Grillasch (Grillage)

Krefeld/Metelen, 14./16. April 2016 (16 Uhr Café Heinemann, Hochstr.)

In Erinnerung an meine Mutter, eine Ur-Krefelderin

Ich sitze – in Erinnerung an meine Eltern (regelmäßige Café-Heinemann.Besucher; speziell meine Mutter, entweder mit ihren Freundinnen oder meinem Vater im Schlepptau) – in diesem Café, habe mir einen Tisch mit Rundblick ausgesucht und bestelle mir bei der „Bedienung“ – jüngere Frauen mit leicht Krefelder Akzent und weißer Schürze, auch wenn sie mir im Gespräch gesteht, aus Mönchengladbach zu sein, also ich bestelle mir – neben dem üblichen „Latte“ und der Flasche Mineralwasser – ein Stück „Grillasch-Torte“; eine Krefelder/Niederrheinische Spezialität.

Grillagetorte deswegen, damit mir der spezielle Geschmack dieser gefrorenen, süßlichen, mit Schokoladensplitter durchsetzten Torte die Erinnerung an die ersten 18 Jahre meines Lebens in Krefeld verstärkt.

Und ich höre Gesprächsfetzen einer älteren Frauengruppe am Nebentisch:
Gebärmutter, Eierstöcke – stationär oder in der Praxis; typisches Gerede beim Kaffee. Der Krefelder/die Krefelderin wissen endlos über Krankheiten und Operationen, zumeist anderer, zu erzählen – Hans-Dieter Hüsch (das Schwarze Schaf vom Niederrhein) und meine Mutter lassen grüßen.

Ich bin für einen Tag an den Niederrhein, in meine Geburtsstadt Krefeld zurückgekehrt. Und werde nie die Episode mit meiner Mutter im Café vergessen: es muss 1980 gewesen sein. Ich saß mit meinen Eltern im damaligen Café Sinn auf der ersten Etage; es war am Nachmittag brechenvoll. Wir hatten zielsicher doch noch einen Tisch gefunden. Ich (1943 geboren, Einzelkind, overprotected) wurde von meiner Mutter so plaziert, dass ich ihren Persianermantel (oder wars schon der Nerz) an der Garderobe ständig „im Auge“ hatte, um einen möglichen Diebstahl – oder sei es nur eine Verwechslung – zu verhindern – sonst hätte sie ihren kostbaren Mantel, der im Sommer wohlverpackt im Kleiderschrank hing und nach Mottenkugeln roch – denn die Motten waren nach den Dieben die zweite Bedrohung, sonst hätte sie ihre Kostbarkeit auch im vollbesetzten, dampfenden Café nicht ausgezogen.

Plötzlich entdeckte meine Mutter Clementine eine Freundin auf der anderen Seite der Tischreihen, sprang auf, fuchtelte aufgeregt mit den Armen, so dass die Freundin aufmerksam wurde, und rief quer durch den Raum: „Niere raus, Promotion gut!“

Ich erbleichte und errötete zugleich. Noch heute spüre ich die Veränderung meiner Gesichtshaut. Aber die Freundin hatte verstanden, wie sie durch ein leichtes Kopfnicken andeutete und steuerte auf unseren Tisch zu, DieTischnachbarn horchten kurz auf, der Inhalt schien sie nicht weiter zu irritieren – und die Gesprächskulisse setzte sich fort.

So sind sie, die Krefelderinnen, so erinnere ich meine Mutter – und kann die Wahrnehmung von Hans-Dieter Hüsch nur bestätigen. Der Informationsgehalt der Botschaft meiner Mutter ist nur noch von marginalem Interesse: Meine Tante war zunächst erfolgreich operiert worden und ich hatte mein Doktorexamen erfolgreich abgeschlossen.

Ich bin für einen Tag und eine Nacht zu einem Klassentreffen nach Krefeld zurückgekehrt und am nächsten Tag wieder ins Münsterland zurückgefahren.

