Missverständnisse bezüglich des utopischen Denkens

Das utopische Denken ist keine Strategie zur Durchsetzung der Demokratisierung der Gesellschaft oder der allgemeinen Anerkennung und Durchsetzung der Menschenwürde. Nur auf der Basis eines aufgeklärten Realismus können Friedensordnungen durchgesetzt werden und Gesellschaften bestehen, die die Menschenrechte achten und die Risiken der Zerstörung und Vernichtung minimieren: vom Gesundheitsschutz über den Naturschutz bis zum Menschenschutz. Risikominimierung in diesem Sinn ist eine ständige Verpflichtung unter dem (kategorischen) Imperativ, die Menschenwürde zu achten.

Paradiesvorstellungen sind demgegenüber eine gefährliche Illusion. Ich nenne zwei Beispiele: ein verrücktes und ein zeitgemäßes. Meine Zielvorstellung für ein menschenwürdiges Leben sind weder die (scheinbare) Selbstverständlichkeit goldener Wasserhähne – wie in der Utopia-Vorstellung des Thomas Morus, die dort eine zivilisationskritische Funktion hat –, noch eine phantasierte Erde ohne Eingriff der Naturgewalt.

Dies klingt verrückt und meine Aussage bedarf der Klärung, um nicht missverstanden zu werden: Ich wünsche mir kein Paradies auf Erden und kein Ende der „natürlichen“ Evolution. Das erstere wollen Menschen nicht, wenn sie „aufgeklärt“ sind (im Sinne des homo praestans); das weitere können sie nicht, wenn sie aufgeklärte Realisten sind. Die mögliche Selbstzerstörung der Erde ist der Grenzfall, der die Evolutionsgesetze des Kosmos unberührt lässt.

Zunächst kläre ich, warum ich irrige Zielvorstellungen ablehne:

(1) Die Geschichte der goldenen Wasserhähne ist in der Utopia des Thomas Morus nachzulesen, geschrieben in England im Jahr 1517.

In diesem erfundenen Inselstaat bestehen die Instrumente der Wasserversorgung aus Gold, weil dieses Metall für die Inselbewohner seinen spezifischen Wert verlieren soll.

Der Hintergrund dieser Episode wird deutlich: die Faszination des Goldes/des Geldes wird hinterfragt; in diesem fiktiven Paradies ist es wertlos. Die utopische Vorstellung ist eine Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen.

Ich hoffe, es ist einsichtig, dass ich in einem solchen paradiesischen Utopie-Staat nicht leben will. Denn zu einem menschenwürdigen Leben gehört es, ausreichend sauberes Wasser für alle Menschen zu haben. Der Gebrauchswert des Wassers und seine Zufuhr sind entscheidend und nicht der Tauschwert der Ware „Wasser aus goldenen Hähnen“.

(2) In der notwendigen Diskussion um ausreichenden und wirksamen Naturschutz wird oft suggeriert, der Mensch könne die Gewalt und Entwicklung der Naturkräfte in seinem „Wohnraum“, der Erde, abschaffen. Das ist „natürlich“ eine Illusion.

Der Mensch kann sich wirksam vor den Naturkräften auf der Erde schützen und die Natur vor der Zerstörung bzw. vor dem Missbrauch bewahren – mit der möglichen Konsequenz der Selbstzerstörung (z.B. durch selbstverschuldete Erderwärmung).

Das menschliche Bewusstsein kann sehr wohl zwischen durch Menschen erzeugte Katastrophen und kosmischen Veränderungen, die der natürlichen Evolution und ihren Gesetzen entsprechen, unterscheiden und sachgemäß reagieren.

Naturschutz ist aus menschlicher Sicht immer auch Überlebensschutz. Hannah Arendts Aussage, dass der Mensch ein „sterblicher Schöpfer“ sei, bezieht sich meiner Überzeugung nach nicht nur auf die Sterblichkeit der Individuen, sondern auch auf seine Stellung im Universum.

Was bedeutet diese Erkenntnis für das utopische Denken?

Das utopische Denken – als Bewusstseinserweiterung – beendet nicht – im chronologischen Sinne – die Entwicklung des Universums, deren Gesetzmäßigkeiten im Detail noch erforscht werden (z.B. durch die Theorie der „schwarzen Löcher“), und beendet auch nicht die Entwicklung des Lebens auf den Planeten (auch wenn der „homo sapiens“ eine Endform des Lebens auf der Erde darstellen sollte).

Das utopische Denken – so meine begründete Überzeugung – ermöglicht dem menschlichen Bewusstsein – im kairologischen Sinn – Erlösung zu denken und Befreiung – im Sinne der Menschenwürde für alle Menschen durchzusetzen.

Im religiösen Sprachspiel des messianischen Denkens bedeutet diese Möglichkeit – unter den Bedingungen des aufgeklärten Realismus – für menschliches Bewusstsein am Ende des Anthropozän, Erlösung in Form einer konkreten Utopie zu denken und diese existenzielle Erfahrung – kairologisch, nicht chronologisch in Befreiung und Empathie umzusetzen – und davon – im Sprachspiel der Oxymora – zu erzählen.