Habermas diagnostiziert in Bezug auf die Europapolitik die Mönchskrankheit (acedia) und ich wende seine Diagnose auf den Zustand der SPD an.

Man muss schon das Greisenalter erreicht haben – oder sich ihm nähern –, um mit einer der Grundversuchungen des Mönchtums argumentieren zu können, und nicht nur ausreichende Erfahrungen mit dem Mittagsdämon der Schläfrigkeit, sondern auch mittelalterliches Wissen sind notwendig, um mit der Versuchung der (geistlichen) Trägheit auf soziologisch-analytische Weise operieren zu können. Jürgen Habermas kann das in seiner Preisrede zum Deutsch-Französischen Medienpreis, der ihm am 4. Juli 2018 in Berlin verliehen wurde (veröffentlicht in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2018 unter der Überschrift: „Unsere große Selbsttäuschung. Ein Plädoyer gegen den Rückzug hinter nationale Grenzen“). Habermas beschreibt und kritisiert das durch „Schwermut“ geprägte Selbstbild der „Deutschen als gute Europäer“ (als Grenze zur Verantwortungslosigkeit) und erwartet und fordert, die „Schwelle zu supranationalen Formen einer politischen Integration“ zu überschreiten. Notwendig seien konkrete Schritte zu einer „politisch handlungsfähigen Euro-Union“, die von den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land verlangt, „auch über nationale Grenzen hinweg gegenseitig die Perspektive der jeweils anderen (zu) übernehmen“.

Ich stimme dieser Analyse und den daraus sich ergebenen Folgerungen für eine aktive Europa-Politik zu und beziehe die Diagnose von Habermas konkret auf den Zustand der SPD. Die „Schläfrigkeit“ der SPD-Funktionäre, ihren (auch durch die Ideologie des Etatismus geprägten) Rückzug „hinter nationale Grenzen“ und ihr zögerliches Verhalten z.B. in der Durchsetzung eines dringend notwendigen Einwanderungsgesetzes kann und will ich (als Mitglied und Funktionär der SPD seit über 50 Jahren) nicht mehr hinnehmen.

Meine Kritik kann ich am Umgang mit einem geplanten Einwanderungsgesetz verdeutlichen: zwar ist dieses Gesetz geplant (bis Ende dieses Jahres) und ist im Koalitionsvertrag vereinbart, aber die SPD verhält sich zögerlich, obwohl dieses Gesetz, das legale Einwanderung ermöglichen soll (und sicher auch regulieren kann), dringend notwendig ist, um auch Flüchtlingen, deren Aufenthalt nach der Genfer Flüchtlingskonvention nur geduldet wird, eine reale Chance der Einwanderung und Eingliederung zu geben. Warum fordert die SPD nicht offensiv und sofort ein solches Gesetz in Ergänzung der Regeln der Genfer Konvention? Selbst wenn Teile der CDU/CSU desinteressiert sind und schon den Begriff „Einwanderung“ ablehnen.

Ich vermute, dass manche SPD-Funktionäre immer noch nationalstaatlichen Vorstellungen anhängen und einer Einwanderungsregelung keine hohe Priorität einräumen, obwohl sogar ein europäisches Einwanderungsgesetz notwendig wäre. Aber die Angst vor europäischen Regelungen, durch die auch nationale Interessen relativiert werden können, ist groß bzw. die Angst, mögliche Wählerinnen und Wähler zu „verprellen“. Ich erwarte eine klare öffentliche Positionsbildung und nicht die diffuse Hoffnung, es allen recht zu machen.

Aber klare Positionsbildung, die gemeinsam und offensiv vertreten wird – gerade in Wahlkämpfen – ist zur Zeit nicht die Stärke der SPD. Dies gilt auch für eine offensive Europapolitik. Ich erinnere an Willy Brandt und seinen Einsatz für ein demokratisches Portugal – innerhalb der sozialistischen Internationale. Letztere ist faktisch tot und eine Politik zugunsten schwächerer EU-Mitglieder wie z.B. Griechenland kaum zu erkennen.

Neben dem uneingestandenen Etatismus (der in der SPD eine lange Tradition hat) gibt es bei den führenden Funktionären die fatale Lust an der Selbstdarstellung. Hier muss die Entstehung von Parteikarrieren kritisch hinterfragt werden. Das unkontrollierte Profilierungsinteresse mancher Funktionäre darf nicht mit der notwendigen Profilbildung der SPD verwechselt oder vermischt werden. Zwar ist in unserer Demokratie Medienpräsenz notwendig, aber sie bedarf kontrollierter Absprachen und Verhaltensweisen – und argumentativer Kompetenz, um nicht dem Populismus zu „fröhnen“; in der irrigen Meinung, bei den Bürgerinnen und Bürgern zu punkten.

