Die Heimsuchung des Zeichners Matthias Beckmann

Als Mensch, der sich berufsmäßig mit Theorie und Praxis von Lernumgebungen beschäftigt hat, weiß ich um die Bedeutung einer sachgemäßen wie unterstützenden Umgebung für erfolgreiche Lernprozesse. Aber neben der stimulierenden Wirkung kenne ich auch die inszenierte Wirkung eines Kopfarbeiters in seinem Arbeitszimmer, abgebildet in einer Fotografie oder in einer Lithografie. Die entschlüsselbare Symbolik der Selbst- oder Fremddarstellung soll die Bedeutsamkeit des oder der Porträtierten zeigen und verstärken.

Beispielhaft erinnere ich an eine Fotografie von Virchows Arbeitszimmer in der Charité in Berlin: der berühmte Chirurg mit mehr als einem halben Dutzend menschlicher Skelette und zahlreichen Schädeln hinter seinem Arbeitstisch. Oder ich denke an Dürers Kupferstich „Der heilige Hieronymus im Gehäus“ aus dem Jahre 1514 mit dem gutmütigen Löwen und dem schlummernden Hund im Vordergrund. Der Löwe geistert bis heute durch die Literatur. Nicht zu vergessen sind die Holzschnitte des „Büchernarren“ seit dem Mittelalter bis zum „Wol-geschliffenen Narren-Spiegel … hrsg. durch Wahrmund Jocoserius, Nürnberg 1730; in der Nachfolge von Sebastian Brants „Narrenschiff“.

Immer steht im Mittelpunkt der Zeichnung die Person und seine Umgebung; vom heiligen Gelehrten bis zum bibliophilen Narren und zum Pathologen in seinem Panoptikum. Anders verhält sich der Zeichner und Grafiker Matthias Beckmann aus Berlin. Ihn interessiert die Umgebung und das Arbeitszimmer als Ort – der Arbeitsstuhl bleibt leer.

Vermittelt durch ein Stipendium des DA Kunsthauses Gravenhorst im Kreis Steinfurt war Matthias Beckmann in unserer Wohnung in Metelen und hat u.a. mein Arbeitszimmer heimgesucht. Das zeichnerische Ergebnis seiner konzentrierten und auswählenden Beobachtung liegt vor. Ich bin so frech zu behaupten, dass von der Zeichnung auf den Eigner des leeren Arbeitssessels, also mich, rückgeschlossen werden kann und wird. Die einen werden es Chaos nennen, die anderen mögen im Bereich der Kreativität nach einer passenden Bezeichnung suchen. Ich nenne die Bleistift-Zeichenmethode induktiv; sie erlaubt einen Rückschluss vom Arbeitsort auf den dort (nicht) sitzenden Kopfarbeiter.

Zum Schluss meiner Reflexion kann die Praxis der „Heimsuchung“ durch den Künstler Matthias Beckmann aufgeklärt werden: wie bei mir üblich ziehe ich das etymologische Wörterbuch zu Rate: das mittelhochdeutsche Wort heime suochen bedeutet: „in freundlicher oder feindlicher Absicht daheim aufsuchen“ und heimsuochunge meint: “Hausfriedensbruch“. Ich kann die freundliche Absicht bezeugen. Aber eine letzte Frage sei erlaubt: Wie hätte der Löwe reagiert, wenn Matthias Beckmann Hieronymus in seiner Studierstube heimgesucht hätte?