P.S. Der Abrechnungszettel des Cafés Heinemann druckt den Namen der Torte korrekt: Grillage Torte. Aber ich bin sicher: kaum ein Krefelder kennt die korrekte Schreibweise; denn wer Grillaasch sagt, der schreibt auch Grillasch.
Da es sich bei diesen Episoden um Weiter-zu-Erzählendes handelt, bestand eine Freundin darauf: Grillage-Tochte(pardon:)Torte gäbe es auch in Bochum (Ruhrgebiet). Wohin die Niederrheiner überall ausgewandert sind! Und ein letztes Wort: Wikipedia kennt Fundorte für Grillage in Böhmen und Bayern schon im 19. Jahrhundert. Und hätte ich meiner Mutter gesagt: laut Internet wird Grillage auch Havanna-Torte genannt, hätte sie geantwortet: „Junge, Du spinnst!“ – trotz Promotion.

Grußwort zur Aufstellung einer Gedenksäule zur Erinnerung an die Schöppinger Bürgerinnen und Bürger, die, angeführt von Heinrich Krechting, 1534 als Täufer nach Münster zogen, in das „Neue Jerusalem“, um das endzeitliche Königreich Christi aktiv zu erwarten

(Neufassung vom 08. Oktober 2015)

Meine Damen und Herren,

wie Einige von Ihnen wissen, arbeite ich ehrenamtlich im Archiv des Heimatvereins Metelen und erstelle dort u.a. eine regionalgeschichtliche Bibliothek. Weiterhin bin ich Mitglied im Arbeitskreis „Kulturraum Scopingau“ und habe Anfang dieses Jahres zusammen mit Thomas Flammer das Buch „Beiträge zur Kirchengeschichte des Scopingaus“ herausgegeben. Seit Jahren beschäftige ich mich mit der Gestalt des Hinrich Krechtinck/Heinrich Krechting aus Ihrem Ort Schöppingen und habe sein Leben von ca. 1540 bis 1580 in der Grafschaft Gödens in Ostfriesland in meinem Buch „Die radikale Umkehr des Heinrich Krechting am Schwarzen Brack“ (2013) auch literarisch verarbeitet.

Die Einladung und die Absicht, hier am historischen Rathaus eine Gedenksäule für die Beteiligung Schöppinger Bürger am Täuferreich in Münster aufzustellen, hat mich überrascht und auch verstört. Überrascht bin ich, dass sich heute (2015) politische Gemeinde und Heimatverein auf diese Weise an das Münsteraner Täuferreich erinnern, einer radikalen Variante der Reformation, von Martin Luther bekämpft, mit zahlreichen Vorurteilen belastet und 1535 durch die Söldnertruppen des damaligen Fürstbischofs gewaltsam zerstört. Bis heute erinnern die drei Käfige am Lamberti-Kirchturm in Münster an dieses Ende – als Warnung vor radikaler Reform, vor Aufruhr gegen die Obrigkeit, vor Revolution.

Verstört hat mich diese Einladung, da ich Sorge habe, dass dieses Mahnmal der Erinnerung an „500 Jahre Reformation“ – im übernächsten Jahr – nicht gerecht wird. Ich füge hinzu, diese Sorge hat mir Pfarrer Böcker in einer Vorabklärung unserer Manuskripte zum größten Teil genommen, auch wenn wir im Detail unterschiedliche Einschätzungen des Täuferreiches in Münster haben.

Dabei stören mich nicht kleinere historische Ungenauigkeiten im Einladungstext, sondern ich will der Täuferbewegung als einer radikalen Form der Reformation zu Beginn der Neuzeit gerecht werden und auch der (mennonitischen) Täuferbewegung, die es bis heute weltweit gibt – und die ich zu den christlichen Kirchen zähle.

Dass Sie hier in Schöppingen Heinrich Krechting und seine Familie ins Zentrum der Erinnerung stellen, kann und muss auch bedeuten, dass Sie seine gesamte Lebensgeschichte und die seiner Kinder erinnern: Heinrich Krechting hat sich in einen konsequenten Calvinisten gewandelt, hat 40 Jahre lang bis zu seinem Tod 1580 zwar geschwiegen, aber wurde Kirchenvorsteher der reformierten Kirche in Dykhausen, Landwirt, Stadt- und Hafenplaner in der Grafschaft Gödens – und sein Enkel setzte diese Tradition als Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen fort, ohne seinen Großvater zu verleugnen.