Oft wird dieses Verhalten mit den Erwartungen an eine „Volkspartei“ gerechtfertigt. Hier ist meiner Überzeugung nach ein parteiinterner Prozess der Desillusionierung notwendig. Wir sollten uns realistischerweise von der Illusion lösen, wieder eine Volkspartei mit über 30 % Wählerzustimmung werden zu können. Die Veränderungen der sozialen Milieus in unserer Gesellschaft – und das gilt auch für andere Gesellschaften in Europa – geben eine solche Erwartung nicht mehr her. Und hinzu kommt, dass die sog. Stammwählerschaft immer geringer wird und unter 10 % gesunken ist. Das muss Konsequenzen für die Parteiarbeit haben.

In einem im Juni 2018 veröffentlichten Analysepapier („Aus Fehlern lernen“ der Arbeitsgruppe Faus/Knaup/Rüter/Schroth/Stauss, Berlin, 106 Seiten) wird gefordert, dass die SPD wieder Bündnisse und neue Bündnispartner suchen muss; aber konkrete Vorschläge fehlen. Zunächst einmal: Bündnispartner sind immer auch Interessenvertreter gesellschaftlicher Gruppen; das muss bei jeder Kooperation bedacht werden. Aber Tabuisierungen – aus vermeintlicher Angst vor dem Verlust von Wählerstimmen oder aus Unfähigkeit, die eigene Position argumentativ zu vertreten und Vereinbarungen sachgemäß abzuschließen, helfen nicht weiter. Konkret: wann beginnt die SPD-Bundestagsfraktion – sofort und rechtzeitig vor weiteren Wahlen – Kooperationsgespräche mit den Fraktionen „links“ von der CDU/CSU zu führen? Diese notwendigen Kooperationsgespräche setzen natürlich eine sorgfältig begleitende Medienarbeit voraus. Oder schließlich: wo ist der Arbeitskreis in Partei und Fraktion, der Strategien zur Bildung von Minderheitsregierungen in Zukunft – bei ausreichenden Stimmen einer Kanzlermehrheit und bei einem möglichen Stabilitätspakt – diskutiert und prüft? Das Ungetüm eines umfassenden Koalitionsvertrages – den unser Grundgesetz nicht kennt – könnte bald der Vergangenheit angehören, insbesondere wenn manche sich daran weder halten wollen noch können.

Parteienforscher Franz Walter hat in einem SPIEGEL-ONLINE-Text vom 9. Juli 2018 mit dem Titel: „Der Grund für die Misere der Sozialdemokraten“ festgestellt, dass die SPD einmal die „Massenbewegung der kleinen Leute“ war. „Doch seitdem sich die Industriegesellschaft verflüchtigt, hat sie sich in eine Honoratiorenpartei verwandelt.“ Und Walter fragt am Schluss seiner kritischen Analyse: wenn die SPD nicht mehr Partei der Industriearbeiter in der Industriegesellschaft ist, „besitzt sie dann überhaupt noch einen historischen Antrieb, ein soziales Subjekt, die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Organisation und Aktion?“ Und er antwortet: „Und, wenn ja: Was sollte das sein? Dies ist endlich zu klären, auch das lehrt die SPD-Historie: Denn Parteien der demokratischen Linken blühen nur so lange, wie sie Ankerplätze von Hoffnungen, von Verlässlichkeiten und Perspektiven sind.“

Ich schlage vor, dass die Parteien der demokratischen Linken, dass die SPD eine aktive Europapolitik betreibt und konkret und öffentlich propagiert. Nur so kann sie die von Habermas konstatierte „Mönchskrankheit“ der Zögerlichkeit und Schläfrigkeit überwinden. Die Angst, von den rechten Populisten als „vaterlandslose Gesellen“ gebrandmarkt zu werden (ein historisches Trauma) ist zwar gegenstandslos, wirkt aber vielleicht als unbewusst lähmend nach. Habermas hat recht, wenn er fordert, die Schwellenangst vor supranationalen Formen einer politischen Integration Europas zu überwinden. Diesen Lernprozess muss die SPD unbedingt und unverzüglich leisten.

Verweisen statt wahrnehmen

Die Kunst der Aenigmatik des Gerhard Richter

Beobachtungen und Reflexionen zum installierten Kunstwerk
mit dem Foucaultschen Pendel im Innenraum
der Dominikanerkirche in Münster/Westfalen

