Zur Dynamik des Vorläufigen – Aussagen-Essenz

Das Vorläufige (Resultat einer Problemlösung) ist nicht endgültig, sondern bleibt vorläufig. Daher spreche ich von der Dynamik des Vorläufigen: provisorisch und antizipativ zugleich.

Alles Problemlösen ist vorläufig: daher sind Erkenntnis-Zuwachs und Erkenntnis-Fortschritt zu unterscheiden.

Erlösung (als Ende allen Problemlösens) wird als chronologischer Endpunkt missverstanden. Sterblichkeit, Endlichkeit ist ein konstitutioneller Teil des Naturprozesses, ist Teil der Evolution.

Erlösung kann sinn-voll nur als Utopie verstanden werden; ist als konkrete Utopie erzählbar, aber nicht begreifbar; ist existenziell erfahrbar, aber nicht experimentell reproduzierbar. Ich spreche (in diesem Kontext) von kairologischer Erfahrung. Daher muss zwischen erzählenden Sprachspielen und begreifender Sprache unterschieden werden.

Diese Unterscheidung ist für religiöse Sprachspiele (wenn sie anders und mehr als „Geplapper“ sind) entscheidend: ihre Erzählungen (im Großen wie im Kleinen) sind rückbindend an ein und in einem theozentrischen Weltbild. Zumindest gilt das für die sog. „monotheistischen“ Religionen in ihrem gegenwärtigen Zustand.

So wie der Monotheismus Resultat einer geschichtlichen Entwicklung ist, so ist auch die theozentrische Welt-Vorstellung vorläufig. Im Prozess der Aufklärung wird diese Vorstellung durch das anthropozentrische Weltbild und seine sachgemäßen, begreifenden Sprachspiele der „Erfahrungswissenschaften“ (mit Einschluss der sog. Naturwissenschaften) abgelöst.

Menschen sind „sterbliche Schöpfer“ (so Hannah Arendt). Durch menschliche Arbeit (denken und handeln als Formen der Problemlösung) wird Erfahrung in Erkenntnis umgesetzt. Dieser Lernprozess bleibt vorläufig: Probleme lösen schafft keine Erlösung. Die menschliche Geschichte unterscheidet sich von der biologischen Evolution genau dadurch, dass Erkenntniszuwachs nicht zwingend Erkenntnisfortschritt bedeutet (Dies ist meiner Einsicht nach ein grundlegender Denkfehler im Weltbild der Atheisten/Naturalisten.)

Aber es ist möglich, das „Andere“ an Erfahrung im theistischen Weltverständnis kritisch zu analysieren und in das anthropozentrische Weltbild zu übersetzen: als Utopie der Erlösung. Im jüdisch-christlichen Weltverständnis des Exodus/der Metanoia zeigt sich diese Utopie als messianische Hoffnung. Messianische Vorstellungen (als Hoffnung auf Erlösung) sind auch im aufgeklärten Weltverständnis (der Menschen als sterbliche Schöpfer) verstehbar, also erzählbar und sinn-voll.

Ich verstehe das Christentum (seiner Entstehung und Wurzel nach) als „Radikalisierung“ des messianischen Judentums; als „Universalisierung“ der Täuferbewegung in den beiden ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung.

Bei diesem „Prozess des Verstehens und Übersetzens“ können und müssen – in genauer kritischer Analyse der Erzählungen aus dieser Zeit – folgende Missverständnisse vermieden werden:

  • die jüdisch-christlichen messianischen Erwartungen müssen nicht als chronologischer Ablauf verstanden werden, sondern bilden eine kairologische Struktur;
  • Religion als Rückbindung an den Theismus (z.B. durch die Erzählung eines Schöpfungs-Mythos) wird relativiert;
  • Atheismus als eine methodische Voraussetzung, Probleme zu lösen (im Sinne der Erfahrungswissenschaften), ist denkbar (sinn-voll), aber als Weltanschauung ideologisch bestimmt;
  • Die Kenosis-Erzählung – überliefert und begründet durch Paulus aus Tarsus – zeigt die spezielle Struktur der messianischen Utopie: Hoffnung gegen alle Hoffnung;
  • Erlösung ist nicht als „Gottesherrschaft“ – im Sinne irdischer Machtausübung und am Ende der menschlichen Geschichte – zu verstehen, sondern Erlösung zeigt sich als ohnmächtige „Menschwerdung Gottes“ im kairologischen Sinn; diese Botschaft hat folgende Konsequenzen:
  • Erlösung ist ein absolutes Geschenk (eine reine Gabe),
  • Eucharistie (danksagende Erinnerung) und Diakonie (konsequente Menschenliebe, grenzenlos) – statt kultischer Verehrung; dies wird „offenbart“ durch traditio und missio;
  • „Torheit“ als christliche Verhaltensweise: Entweltlichung ist nicht Weltflucht, sondern Befreiung (sprachlich ausgedrückt im Oxymoron: „Kinder Gottes“).

Detaillierte Informationen zu dieser religionsphilosophischen Überlegung können in meinem neuen Buch „Der aufgeklärte Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen“, Münster 2020 (agenda-Verlag) nachgelesen werden.