Kommunikation als Lernprozess? – Telefonieren oder Handeln per Handschlag

ICH gehöre zu den Menschen in Deutschland, die zu Ende des Zweiten Weltkrieges noch während der Nazi-Diktatur geboren wurden und in der sog. Nachkriegszeit ohne Telefon aufgewachsen sind; oder wie wir am Niederrhein zu sagen pflegten: die ohne Telefon groß geworden sind.

WIR kannten nur das Radio, entweder als Volksempfänger für Kriegsstandsmeldungen und Bomberangriffe, eingebettet in politische Propaganda, oder als Begleiter (für meine Mutter in unserer Wohnküche) mit Schlager- und Volksmusik. Daher kannte ich – fast auswendig – Willy Schneiders Lied: „Man müsste nochmals 20 sein und so verliebt wie damals …“ – oder die gleich große (und alte) Conny Froeboes mit ihrem geträllerten: „Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein und dann raus ins Schwimmbad …“ – das Problem: ich hatte und habe keine kleine Schwester.  Ich blieb Einzelkind (overprotected durch meine Mutter) – und musste mit meinem Vater wöchentlich ins städtische Hallenbad.

Nach der Währungsreform stand in unserem Wohnzimmer, das nur an hohen Feiertagen und bei besonderem, seltenen Besuch geheizt wurde, ein großes Blaupunkt-Radiogerät. Dort durfte ich sonntags nach dem Mittagessen – wohlverpackt in Decken im guten Sessel Kinderfunk hören: „Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv“.

Der kleine Radioempfänger in der Wohnküche auf dem Küchenschrank diente sowohl der Unterhaltung wie der Information durch die Nachrichtensendungen des NWDR. Gestalt wie Gebrauch eines Telefonapparates (der hing noch im Flur an der Wand) habe ich erstmals im Haus des Arbeitgebers meiner Mutter, einem umtriebigen und kinderfreundlichen Viehhändler aus dem niederrheinischen Umland, wahrgenommen.

Meine Mutter war als Buchhalterin bei diesem Viehhändler beschäftigt und montags in aller Frühe wurde sie von ihm mit seinem Mercedes abgeholt, um auf dem Düsseldorfer Schlachthof den Viehverkauf finanziell zu regeln. Ab und zu, wenn mein Großvater zum Kinderhüten nicht zur Verfügung stand, durfte ich mitfahren (die ersten Autofahrten in meinem Leben) und nach dem Schlachthofbesuch waren wir noch im Haus des Viehhändlers; dort musste meine Mutter die Buchhaltung so regulieren, dass illegale Transaktionen gegenüber dem Finanzamt nicht auffielen – und ich erlebte das Telefon als Medium des An- und Verkaufs von Kühen und Schweinen.

Schon auf dem Düsseldorfer Schlachthof hatte ich seltsame, mir fremde Formen der Kommunikation zwischen den Viehhändlern und den kaufenden Metzgern erlebt. Der Viehhändler verkaufte im Auftrag der Bauern – in meinem Fall meist aus Friesland und Oldenburg – das Vieh stückweise an die Metzger, die morgens früh in den Schlachthof gekommen waren und vor dem Kauf und der Schlachtung das Vieh begutachteten. Beim Geschäftsgespräch zwischen Viehhändler und Metzger wurde ein Kilopreis für jedes Rindvieh ausgehandelt, in abgekürzten Sprachfetzen und mit wiederholtem gegenseitigen Schlagen der Handflächen, bis durch einen endgültigen Handschlag der Verkauf besiegelt war.

Jetzt begann die vertrauensvolle Arbeit meiner Mutter; sie musste den Kilopreis verbindlich notieren; dann wurden die Tiere gewogen; das Gewicht wurde ebenfalls notiert – und meine Mutter errechnete den Gesamtpreis. So weit, so gut oder schlecht für Käufer oder Verkäufer. Denn zwischen Verkauf und Waage wurden die Tiere, die laut brüllten, mit Wasser getränkt. Die Viehknechte beruhigten mich, indem sie sagten, der Durst der kurz vor der Schlachtung stehenden Kühe und Schweine müsse natürlich gelöscht werden. Schon damals war ich unsicher, ob diese Aussage der Wahrheit entsprach, denn zwischen den Verkäufern, Käufern und Knechten gab es immer wieder Rangeleien; laut und für mich unverständlich. Es ging um das verbindliche Gewicht der Tiere; denn danach richtete sich der Gesamtpreis.

Heute weiß ich, welche Rolle meine Mutter in diesem Geschacher spielte: sie galt in ihrer feinen Kleidung als unangreifbar und ihre Notizen über Preis und Gewicht waren verbindlich. Für den Zwischenhändler war diese Arbeit unschätzbar günstig – und so durfte sie später im Hause des Viehhändlers und seiner Frau sich für den Eigenbedarf Butter stampfen und von Zeit zu Zeit eine Rinderzunge mitnehmen – für meinen Vater und bis heute für mich eine Delikatesse.

Zurück zum Telefon an der Wand. Wenn ich mich recht erinnere, dienten die damaligen Telefongespräche allein dazu, die Viehtransporte zwischen Friesland und dem Schlachthof in Düsseldorf terminlich zu organisieren. Selten rief ein Landwirt vor Ort an, weil er eine Kuh oder ein Schwein verkaufen wollte oder eher musste. Hausschlachtungen waren an der Tagesordnung und der Viehhändler musste schon eine gehörige Überredungskunst einsetzen, wenn eine Kuh vom Niederrhein den Weg ins Schlachthaus antreten sollte. Es war Nachkriegszeit und Fleisch Mangelware.