Meine Neugierde trieb mich in der letzten Woche bei meinen regelmäßigen Besuchen der Landeshauptstadt Münster in Westfalen in die Dominikanerkirche, mitten ins Zentrum der Innenstadt, um die Installation von Gerhard Richter „Zwei Graue Doppelspiegel für ein Pendel“ kennenzulernen. In der Bekanntmachung der Stadt Münster heißt es vollmundig: „Für die Betrachter wird der Besuch der profanierten Kirche zur Begegnung mit der Zeit und mit ihrer Vorstellung von Wirklichkeit“. Ich frage mich, ob sich das „ihrer“ auf Zeit oder Kirche bezieht und erfahre – in fast allen Veröffentlichungen –, dass es sich um eine entweihte Barockkirche handelt (im Eigentum der Stadt). Soll ich rückschließen, dass die Einrichtung eines Kunstwerkes dem Kirchenbau eine erneute Weihe verleiht oder soll ich – im Sinne Gerhard Richters – vermuten, dass der Künstler einen idealen Ort gefunden hat, ein Foucaultsches Pendel aufzuhängen und in Schwingung zu versetzen: eine 48 Kilogramm schwere Metallkugel an einem 28,75 Meter langen Edelstahlseil über einer kreisrunden, äquivalent zur Bewegung des Pendels gewölbten Platte aus Grauwacke, einem 380 Millionen Jahre alten Sedimentgestein? Und weiter heißt es in der städtischen Information: „Ein Magnetfeldantrieb im Zentrum der Bodenplatte sorgt für die ununterbrochen gleichmäßige Bewegung des Pendels. Im Verlauf einer Stunde dreht sich die Ebene unter dem Pendel um 12 Grad nach Osten. Entsprechend dem „Sterntag“, an dem sich die Erde einmal um die eigene Achse dreht und der in Münster etwa 30 Stunden zählt. Damit wird die erstmals im Jahre 1851 von dem französischen Physiker Léon Foucault in einem Pendelversuch nachgewiesene Erdrotation sichtbar“ (kursiv von mir).

Die Behauptung der „Sichtbarkeit“ stelle ich in Frage und unterstelle, dass dies nicht die Absicht des Künstlers ist. Fast eine Stunde habe ich mich im Kirchenraum aufgehalten und die Menschen beobachtet, die unablässig und zahlreich in den Raum (bei offenen Türen) strömten und, wenn ich ihre Gesichter richtig deute, eher ratlos oder andächtig verweilten. Denn alle wussten aus den Medien, dass ein weltberühmter Maler, dessen Werke auf Auktionen für zig Millionen Dollar verkauft werden, der Stadt Münster ein Geschenk auf Dauer vermacht hat.

Ich hätte mir spontan eine Umfrage gewünscht: was nehmen die Menschen wahr, was erwarten sie, die sie die Pendelbewegung beobachten? Und wie ordnen sie die an den zwei Wandflächen der Vierung paarweise gruppierten verspiegelten Glasbahnen (mit den Maßen 6 Meter mal 1,34 Meter) dem Pendel in seiner steten Bewegung und ihrem jeweils eigenen Standort zu? Mir bleibt die Beschreibung zweier Menschen in ihrem jeweiligen Verhalten: der alte Mann mit seinem Regenschirm und der kluge Mitmensch, der aus dem Physikunterricht seiner Schulzeit zitiert.

Der alte Mann nimmt seinen geschlossenen Regenschirm und stellt ihn nahe der Skala der Bodenplatte – jenseits der Absperrung – und schaut konzentriert minutenlang auf die Skala und hofft, anders kann ich sein Verhalten nicht interpretieren, dass die Bodenplatte sich für ein paar Grad gegenüber dem Standort seines Schirmes bewegt hat. Nach einiger Zeit schüttelt er den Kopf, da er keine Drehung wahrnimmt, und zieht seinen Schirm leicht verunsichert wieder hinter die Absperrung zurück. Ich erkenne nicht nur seine Verunsicherung, die vermeintliche Drehung der gewölbten Platte aus Sedimentgestein nicht wahrgenommen zu haben, obwohl er doch seinen Schirm fest auf den Boden gedrückt hatte, sondern ich fühle auch seine Verlegenheit, das Verbot der Absperrung missachtet zu haben. Und ich frage mich: weiß er nicht, dass wir mit dem gesamten Kirchenboden – und damit mit der gesamten Erdoberfläche – rotieren, ohne diese Erdrotation wahrzunehmen?

Mein Nachbar im Kirchenrund, ein kluger Mitmensch, hat diese Situation auch beobachtet und flüstert mir zu, der Herr habe wohl in der Schule nicht aufgepasst; er habe im Physikunterricht gelernt, dass die Erde sich in 24 Stunden um ihre Achse drehe. Ich will nicht belehrend wirken und ihm erläutern, dass auf unserem Breitengrad die Rotationszeit etwa 30 Stunden dauert. Ich nicke lächelnd mit dem Kopf und überlege für mich, dass die Schattenbildung der Metallkugel auf der Platte von Grauwacke durch das einströmende Sonnenlicht die konkrete Gradbestimmung der Drehbewegung der Ebene unter dem schwingenden Pendel verkompliziert – denn auch die Sonne bewegt sich, obwohl wir in der Schule gelernt haben, dass die Erde, auf der wir Menschen leben, nicht nur rotiert, sondern sich auch auf einer elliptischen Bahn um die Sonne dreht. Doch was ist, wenn die Sonne nicht durch die Fenster der Dominikanerkirche scheint? Das Pendel schwingt und die Erde rotiert und einen archimedischen Punkt haben wir Menschen, die wir auf der Erdoberfläche leben, nicht.

