Mangel an Differenzierung und Übermaß an Emotionalität in der politischen Kontroverse

Mein Plädoyer für mehr Nüchternheit und die Prüfung sowie Anerkennung von Kompromissen

Von Zeit zu Zeit besuche ich Diskussionsveranstaltungen der SPD in unserer Region; sowohl aus traditioneller Verbundenheit (immerhin kann ich damit kokettieren, über 50 Jahre Mitglied dieser Partei zu sein und aus einer sozialdemokratischen Familie in Krefeld am Niederrhein zu stammen), als auch aus Selbstverpflichtung eines homo politicus, trotz altersbedingten Rückzugs aus der regionalen wie lokalen Politik (ein wenig) weiter „mitzumischen“.

Ich muss mein Verhalten als homo politicus noch weiter präzisieren. Ich gehöre zu der radikalen Minderheit (von heute unter 10 %), die sich nicht nur in der Schulzeit schon politisch engagiert haben (ich hatte damals den Spitznamen „Ollenhauer“), sondern von der ersten Möglichkeit an in allen Wahlen SPD gewählt haben; selbst in der Zeit der „Studentenbewegung“ mit ihrer/meiner Sympathie für linke studentische Sektierergruppen oder später als Gewerkschaftsvorsitzender der GEW in NRW (von 1994 bis 2004). Ich bin also ein sog. „Stammwähler“ und weiß, dass heutzutage Wahlen nicht mehr durch diese Wählergruppe entschieden werden. Die „Wechselwähler“ entscheiden – und ihr Verhalten ist schwer vorherzusagen.

Dennoch schätze ich mich, als Wissenschaftler methodisch geschult, als selbstkritischen Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklung ein und frage mich daher, ob meine aktuelle Wahrnehmung des menschlichen Verhaltens in unserer Gesellschaft sich erfahrungs- und altersbedingt verändert hat (ein subjektiver Faktor), oder ob meine aktuellen Beobachtungen objektivierbar sind; der Phänomenologe in mir weiter wirksam ist.

Unter der Prämisse, dass letztere Wahrnehmung weiter wirksam ist und ich mich als Theoretiker der Aufklärung und der Epoché (nach Husserl) zurecht verstehe, stelle ich fest, dass Leidenschaft und Emotion in Bezug auf die medienpräsenten Akteure zunehmen und eine nüchterne, interessenbezogene Einschätzung politischen Verhaltens (und ihrer Rechtfertigungsgründe) kaum noch möglich ist.

Ich erläutere diese Feststellung durch eine Analyse der aktuellen Kontroverse über die sog. GroKo.

