart. Und von dieser Verantwortung können wir uns nicht entlasten, sondern müssen sie jetzt und gemeinsam wahrnehmen.

Daher kritisiere ich verschiedene Entlastungsstrategien und Fluchtphantasien grundsätzlich:

  1. Casus non datur: es gibt keinen Zufall, nur unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten, die wir oft falsch (bewusst oder unbewusst) interpretieren.
  2. Unser heutiges anthropozentrisches Weltverständnis (Weltbild) ist irreversibel, ist unüberholbar; weder durch Träume in die Vergangenheit, noch in die Zukunft. Ich wiederhole die Position von Hannah Arendt: wir Menschen sind sterbliche Schöpfer (nicht Geschöpfe!). Das schützt uns nicht grundsätzlich vor Missbrauch, Entfremdung, Verbrechen und Selbstvernichtung, aber wir sind in der Lage, diese Zustände durch Einsicht und Arbeit zu verändern.
  3. Religion wird trotz allen Missbrauchs, allen Aberglaubens und aller Instrumentalisierungen nicht verschwinden, aber die Marxsche Kritik bleibt gültig: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend.“ Die Konsequenz dieses „Doppelcharakters“ (Marx spricht im Anschluss an Hegel von „Aufhebung“) bedeutet für mich die Notwendigkeit der „Übersetzung“ (des Christentums) in eine Strategie konsequenter Menschenliebe.

Daher spreche ich – als aufgeklärter Realist – von der Dynamik des Vorläufigen in der Gegenwart. Ich bin ein Tagträumer des Hier und Jetzt. (Zugegeben, der Begriff des „Tagtraumes“ bedarf der Präzision.) Wir Menschen sind fähig (Kant spricht von der Mündigkeit) und verantwortlich (als Vernunftwesen), die Probleme der Welt (Alltag, Wissenschaft, Schutz der Natur) zu lösen. Vorläufigkeit ist kein Schicksal, ist weder endgültig noch führt sie zwangsläufig in die Verzweiflung. Ihre Dynamik ist erfahrbar (und formulierbar) im Kairos der Erlösung als einer konkreten Utopie.