Weder die Philosophen noch die Künstler verfügen über den archimedischen Punkt, von dem aus sie alles, was in der Welt der Fall ist, überblicken oder sogar steuern könnten. Was bleibt, wenn die Sprache versagt, nicht aus Mangel, sondern durch strukturelle Begrenzung? Was bleibt, wenn ein Bild universale Erfahrungen des In-der-Welt-Seins nicht abbilden kann? Auch hier frage ich nach den strukturellen Grenzen, nicht nach der individuellen Kompetenz. Dabei geht es nicht nur um die jeweilige Thematik (Ist die Menschenvernichtung in ihrer grenzenlosen Brutalität abbildbar? Oder: Ist „Erlösung“, die mehr und anderes sein will als „Probleme-lösen“ darstellbar?), sondern auch um die Bedingungen der Möglichkeit von menschlicher Wahrnehmung. Ich vermute, Gerhard Richter, der um diese Problematik weiß, will mit seiner Kunst (bei ihm immer auch ein präzises Kunst-Handwerk) auf universale Erfahrungen hinweisen, die die Menschen nicht – zumindest nicht problemlos – wahrnehmen können.

Die Erdrotation betrifft alles und alle, die auf der Erdoberfläche leben, aber sie kann von uns Menschen zwar nicht wahrgenommen werden, aber durch das Foucaultsche Pendel wird auf sie verwiesen – und ihre Geschwindigkeit kann gemessen werden. Dieses Verweisen auf die Drehung des Bodens – und einen skalierten Kreis – über eine gleichmäßige Pendelschwingung, die eine gleichbleibende Ebene bildet, kann optisch verdeutlicht werden; wie beim Foucaultschen Pendel im Deutschen Museum in München – durch im Kreis angeordnete umkippende Klötzchen. In Münster hat Gerhard Richter darauf verzichtet.

Was beabsichtigt der Künstler mit dieser Installation; was ist sein Interesse und was fasziniert ihn?

Ich verzichte auf die Wiedergabe der wenigen veröffentlichten und kargen Aussagen des Künstlers; denn sie mögen für den Eigentümer des Kirchenraumes, die Stadt Münster, wichtig und für den finanziellen Vertragsabschluss (beziehungsweise die Bedingungen der Schenkung) bedeutsam sein; für die Analyse der Aussage und Wirkung eines Kunstwerkes sind sie nicht maßgebend. Ich erinnere mich an die Diskussion einer Schülergruppe mit einem mir befreundeten Maler in seiner Ausstellung: die Schüler wollten wissen, was er mit seinen (abstrakten) Bildern aussagen wolle – und er verweigerte sich. Denn seine Aussagen seien seine Bilder und ihre Bedeutung müssten sie durch ihre eigene Wahrnehmung herausfinden. Auch die Unterschriften seien beliebig und dienten allein der Identifizierung und Katalogisierung (und einem möglichen Verkauf) der einzelnen Bilder.

Damit kehre ich zu der Frage zurück, was die Menschen, die ich in der Dominikanerkirche beobachtet habe, möglicherweise erwarten und wahrnehmen. Nun sollen meine Reflexionen nicht auf ein Psychogramm der Museumsbesucherinnen und -besucher hinauslaufen (z.B. meines „alten Mannes mit Regenschirm“ und meines Nachbarn, der sich, wenn auch unpräzise, an seinen Physikunterricht erinnerte), sondern ich beschreibe im Folgenden meine Erwartung, also meine Kontext-Überlegungen, und meine Wahr-nehmung dieser Installation von Gerhard Richter.

Wenn ich die Bilder von Gerhard Richter – in seine aktuellen Schaffensperiode – mir anschaue (und ich hatte Gelegenheit, seine letzte umfassende Ausstellung im Kölner Museum Ludwig und auch seinen Birkenau-Zyklus im Burda-Museum in Baden-Baden sowie (mehrmals zu unterschiedlichen Tageszeiten) sein Kölner Domfenster zu besuchen), dann nehme ich seine Absicht wahr, Phänomene darzustellen, die grundsätzlich nicht abgebildet werden können, weil ihre „Totalität“ in einem „Bild“ (in einem Abbild) nicht fassbar ist; auf das, was diese Phänomene bedeuten, kann der Künstler nur verweisen. Verweisen statt abbilden, das ist die Vorerwartung, wenn ich mich den Bildern dieses Künstlers annähere. Welche „Phänomene“ meine ich?