Daher gebe ich zu bedenken;

dass die Zerstörung des Täuferreiches in Münster und die zahlreichen Hinrichtungen der Täuferinnen und Täufer im 16. und 17. Jahrhundert nicht das Ende der radikalen Erneuerung des Christentums und ihrer Kirchen bedeuten. Heinrich Krechting aus Schöppingen, Bruder des hingerichteten Pfarrers Bernd Krechting, hat weitergewirkt und als radikaler Reformator die Neue Stadt Gödens in Ostfriesland am Schwarzen Brack geplant und erbaut – für alle Konfessionen und Religionen, weltoffen und mit Deichen geschützt vor den Stürmen der Nordsee und den Reaktionen der Herrschenden.

Selbstkritisch gegenüber seiner früheren Praxis als Kanzler des Täuferreiches und menschenfreundlich für alle Glaubensflüchtlinge aus dem Reich Karls V., blieb er bis zu seinem Tod am 28. Juni 1580 stumm, aber nicht wirkungslos.

Um nicht missverstanden zu werden, will ich zum Abschluss meines Grußwortes bewertend aus heutiger Sicht verdeutlichen:

Heinrich Krechting war Täter in einer fanatischen Bewegung und als ausgebildeter Jurist ihr Vollstrecker; er erwartete aktiv und gewaltsam das endzeitliche Gottesreich. Er lebte als Täufer in einem Land, in dem auf der Grundlage eines Reichsgesetzes auf den Empfang und das Bekenntnis zur Erwachsenentaufe die Todesstrafe stand.

Krechting überlebte, anders als sein Bruder Bernd, die Eroberung Münsters und löste sich nur langsam von seinen apokalyptischen Hoffnungen, die Wiederkehr Christi stehe bevor.

Zuletzt floh er in die Grafschaft Gödens am Schwarzen Brack (im heutigen Ostfriesland) und wandelte sich in einen gewaltfreien Calvinisten; wahrscheinlich nach intensiven Gesprächen mit Gräfin Hebrich von Gödens und seinem Freund, dem polnischen Reformator Johannes a Lasco aus Emden.

Ich meine, diese Entwicklung, diese Umkehr des Heinrich Krechting aus Schöppingen und seiner Familie, dieses Modell einer Hafenstadt wie Neustadtgödens, in der alle Flüchtlinge frei und gemeinsam leben und arbeiten konnten, sollte beim Nachdenken über dieses Mahnmal nicht vergessen werden.

Auch seine Enkel und Urenkel, Heinrich Krefting und Hermann Wachmann, anerkannte Bürgermeister der freien Hansestadt Bremen, haben diese Erinnerung an ihren Großvater in einer schriftlichen „Nachricht“ festgehalten.

Grenzen und Möglichkeiten der Erziehung zur Selbstständigkeit und Eigenverantwortung im System Schule

Erfahrungen und Reflexionen aus dem Bereich der beruflichen Bildung junger Menschen

(Dieser Text entstand im Herbst 2009 und erschien 2010 in überarbeiteter und verkürzter Form G.Bartsch/R.Gaßmann (Hrsg.): Generation Alkopops, Freiburg 2010.)

Nach Angaben des Bildungsreports Nordrhein-Westfalen 2009 (Lander 2009) verließen im Schulabgangsjahr 2008 in NRW 14.296 Jugendliche eine allgemeinbildende Schule, ohne einen Hauptschulabschluss erreicht zu haben. Dies waren 6,4% aller 223.452 Schulabgängerinnen und Schulabgänger. Über die Hälfte (52,8%) dieser Schulabgänger besuchten zuvor Förderschulen. Insgesamt erzielten Mädchen im Durchschnitt bessere Abschlüsse als Jungen (4% zu 2,6% ohne HS-Abschluss).

Die Erfahrungen aus meinen letzten Berufsjahren als Berufsschullehrer (bis 2008) von Schülern eines Berufsgrundschuljahres (alle männlich) ergänzen diese Zahlen: Alle Schüler hatten nur den Hauptschulabschluss. Keiner hatte einen Ausbildungsplatz im dualen System gefunden. Auch die Verweildauer von mindestens 10 Jahren im „allgemeinbildenden“ Schulsystem hatte sie nicht dazu befähigt, einen regulären Ausbildungsplatz zu erlangen.

Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass Schulabschlüsse immer häufiger außerhalb des allgemeinbildenden Schulsystems erworben werden, z.B. an Volkshochschulen, in speziellen Programmen von Bildungsträgern/sozialen Trägern oder an privaten Institutionen (für 2006 13,7% Hauptschulabschlüsse im Vergleich zu 89% Fachhochschulreife und 14,5% Allgemeine Hochschulreife).

Erfahrungshintergrund meiner Ausführungen

Seit langem beschäftige ich mich theoretisch wie praktisch mit „systemischen“ Mängeln unserer (öffentlichen) Schulen und Hochschulen, wie z.B. Bluff-Techniken, Beliebigkeit der Theorie-Produktion, langfristige Erfolgslosigkeit, strukturelle Verantwortungslosigkeit, kontinuierlicher Qualitätsverlust und erhöhte Resistenz gegen Veränderung.

Praktisch habe ich in verschiedenen Projekten gearbeitet: Zur Reform der Hochschulausbildung (1974-1978 Universität Münster), 2005 bis 2008 im Modellversuch MOSEL „Modelle des selbst gesteuerten und kooperativen Lernens und die notwendigen Veränderungen in Bezug auf die Organisations- und Personalentwicklung“ – an drei Berufskollegs im Ruhrgebiet (innerhalb des Modellversuchsprogramms SKOLA).

Reflexion der Erfahrungen aus dem Modellversuch MOSEL[1]

Schülerinnen und Schüler verfügen im Laufe ihrer „Schulkarriere“ über interessengeleitete (wenn auch verinnerlichte) Verhaltensstrategien, die mit den von Lehrerinnen und Lehrern erwarteten Verhaltensweisen nicht kongruent sind. Der schulische Anpassungsprozess betrifft nicht nur die Schülerinnen und Schüler, sondern prägt auch das Verhalten der Lehrkräfte. Sie passen sich durch Ordnungsvorstellungen, Belohnungs- und Bestrafungsverhalten (z.B. in der Leistungsbenotung) und den Umgang mit allen Beteiligten im „Biotop“ Schule den Erwartungen an dieses System an.

Ein teilweise naives Theorie-Praxis-Verständnis bei der Rekonstruktion von Lernprozessen behindert wirksame Lernprozesse. In der alltäglichen Schulpraxis ist „Theorie“ oft nichts anderes als Lehrbuchwissen (inklusive Unterrichtsversuche) und Legitimationswissen (Ideologie) sowie ungeklärte Ritualpraxis (z.B. bei Unterrichtsbeginn oder der Ausgabe von Klassenarbeiten). Die Erfolgskontrolle durch Notengebung in Klassenarbeiten oder Prüfungen spiegelt nur scheinbar reale Leistungen wider. Der Widerspruch zwischen Lernerfolg in der Schule und späterem Misserfolg in Beruf und Alltag – und umgekehrt – bleibt unaufgeklärt.

Es kann mit guten Gründen bestritten werden, dass der oben genannte Anpassungsprozess für die Kompetenzentwicklung, selbst reguliert zu lernen und zu arbeiten, erfolgreich ist. Zum offenen Widerspruch kommt es im Berufskolleg, indem die dort arbeitenden Lehrkräfte oft wie selbstverständlich vom beruflichen Lernen, also von einem vorgegebenen Berufsinteresse ausgehen. Zwei unterschiedliche Strategien treffen aufeinander, kollidieren miteinander; zumindest in dem Unterricht, der sich an beruflichen Lernsituationen orientiert. Diese Brüche oder Kollisionen relativieren sich in der dualen Ausbildung, da die Auszubildenden einen Ausbildungsvertrag geschlossen haben, der für sie den Beginn einer Berufskarriere darstellt und so ein Berufsinteresse (mehr oder weniger zwingend) erzeugt. Es sei denn, die Aufnahme eines bestimmten Ausbildungsverhältnisses ist eine „Verlegenheitslösung“. Dann kollidieren bei dem einzelnen Schüler schon unterschiedliche Interessen.

