Dass die Empathie zwischen den Menschen „durch den Magen“ geht, ist ein Allgemeinplatz, also eine Alltagsweisheit. Denn die Nahrungsaufnahme ist nicht nur eine biologische Notwendigkeit, um zu überleben, sondern ein gemeinsamer Genuss; zumindest kann sie das sein.
Im Anfang war das Gespräch (sermo), so übersetzt auf mutige Weise Erasmus von Rotterdam den ersten Vers des Prologs des Evangelium nach Johannes. Und ich ergänze: Im Anfang war das Gespräch beim gemeinsamen Essen.
Wer zum gemeinsamen Essen und Trinken einlädt, will Empathie zeigen und in dieser Form gemeinsame Nahrungsaufnahme realisieren. Das gemeinsame Essen setzt also nicht nur Genussfähigkeit der Menschen voraus, sondern ein Bewusstsein des gemeinsamen Genießens; schon bei der Vor- und Zubereitung des Essens; sogar bei der Einladung zu einem gemeinsamen „Mahl“.
In unserer arbeitsteiligen Warengesellschaft (mit all ihren Konsequenzen) beginnt der Genuss (oder Verdruss/Ärger) schon mit der Auswahl des entsprechenden Restaurants (im Internet) oder (zumindest bei mir) beim Lesen der Speisekarte die Vorfreude des Genießens.
Diese Vorfreude kann durch die Beachtung der Preisangaben der einzelnen Speisen durchkreuzt werden. Überteuerte Preise trüben den Genuss oder schon die Vorfreude und erhöhen das Risiko bei Geschmacklosigkeit.
Diese Überlegung zeigt, Genuss geht nicht nur durch den Magen, sondern stets auch durch den Kopf. Auch Genuss ist eine Bewusstseinsleistung und seine sprachlichen Ausdrucksformen entsprechen sowohl der jeweiligen Ess- wie Gesprächskultur. Selbst in der übertriebenen und oft skurrilen Sprachgebung der Speisen durch den Star- und Sternekoch und dessen Ambitionen bleibt – formal gesehen – der Zusammenhang von Gespräch und Genuss erhalten.
Insofern ist die „Phänomenologie der Ernährung und Umwelt“, wie sie die französische Philosophin Corine Pelluchon in ihrem Buch vorgelegt hat, eine notwendige Reflexion und Ergänzung, wenn (wie meine Absicht) das Programm der Aufklärung „zuende“ gedacht wird. Zu einer aufgeklärten Anthropologie am Ende des Anthropozän gehört die ökologische Analyse mit allen Sinnen.
Diese Anthropologie muss alle Bewusstseinsleistungen – ihre Entstehung, ihre Wirkungen und die zugehörigen Sprachspiele (also Ausdrucksformen) umfassen. So kann ich die Übersetzung des Erasmus – sermo statt verbum zu Beginn des Prologs des Evangeliums nach Johannes – erweitern: Im Anfang war und ist die Kommunikation. Auch das Genießen ist eine Potenz des menschlichen Bewusstseins; diese Möglichkeit kann ansteckend wie abschreckend erzählt werden.
p.s.
Für meine Analyse des Bewusstseins, in der ich mir schon sprachlich den Genuss einer Speise (und anderes darüber hinaus) vorstellen kann, spricht, dass es unterschiedliche Denkformen und Sprachspiele gibt: Einbildung ist weder Einsicht noch Utopie.
Literaturhinweis:
Corine Pelluchon: Wovon wir leben. Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt, Darmstadt 2020
Titel der Originalausgabe: Les nourritoures. Philosophie du corps politique, 2015