Die Praxis des Übermalens und Verwischens, die Richter präzise und konsequent ausübt, stellt die Wahrnehmung des Abzubildenden in Frage, problematisiert die Möglichkeit des Abbildens – in Bezug auf die gewünschte Aussage des jeweiligen Phänomens. Es bleibt die Möglichkeit des Verweisens auf Phänomene, die grundsätzlich unabbildbar sind. Denn das Abbild löscht das Wesentliche des jeweiligen Phänomens; es bleibt der Verweis, um das Individuelle oder das Totale oder das Unfassbare, eben das Unbegreifbare auszudrücken; es als Künstler im (nicht mehr traditionellen) Bild oder in einer Installation darzustellen. (Das Wort „Verweis“ ist zumindest in der deutschen Sprache doppeldeutig: Hinweis/Verbot.)

Ich nenne diese Form der bildlichen Darstellung aenigmatisch und erkläre die Herkunft dieses von mir gewählten Kunstwortes an späterer Stelle. In dieser Form dokumentiert sich das Besondere des jeweiligen Phänomens: z.B. die Individualität, auch Würde eines Menschen, die im Bild (Abbild) möglicherweise verloren geht; oder der helle Schein einer Kerze (ihr jeweiliges Licht oder ihr Glanz), der in ihrer fotografischen Abbildung verschwindet; oder die Totalität des Verbrechens der systematischen und bürokratischen Menschenvernichtung im Holocaust (vgl. Richters Birkenau-Serie) oder die Fülle (das Pleroma) der Erlösung im Kontext der messianischen Utopie der jüdisch-christlichen Tradition (vgl. Richters Kölner Domfenster mit seinen 11500 Quadraten aus mundgeblasenem Echt-Antik-Glas in 72 unterschiedlichen Farbkombinationen, gewonnen durch einen Zufallsgenerator; Südquerhausfassade 2006).

Phänomene dieser Art können ihren Glanz, auch ihre Individualität oder Brutalität verlieren, wenn sie fotografisch abgebildet werden. Auf Phänomene dieser Art kann nur durch eine spezielle Abmal- oder Übermaltechnik, die Gerhard Richter beherrscht, „verwiesen“ werden.

Im Bereich der menschlichen Sprache drücken sich solche Grenzerfahrungen, die nicht begreifbar sind, in Oxymora aus. Religiöse Sprachspiele wie die Sprache der Utopien leben von solchen Oxymora; sie sind Ausdrucksformen der Sprache der Poesie und Mystik. (Vgl. die Stichworte meines Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten, Münster 2017, und meinen Aufsatz zum „Messianischen Denken in einer Welt ohne Gott“, 2018, auf meiner Homepage.)

Für eine bildende Künstlerin oder einen bildenden Künstler, die an den oben beschriebenen Phänomenen interessiert und von ihnen fasziniert sind, bleibt die Methode der Aenigmatik.

Diese Methode – so das Resultat meiner Überlegungen – praktiziert Gerhard Richter; ich fasse seine Arbeitsweise und ihre Resultate unter dem Slogan zusammen:
Verweisen statt Abbilden.

Den Begriff „Aenigmatik“ – ein Kunstwort, das der Duden nicht kennt – habe ich in Anlehnung an das 13. Kapitel des ersten Korintherbriefes gewählt; verfasst vom jüdisch-christlichen Gelehrten Paulus, um die Methode des messianischen Denkens aus der Messias-Erfahrung heraus unter den Bedingungen der Jetzt-Zeit zu kennzeichnen:

Denn Stückwerk ist unser Erkennen und Stückwerk unser prophetisches Reden. Wenn aber das Vollkommene kommt, dann wird zunichte werden, was Stückwerk ist. Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, überlegte wie ein Kind. Als ich aber erwachsen war, hatte ich das Wesen des Kindes abgelegt. Denn jetzt sehen wir alles in einem Spiegel, in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich ganz erkennen, wie auch ich ganz erkannt worden bin.“ (so die Übersetzung der Zürcher Bibel 2007).

Martin Luther übersetzt die entscheidende Passage: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem tunckeln Wort.“ Und in der lateinischen Vulgata-Übersetzung heißt es: „per speculum in aenigmate“. Schon für die Sprachspiele in Utopie und Mystik habe ich 2017 formuliert: „Die Sprache der Oxymora ist aenigmatisch, kann existenziell wirksam sein, aber bleibt unbegreifbar, und im Medium des Bildes: nicht abbildbar, da nicht wahr-nehmbar.“ (S. 214, Nachwort: Mit der Torheit leben und sterben? Aus: Vademecum, Münster 2017)

In der aenigmatischen Produktionsweise – in Sprache und Bild – wird auf rätselhaft widersprüchliche Weise („in einem tunckeln Wort“, Martin Luther) gedacht und gestaltet: im Bereich der Sprachkunst (Dichtung) soll das „beredte Schweigen“ ausgedrückt werden. Die Sprachspiele der Utopie sind die Sprachspiele der Mystik, nicht der heute verbreiteten, oberflächlichen Esoterik. Mystik aber beginnt und endet mit dem Schweigen. Abbilden wie Begreifen sind Formen des rationalen Denkens, sowohl im theozentrischen Weltbild (von Himmel und Erde), als auch im anthropologischen Weltverständnis: Probleme werden mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden gelöst und mithilfe der einzig erfolgreichen, da eindeutigen Sprache: der Sprache der Mathematik kommuniziert.