In vollzeitschulischen Ausbildungen oder berufsvorbereitenden Bildungsgängen ist ein spezifisches Berufsinteresse zunächst nicht gegeben. Es muss daher erzeugt und entwickelt werden und darf nicht stillschweigend erwartet und bei Nichtvorhandensein negativ sanktioniert werden. Die Hoffnung, Schülerinnen und Schüler ohne artikulierte und kommunizierte Einsicht in ein für sich selbst akzeptiertes und erfahrenes Berufsinteresse für den Lernprozess in beruflichen Lernsituationen motivieren zu können, ist, so zeigt die Erfahrung, trügerisch. Nur durch die Aktivierung eigener Interessen mit dem Ziel, ein nachhaltiges Berufsinteresse bei den Lernenden zu entwickeln, entsteht und entwickelt sich ein subjektgesteuerter Lernprozess. Hierin steckt die Schwierigkeit, aber auch die Lösungsperspektive des Problems, Lernen als „Holschuld“ und nicht mehr als „Bringschuld“ der Lehrkräfte zu bestimmen.

Die im Bildungsgang der zweijährigen Berufsfachschule im Berufsfeld Sozial- und Gesundheitswesen (Paul-Spiegel-Berufskolleg Dorsten) gemachten und dokumentierten Erfahrungen greifen Tramm und Naeve (2007) auf, um die notwendige Abkehr von einem „naiven didaktischen Naturalismus“ zu begründen und zu explizieren. Gerade wenn es um Selbstorganisation in Bildungsprozessen geht, sind systematische Förderung und die Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen notwendig, denn „lernförderliche authentische Situationen sind nicht einfach naturwüchsig vorzufinden“. Es geht um die Vermeidung von Beliebigkeit und um die sachgemäße und anspruchsvolle Modellierung kompetenzförderlicher Problemsituationen. Sowohl die Entscheidung darüber, woran gelernt werden soll, als auch die Gestaltung lernförderlicher Problemsituationen müssen in der Kompetenz professionell Lehrender liegen (Tramm & Naeve 2007). Dies ist gerade bei der Planung und Durchführung vollzeitschulischer Bildungsgänge relevant. Problemsituationen müssen so ausgewählt und geplant werden, dass sie lösbar sind, keine Überforderung darstellen, kompetenzförderlich und bildungsrelevant sind.

Ein weiteres Element des Konzepts ist die Erzeugung und Entwicklung von Berufsinteresse. Wie sonst ist eine erfolgreiche Entwicklung beruflicher Kompetenz möglich? Wenn dieses Konzept beruflichen Lernens und Lehrens – den Möglichkeiten nach – erfolgreich ist, dann ergeben sich weitreichende schulpolitische Konsequenzen, z.B. für die Förderung und das sog. „Nachholen“ allgemeiner Abschlüsse im Berufskolleg, in dem junge Erwachsene lernen. Individuelle Förderung in den verschiedenen Bildungsgängen ist demnach keine Fortsetzung individueller Förderung in der Grundschule und den Schulen der Sekundarstufe I, sondern eine neue Möglichkeit, auf der Basis beruflicher Kompetenzentwicklung gefördert zu werden. Berufliches Lernen, sowohl als duale Ausbildung mit mehreren Lernorten (Ausbildungsbetrieb, Berufskolleg, überbetriebliche Ausbildungsstätte) als auch vollzeitschulische Ausbildung (Berufskolleg mit Werkstätten für die Fachpraxis, Betriebspraktika), ermöglicht berufliche Qualifikationen verschiedener Art und die Kompetenz, sich selbstständig weiterbilden zu können. Ist die Entwicklung beruflicher Kompetenz, die kommunikative und soziale Kompetenz einschließt, in einem bestimmten Maß erfolgreich erreicht und dokumentiert (durch Berufsabschlüsse unterschiedlicher Art oder auch Teilqualifikationen), kann die jeweilige Gleichwertigkeit in Bezug auf bisher nicht erhaltene Schulabschlüsse (Hauptschulabschluss, Fachoberschul-, Fachhochschul- und Allgemeine Hochschulreife) festgestellt und anerkannt (zertifiziert) werden.