Am Telefon wurden Gespräche vereinbart, aber Kaufgespräche niemals abgeschlossen. Wie sollte auch der notwendige Handschlag (oder mehrere Handschläge) medial übersetzt werden? Das Telefongespräch (abgesehen von der öfteren Unterbrechung oder mangelnder Qualität der Übertragung) diente – kurz und knapp – der Terminvereinbarung, niemals dem Kaufabschluss. Kaufgespräche geschahen in Augenhöhe, manchmal stimmgewaltig – und ohne schlagende Hände kam kein Deal zustande.

Zugegeben, diese kommunikative Situation führte auch – bewusst oder unbewusst – zu Missverständnissen oder Betrug. Wurden Betrug oder Täuschungsabsicht erkannt, dann war das Kaufgespräch „ein für allemal“ beendet; man war „übers Ohr gehauen“ worden. Übrigens kannte der Viehhändler seine „Pappenheimer“ und arbeitete mit einem Vertrauensvorschuss, der auf Erfahrung beruhte. Natürlich war auch der Kaufvermittler ein Schlitzohr: er konnte vortäuschen, was er nicht war, wenn er sprach und handelte.

Das wussten auch seine Handelspartner. Aber da gab es noch meine Mutter, die ehrenhafte, korrekte Buchhalterin aus katholischem Hause; sie brachte aus der Not, ihre Familie zu ernähren, ihre Tugend, ihre Tadellosigkeit in das Geschäft des (Vieh-)Marktes ein. Hinzu kam, dass sie eine Verbündete hatte: die Ehefrau des Viehhändlers. Beide konnten verhindern, dass er zu oft gerichtlich belangt wurde (und er seinen Gewinn verspielte). Zwar gelang das nicht immer, und die Geschichte fand kein glückliches Ende.

Zurück zur Struktur von Kommunikation: Was lernen wir über die Struktur von Sprachspielen im Medium der Telefonübertragung? Mich zumindest hat diese frühe Erfahrung zu telefonieren – in diesem mir fremden Milieu – bis heute geprägt; telefonieren dient mir (wenn ich nicht schreiben oder mailen kann) der Informationsweitergabe und ersetzt kein Gespräch „auf Augenhöhe“. Ich muss mich anstrengen, wenn ich Erfahrungen und Emotionen übermitteln soll oder will. Am liebsten unterbreche ich und bitte um ein „persönliches“ Gespräch. Wenn das die Situation nicht erlaubt, verharre ich in einer Notsituation.

Doch ich muss, schon wenn ich andere Familienmitglieder beobachte, feststellen, dass der gewohnheitsmäßige Gebrauch des Mediums Telefon die kommunikative Situation verändert hat: Ehefrau und Tochter führen Dauergespräche mit ihren Freundinnen am Telefon, in denen sie auch „ihr Herz ausschütten“ können. Was bedeutet das für das Medium Telefon und die Struktur der Kommunikation?

Es gibt keine „digitale“ Kommunikation, sondern einen digitalen Informationsaustausch (notwendiger- und sinnvollerweise), da die Wahrnehmung der Kommunikationspartner, realer Menschen, eingeschränkt, möglicherweise verzerrt oder gestört oder manipuliert ist. Die Möglichkeit oder Notwendigkeit (um störende Nebengeräusche zu vermeiden) stummzuschalten, zeigt die Verkehrung gegenüber zwischenmenschlicher Kommunikation. Disziplinierung, und nicht Empathie (oder auch Antipathie), wird zum Maßstab des Informationsaustausches.

Das ist für den Austausch von Informationen (z.B. im Straßenverkehr oder in den Wissenschaften) notwendig (Prinzip der Eindeutigkeit), zumindest hinreichend für das gemeinsame Verstehen der Information, aber für zwischenmenschliche Wahrnehmung unzureichend. An menschlicher Wahrnehmung sind Augen, Nase, Ohren, Hautkontakt und Körperhaltung beteiligt und werden im Gehirn verarbeitet.

Natürlich weiß ich, dass auch Zustimmung oder Ablehnung, Empathie der Antipathie symbolisch mitteilbar sind – die Mobile-Aktivitäten zeigen es in zunehmendem Maße  und das Angebot an symbolischen Zeichen wird immer größer, aber der spontane „Austausch von Gefühlen“ geht verloren; bzw. ist manipulierbar. Zwar ist auch der ausgebildete Schauspieler in der Lage, unterschiedlichen Rollen ein ausdruckstarkes „Gesicht“ zu geben, aber in diesem Fall ist das ein Resultat seiner beruflichen Leistung; jedoch im Fall der Handy-Kommunikation reicht ein Tastendruck. Hinzu kommt, dass gezeigte Emotionen von Außenstehenden kontrollierbar werden.

Grundsätzlich stellt sich bei allen Formen menschlicher Kommunikation das Verhältnis von Distanz und Nähe. Mit welchen Mitteln ist z.B. ein „vertrautes Gespräch“ herstellbar, selbst wenn die Gesprächspartner weit voneinander entfernt sind? Das Verhältnis von Distanz und Nähe ist nicht durch die Entfernung der Gesprächspartner voneinander bestimmbar. Dies lässt sich durch ein uraltes Mittel der Kommunikation klären: den Brief. Und die Vertrautheit eines Briefes lebt von der Sprache.