Der Gebrauch (wie Missbrauch) religiöser Sprachspiele stellt einen Sonderfall dar, der eingehender Kritik und notwendiger Übersetzung bedarf. Dies gilt auch und vor allem für die sog. Religiöse Kunst. Wenn versucht wird, existenzielle Erfahrungen in religiöser Sprache begreifbar zu machen, so ist das im theozentrischen oder metaphysischen Weltverständnis sehr wohl möglich, bedarf aber der Aufklärung, denn im Kontext eines anthropozentrischen Weltbildes und des für wissenschaftliche Problemlösung notwendigen „methodischen Atheismus“ (zunächst) sinn-los.

Jenseits aller Formen des idealisierten Begreifens und Problemlösens bleibt die Möglichkeit und Notwendigkeit der Kunst, auf das Unbegreifbare zu verweisen. Doch die Methoden der Aenigmatik sind gefährdet: sie können umschlagen in Beliebigkeit. Denn ohne Kontextwissen und Hintergrunderfahrung können die Artefakte aenigmatischer Produktion – im wörtlichen Sinn – oberflächlich – an der Oberfläche – bleiben.

Richters Bilder und Installationen verlangen, um sie zu verstehen, im Zuschauer bzw. Beobachter einen konkreten Denk- und Erinnerungsprozess: bei den Menschenbildern, die auf die Individualität verweisen, ist biografisches Hintergrundwissen notwendig; beim Kerzenbild das Wissen um die Funktion einer Kerze. (Hier wäre ein Vergleich mit den Bildern von Georges de la Tour, dasselbe Sujet betreffend, interessant.) Beim Kölner Domfenster ist die spezifische Aura des Kirchenraumes (soweit noch erfahrbar) ein notwendiger Hintergrund.

Bei dem Birkenau-Zyklus zeigt sich das Problem des Umschlags auf besondere Weise: es ist fraglich, ob die Totalität des Verbrechens der Menschenvernichtung abbildbar ist; aber gibt es nicht andere, mehr beeindruckende Formen des Verweisens, wenn ich an die Bilder von Felix Nussbaum in seinem eigens errichteten Museum in Osnabrück (von Daniel Libeskind gestaltet) denke? Was bleibt von der Wirkung der Birkenau-Bilder, wenn das Wissen um die Konzentrations- und Vernichtungslager verblasst?

Sicher ist auch die aenigmatische Darstellungsweise begrenzt; ohne Denkleistung bleibt das Wahrnehmungsinteresse der Beobachterinnen und Beobachter oberflächlich. Ich kehre zurück zum Foucaultschen Pendel und seiner Installation zwischen zwei grauen Doppelspiegeln in der Dominikanerkirche in Münster. Die physikalisch-technische Innovation bestand 1851 und später darin, gegen die ablehnende Haltung der Kirche, die das Phänomen der Erdrotation vorab aus einer für uns heute überholten, ideologisch bestimmten Weltsicht leugnete, ein „Messinstrument“ zu konstruieren, das das Phänomen der Erdrotation nachweisen und ihre jeweilige Zeitdauer bestimmen konnte.

Gerhard Richter interessiert und fasziniert dieses Phänomen (und sein Nachweis) – so unterstelle ich –, weil es alle Menschen, die auf der Erdoberfläche leben, betrifft, aber von niemandem wahrgenommen werden kann. Das Foucaultsche Pendel symbolisiert die Methode der Aenigmatik, in der Richter seine Arbeitsweise als Künstler erkennt, reflektiert (daher die Wandspiegel) und mitteilt. Er installiert das Pendel in einem (länger gesuchten) spezifischen Raum, der keiner weiteren Nutzung unterliegt; an dessen gegenüberliegenden Wänden sich die gleichbleibende Pendelbewegung in den je zwei grauen Spiegelflächen eigentümlich reflektiert. So wird der Innenraum der Dominikanerkirche zu einem Gesamtkunstwerk, das die Besucher in seiner rätselhaften Wirkung einbezieht.