Die erfolgreiche Anerkennung von Schulabschlüssen ist daher nicht als Resultat der Wiederholung bisheriger Lerninhalte und Methoden misszuverstehen, sondern die formale Anerkennung, im Medium der Beruflichkeit erfolgreich und damit auch eigenverantwortlich gelernt zu haben. Lernprozesse dieser Art sind Bildungsprozesse. Vermutlich trüge diese Art von Lernerfolg auch dazu bei, die Abbruchquoten in der Fachhochschul- und Hochschulausbildung zu senken. Zu bedenken bleibt: Mentalitäten sind – soziologisch gesehen – habituelle Verhaltensweisen, die weder durch Entschluss noch durch Motivation oder Lernmethoden kurzfristig zu ändern sind. Die gesamte Lernumgebung ist neu zu gestalten, die Ausbildung der Lehrenden – inklusive der Aufarbeitung beruflicher Erfahrung – grundsätzlich zu reformieren. Die Erzeugung, Entwicklung und Erfahrung von Berufsinteresse ist daher von großem Nutzen.

Schlussfolgerungen und Vorschläge

Selbstorganisiertes, „eigenverantwortliches“ Lernen ist für berufliches Lernen konstitutiv, um erfahrungswissenschaftlich geprägtes Können zu erzeugen (Neuweg 2005) und zu reflektieren (Kutschka 2008). Empfundene Beliebigkeit gegenüber beruflich relevanten Problemsituationen und bestehendes Desinteresse gegenüber den Anforderungen des beruflichen Lernfelds kann bei den Lernenden nicht durch – noch so gut gemeinte – Motivierungskonzepte verändert werden, sondern verlangt ein anspruchsvolles Gesamtkonzept professionellen Lehrens und Lernens.

Wenn nach den Grenzen und Möglichkeiten der Erziehung zur Selbstständigkeit im System Schule gefragt wird, dann muss empirisch geprüft werden:

Erstens, ob beim schulischen Lernen Verhaltensweisen positiv und nachhaltig verändert werden können.

Zweitens, ob bestehende Entwicklungsstörungen (z.B. aus der Kindheit bzw. aufgrund der Familiensituation) durch die Schule überhaupt abgebaut werden können, so dass auch außerhalb der Schule dauerhaft Selbstständigkeit und Eigenverantwortung praktiziert werden können (Stichworte: soziales, selbst reguliertes Lernen).

Und drittens, ob der systemische Zusammenhang des Lernortes Schule von Lehrenden wie Lernenden erkannt und bearbeitet wird, um Fehleinschätzungen zu vermeiden und wirksam handeln zu können (Stichworte: Wechselwirkung von Lernhandlung und Lernumgebung, Rolle der Lehrkräfte, Wirksamkeit der Erfolgskontrollen).

Um das Lernziel der Selbstständigkeit zu erreichen plädiere ich für folgende Maßnahmen:

  • Problemlösendes Lernen in (beruflichen) Lernsituationen, statt in Schulfächern.
  • Erfolgskontrolle durch Selbst- und Fremdevaluation z.B. durch konsequentes Arbeiten mit dem Lerntagebuch (Portfolio).
  • Nichtsprachliche Lernmethoden (z.B. durch Visualisierungen oder Rollenspiele, um Wünsche zu erkennen oder Tagträume in der Gruppe wahrzunehmen). Die Ausbildung der Lehrkräfte z.B. in Wahrnehmungspsychologie ist bislang mangelhaft.
  • Berufsinteresse entwickeln, statt Motivationstricks anzuwenden (Bildung im Medium der Beruflichkeit) Lernumgebungen verändern, um eigenverantwortliches Lernen zu fördern.
  • Vollständige Lernhandlungen durchführen und evaluieren, statt Lernprozesse dadurch unwirksam zu machen, dass sie voreilig und vorzeitig abgebrochen werden (Ein mögliches Beispiel ist das Arbeiten/Lernen in der sog. „Produktionsschule“).

Darüber hinaus sind zwei Erkenntnisse für selbst reguliertes und selbstbewusstes Lernen und Arbeiten junger Erwachsener konstitutiv:

Alle Lehrkräfte müssen professionell beratungskompetent sein bzw. werden, um die oben genannten Lernprozesse begleiten zu können.