  • In der vorletzten Woche nahm ich an einer SPD-Mitgliederversammlung des Unterbezirks Steinfurt teil, in der das weitere Vorgehen in Bezug auf mögliche Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und CDU/CSU auf der Basis des „Sondierungspapiers“ diskutiert wurde. Im vollbesetzten Saal waren über 120 Mitglieder anwesend, nicht nur Funktionäre, sondern auch mir nicht bekannte Mitglieder aus den Ortsvereinen. Es fand eine korrekt geführte Diskussion statt; am Ende wurde eine Probeabstimmung mit klarem Ergebnis durchgeführt: 2/3 der Anwesenden sprachen sich gegen eine Aufnahme von Koalitionsverhandlungen auf der Basis des vorliegenden Sondierungspapieres aus. Im Gegensatz dazu hat sich der Bundesparteitag am darauf folgenden Samstag nach leidenschaftlicher, aber fairer Diskussion mit klarer Mehrheit (aber unter 60%) für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen ausgesprochen.
  • Ich habe auf der Mitgliederversammlung des Unterbezirks Steinfurt den Ausdruck „Große Koalition“ kritisiert. Er stellt eine Selbsttäuschung dar; es geht allein um eine mögliche Koalition mit ausreichender „Kanzlermehrheit“, in der die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag mit Recht ihren Vorschlag für einen neuen Bundeskanzler/eine neue (alte) Bundeskanzlerin dem Bundespräsidenten präsentiert. Weiterhin habe ich noch kurz meine mir bewusste Minderheitenposition (Stichwort: Stabilitätspakt; veröffentlicht in der Lokalzeitung) erwähnt; aber es war offensichtlich, dass an dieser Möglichkeit unseres Grundgesetzes weder Interesse bestand, noch die Möglichkeit gesehen wurde, eine Bundeskanzlerin in einem ersten Wahlgang mit ausreichender Mehrheit (auf Vorschlag des Bundespräsidenten) zu wählen, ohne einen Koalitionsvertrag (der alle Politikbereiche betrifft) zuvor zu vereinbaren. Die jahrzehntelange Praxis von Koalitionsverhandlungen und einem zu vereinbarenden Koalitionsvertrag hat die Möglichkeiten des Grundgesetzes, das keinen Koalitionsvertrag kennt, völlig überlagert – und bei allen Akteuren, auch den engagierten Wählerinnen und Wählern – wurde diese Praxis verinnerlicht.
  • Wenn ich das Verhalten der SPD-Mitglieder in dieser Versammlung richtig beobachte und einschätze, dann fand bei den allermeisten keine Interessenabwägung auf der Grundlage des Sondierungspapiers statt – ich vermute, die meisten hatten das Papier nicht gelesen –, sondern eine emotionale Polarisierung gegenüber der geschäftsführenden Bundeskanzlerin Merkel und eine immer wieder geäußerte Hoffnung, die SPD könne nur in der Opposition wieder „zu alter Kraft und Stärke“ zurückfinden.
  • Der innerparteilich verständliche Wunsch, dass wieder 30% (und mehr) Wählerinnen und Wähler bei Wahlen die SPD wählen, wird sowohl mit der Notwendigkeit, konsequent und ohne Folgenabschätzung in die Opposition zu gehen, begründet, als auch mit der Gegenposition, die SPD bleibe oder werde nur glaubwürdig, wenn sie Verantwortung übernehme und ihre Fraktion auf der Basis eines Koalitionsvertrages mit der CDU/CSU Frau Merkel im ersten Wahlgang (auf Vorschlag des Bundespräsidenten und mit der sog. „Kanzlermehrheit“) zur Bundeskanzlerin wähle. Ich habe große Zweifel, ob die eine oder andere Position das Wahlverhalten zugunsten der SPD beeinflusst. Zumindest kenne ich keine empirisch abgesicherte Untersuchung, die den innerparteilichen Wunsch nach besseren Wahlergebnissen durch das eine oder andere Verhalten stützt. Eher sehe ich einerseits eine europaweite Tendenz, dass sog. „Volksparteien“ an Einfluss verlieren (und das gilt nicht nur für die Sozialdemokratie), andererseits das Verhältnis zwischen Parteien und den wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern sich langfristig ändert – und das hat Konsequenzen für die parteimäßige Zusammensetzung der Parlamente und die mögliche Bildung von Regierungen. Daher ist die Behauptung, sog. „Minderheitsregierungen“ seien von vorne herein instabil, unbegründet. Darüber hinaus ist zu prüfen, durch welche strukturellen Maßnahmen unser parlamentarisches System effektiver und demokratischer gestaltet werden kann, um die Aktivität und die Einflussmöglichkeiten z.B. des Bundestages gegenüber Ministerialbürokratie, Verwaltung und Parteienhierarchie zu stärken. Es kann in einer lebendigen Demokratie nicht sein, dass die gewählten Abgeordneten wochenlang auf die sog. Sondierungsgespräche der Parteien starren, fast „bewegungslos“, und ihre Aufgabe der Gesetzgebung nicht ausreichend oder nur zögerlich wahrnehmen.
  • Aber diese Überlegungen sind längerfristig notwendig, ändern aber nichts an der jetzigen Situation. Das bestehende Grundgesetz erlaubt schon jetzt Zwischenlösungen zwischen ausreichenden Koalitionen zur Bildung einer Regierung, die auf der Basis eines umfassenden Koalitionsvertrages zwischen den jeweiligen beteiligen Parteien (nicht den Fraktionen) geschlossen werden, und einer unsicheren Minderheitsregierung, deren Kanzler oder Kanzlerin (in einem letzten Wahlgang) nur mit relativer Mehrheit gewählt wurde und möglicherweise vom Bundespräsidenten ernannt wurde, falls dieser nicht zum Mittel der Neuwahl greift. Diese Minderheitsregierung ist nicht nur durch Abstimmungsniederlagen bedroht und durch ein konstruktives Misstrauensvotum – das sind auch alle Mehrheitsregierungen, denn unsere Verfassung kennt kein imperatives Mandat unserer gewählten Abgeordneten –, sondern sie sieht sich möglicherweise einer Mehrheit an Abgeordneten gegenüber, die die Durchsetzung ihres politischen Programmes systematisch durchkreuzen und verunmöglichen. Ich behaupte, dass dies nicht so sein muss, denn die Verantwortung für politisches Handeln liegt dann zunehmend bei den im Bundestag vorhandenen Fraktionen und ihrer Kompromissfähigkeit, aber ich sehe ein, der bisherigen Praxis des Verhältnisses von Regierung und Parlament mangelt es an solcher Erfahrung, und ohne strukturelle Änderungen unseres GG ist eine Minderheitenregierung kaum sinnvoll realisierbar. Und der Bundespräsident wird sich im Zweifelsfall eher für die Auflösung des Bundestages und Neuwahlen entscheiden.
  • Aber ich bleibe dabei: es gibt eine „stabile“ Zwischenlösung: der Stabilitätspakt, um eine eindeutige Kanzlerwahl mit ausreichender Kanzlermehrheit (im ersten Wahlgang) zu erreichen.
  • Die „Realität“ hat meinen Vorschlag überholt; aber das ändert nichts an meiner Analyse.

Metelen, 21. Januar/01. Mai 2018