Diese aenigmatische Wirkung wird verstärkt, da kontrastiert, wenn der in der Kirche vorhandene und zur Zeit verdeckte Hochaltar, ein prachtvoll geschnitzter Barockaltar aus einer Paderborner Kirche, der 1976 restauriert und rekonstruiert wurde, nicht nur (auf Wunsch des Künstlers und gegen den anfänglichen Willen der Stadt) im Kirchenraum erhalten bleibt und wieder sichtbar wird.

Spezifikum dieses Altars ist in seinem Hauptfeld ein Gemälde von Georg Christian Brüll, das die Himmelfahrt Mariens darstellt. Diese Abbildung ist die Phantasievorstellung frommer Menschen auf der Grundlage eines heute überholten (theozentrischen) Weltbildes. Diese Vorstellung resultiert aus einer Legendenbildung des 6. nachchristlichen Jahrhunderts, die schon vor der Zeit der „Gegenreformation“ (vgl. Tizians Gemälde „Mariä Himmelfahrt“ um 1516) immer wieder künstlerisch umgesetzt wurde und sogar 1950 (!) zu einer dogmatischen Engführung in der römisch-katholischen Kirche führte (die leibliche Aufnahme Mariens, der Mutter Jesu, in den Himmel – Assumptio Beatae Mariae Virginis – während die Ostkirchen bis heute von der „Entschlafung“ – dormitio – sprechen).

Auch das christliche Kreuz, das im Kirchenraum anzutreffen ist (ob mit oder ohne Korpus), hat Verweischarakter. Abgebildet wird nicht „Gott“, das wäre sinn-los, oder im christlichen Verständnis Götzendienst und fiele unter das strenge Abbildungsverbot der jüdisch-christlichen Tradition.
Stärker kann der Gegensatz in diesem ehemaligen Kirchenraum nicht sein (wenn dem Wunsch des Künstlers mit Recht – wie ich meine – entsprochen wird): einerseits ehemaliger Ort kultischer Verehrung mit Hilfe eines Bildes religiöser Phantasie, andererseits Ort technisch-wissenschaftlicher Beweisführung in einem aufgeklärten, wissenschaftlichen Weltverständnis. Und ich ergänze – als Beobachter der zahlreichen Besucherinnen und Besucher: Ratlosigkeit bleibt zurück bzw. wird zurückbleiben. Ich wünsche mir, dass das Gesamtkunstwerk „Innenraum der Dominikanerkirche“, gestaltet von Gerhard Richter, Wirkung bei den Besuchern erzeugt: nachzudenken über die Alternative: Verweisen statt Abbilden.

Kosmos, Chronos, Kairos

In-der-Welt-Sein ist immer auch In-der-Zeit-Sein. Kosmos (mundus) und Chronos entsprechen einander.

Ob die Welt einen Anfang oder ein Ende hat, ist als chronologische Frage bis heute nicht eindeutig gelöst und vielleicht nicht zu lösen. Ich unterstelle, der Kosmos ist endlos und hat deswegen auch keinen Anfang; also der kosmos ist anfangslos und endlos – chronologisch gesehen. Demgegenüber ist unser Planet Erde in unserem Sonnensystem mit allem organischen Leben endlich; hat also – in dieser Form – einen Anfang und ein Ende.

Alle Lebewesen auf dieser Erde sind sterblich, aber in der Lage, sich (ihre Art) zu reproduzieren. Der Mensch ist ebenfalls in der Lage, sich (seine Art) zu reproduzieren, sowohl genetisch, wie auch durch Entwicklung künstlicher Intelligenz. Der Mensch ist als Individuum nicht nur sterblich, er ist sich seines Sterbens bewusst. Zugleich weiß er, dass seine Gattung weiterlebt und unter bestimmten Bedingungen selbst gesteuert weiterleben kann. Er weiß um seine Geschichte, seine Herkunft und Zukunft. Und der Mensch hat die Möglichkeit, Ewigkeit zu denken (nicht missverständlicherweise als Endlosigkeit), sondern als Kairos, als Erfahrung des geglückten/glücklichen Augenblick (in Mystik, als Schweigen), jenseits chronologischer Erwartungen.

Diese Erfahrungen bleiben im endlichen Leben immer vorläufig; die Erlösung als Aufhebung von individuellem Tod und Vergänglichkeit ist eine Utopie. In einem nachmetaphysischen Weltverständnis (in einer „Welt ohne Gott“) ist die Hoffnung auf Erlösung nicht sinnlos, sondern als Utopie denkbar und in konkreten Utopien erzählbar (wenn auch grundsätzlich in der Form von Oxymora).

Daher bedarf es für ein aufgeklärtes Weltverständnis der Übersetzung religiöser Sprache und Sprachspiele. Wenn wir heutigen Menschen, zumindest in unserer Gesellschaftsformation, denken und handeln – in Wissenschaft wie im Alltag – „als wenn es Gott oder Götter nicht gäbe“, also wenn wir in Theorie und Praxis „methodische Atheisten“ sind, dann darf die notwendige Übersetzung religiöser Sprache (und Weltbilder) kein Rückfall in theozentrische Weltvorstellungen (und entsprechende Sprache) sein.