„Gleichwertigkeit“ beim Nachholen von Schulabschlüssen von jungen Erwachsenen (in beruflichen Lernfeldern) ist nicht das Wiederholen des „gleichartigen“ Lernstoffes der Sekundarstufe I.

Literatur

Kutscha, Günther (2008). Beruflichkeit als regulatives Prinzip flexibler Kompetenzentwicklung – Thesen aus berufsbildungstheoretischer Sicht, in: bwp@, Ausgabe 14 (www.bwpat.de)

Lander, Bettina (2009). Bildungsreport Nordrhein-Westfalen 2009. Statistischen Analysen und Studien, Bd. 63. Information und Technik Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

Neuweg, Georg Hans(2005). Implizites Wissen als Forschungsgegenstand, in: Rauner, Felix (Hrsg.): Handbuch der Berufsbildungsforschung, Bielefeld, S. 581 ff

Schmitter, Jürgen (2007a) Die Bildungsgangarbeit des Modellversuches MOSEL, in: F.-W. Horst/J. Schmitter/J. Tölle, Hrsg.: Lernsituationen unter dem Fokus selbst gesteuerten und kooperativen Lernens – Wie MOSEL Probleme löst, Bd. 2, Paderborn, S. 11ff

Schmitter, Jürgen & Weber, Norbert (2007b). Schülerinnen und Schüler zu professionellem Lernen verleiten, in: F.-W. Horst/ J. Schmitter/J. Tölle, Hrsg.: Lernarrangements wirksam gestalten (Wie MOSEL Probleme löst, Bd.1), Paderborn S. 12ff

Schmitter, Jürgen & Weber, Norbert (2008). Schulleitungshandeln: Balance zwischen Innovation und Funktion – Erfahrungen und Maßnahmen aus dem Modellversuch MOSEL, in: Diesner/Euler/Pätzold/Thomas/von der Burg, Hrsg.: Selbstgesteuertes und kooperatives Lernen. Good-Practice-Beispiele aus dem Modellversuchsprogramm SKOLA, Paderborn, S. 271ff

Schmitter, Jürgen & Tölle, Jens (2008). Notwendigkeit und Möglichkeit der Entwicklung von Berufsinteresse in vollzeitschulischen Ausbildungsgängen des Modellversuchs mosel, in: Diesner/Euler/Pätzold/Thomas/von der Burg, Hrsg., a.a.O., S. 247ff

Tramm, Tade & Naeve, Nicole (2007). Auf dem Weg zum selbstorganisierten Lernen – Die systematische Förderung der Selbstorganisationsfähigkeit über die curriculare Gestaltung komplexer Lehr-Lern-Arrangements, in: bwp@, Ausgabe 13 (www.bwpat.de)

Weitere Literaturhinweise

Fuchs, Carina (2005). Selbstwirksam lernen im schulischen Kontext, Kennzeichen – Bedingungen – Umsetzungsbeispiele, Bad Heilbrunn

Karsten, Maria-Eleonora (2005). Evaluation beruflicher Kompetenzentwicklung in der Erzieherausbildung, in: Rauner, Felix (Hrsg.): Handbuch Berufsbildungsforschung, Bielefeld, S. 501ff

Lisop, Ingrid & Schlüter, Anne (Hrsg.) (2009). Bildung im Medium des Berufs?, Frankfurt/Main

Neuweg, Georg Hans (2006). Das Schweigen der Könner – Strukturen und Grenzen des Erfahrungswissens, Linz

Schmitter, Jürgen (1992). Den aufrechten Gang lernen? Das Projekt Gesellschaftkritische Wissenschaftstheorie als Experiment zur Reform der Hochschulausbildung, in: W. Blumberger/D. Nemeth (Hrsg.), Der Technologische Imperativ. Philosophische und gesellschaftliche Orte der Technologischen Formation, München/Wien

Schmitter, Jürgen (2004). Modernisierung der Bildung, Essen 2004

Schiefele, Ulrich, Wild, Klaus-Peter (Hrsg.) (2000) Interesse und Lernmotivation – Untersuchungen zu Entwicklung, Förderung und Wirkung, Münster, New York u.a.

  • [1] Schmitter, Jürgen 2007 und 2008