Religion verschwindet nicht aus der Gesellschaft; insofern ist die Behauptung (im Sinne einer geschichtsphilosophischen Konzeption), dass Religion (auf Dauer) verschwindet, gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der wir leben, inadäquat. Hans Joas kritisiert daher zu Recht die zugrunde liegende geschichtsphilosophische (ins soziologische gewendete) Vorstellung der „Entzauberung“ in der modernen Welt, wie sie von Max Weber konzipiert wurde.

Religion verschwindet nicht, wie eine vulgäre Vorstellung geschichtlicher Entwicklung moderner Gesellschaften unterstellt und oftmals prophezeit hat, aber das entbindet eine kritische Theorie der Gesellschaft nicht, die Funktion der Religion im allgemeinen und des Christentums im besonderen zu analysieren, denn die Grundsätze der Aufklärung, ihre Metaphysik- und Religionskritik, sowie die moderne Sprachkritik sind nicht überholt.

p.s.

Zum Kontext dieser Überlegung verweise ich auf meinen Aufsatz: „Was bedeutet strukturell Erlösung in einer Welt ohne Gott?“ in der Abteilung Religion meiner Homepage: schmitter.sifisu.org – und als Ergänzung auf mein Lehrgedicht: Metamorphose (1) – (4), Mai 2018

Metamorphose (1) – (4)

Metamorphose (1)

Im Tagtraum gefangen
zunächst.
Die Erinnerung erweitert
die Welt;
nicht nur Inbegriff dessen,
was ist,
sondern realer Riß,
um Veränderung zu ermöglichen.

(Januar 2016)

Metamorphose (2)

In-der-Welt-sein ist
immer auch In-der-Zeit-sein.
Kosmos und Chronos
entsprechen einander,
sind anfang- und endlos.
Aber Leben auf der Erde
ist sterblich und erblich zugleich:
das Gesetz der Reproduktion.

Metamorphose (3)

Menschen sind sterbliche Schöpfer,
sie wissen um ihren Tod.
Sie vermögen Ewigkeit zu denken,
nicht als Endlosigkeit
(dieses Missverständnis kennen sie auch),
sondern als zeit-loser, geglückter
Augenblick.
Diese Erfahrung bleibt vorläufig:
die Aufhebung von Tod und Vergänglichkeit
sind das Wesen der Utopie.

Metamorphose (4)

(4.1) Ausblick

Religion verschwindet nicht,
aber als Rückbindung bleibt sie
an Metaphysik und Erinnerung gebunden.
Religion als Exodus und Erwartung in Geschichte
bedarf der Übersetzung und Umkehr.
(Stichwort: Orthopraxie statt Orthodoxie)

(4.2) Praxis

Befreiung und Autonomie
sind die Elemente des Hoffens
auf Erlösung in einer verdinglichten,
entfremdeten, unerlösten Welt.
Probleme werden in der Zeit gelöst,
Erlösung kennt nur Ewigkeit.
Zugang schafft allein
absolute Machtlosigkeit:
hoffen gegen alle Hoffnung:
erfahren als konkrete Utopie,
vertrauen im Schweigen.

Metelen an der Vechtefurt

Erinnerte Geschichten eines Durchgangsortes

Ich sitze auf der grob gezimmerten Holzbank an der neuen Fischtreppe, höre die intensiven Fließgeräusche der geteilten Vechte, die sich einerseits durch Ellings Wiese, andererseits durch ihr altes Bett an der Stiftsmühle vorbei bewegt. In den letzten Tagen hatte es durchgehend und intensiv geregnet, so dass sich genügend Wasser in den Baumbergen gesammelt hatte und der Wasserstand mächtig gestiegen war.

Ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass sich vor Zeiten Richtung Straßenbrücke das Flussbett so verbreiterte, dass Mensch und Pferdewagen ohne Steinbrücke passieren konnten. Solche Furten waren reisenotwendig, denn Holzstege waren zu schwach und vermoderten mit der Zeit, und Steinbrücken – da fehlten oft kostbares Steinmaterial und konstruktives Wissen.

Das Wort „Furt“ hat es mir angetan und so rufe ich gewohnheitsmäßig „meinen“ GRIMM im Internet auf und finde: ein durchgang für gehende, reitende, fahrende durch ein wasser oder gewässer, vadum, am häufigsten und gewöhnlich versteht man das wort von einem solchen durchgangsorte durch einen flusz. Das Wort Durchgangsort speichere ich und wiederhole mehrfach: „Metelen, ein Durchgangsort“ – zur Erinnerung.

Wenn ich meine Augen wieder öffne, sehe und höre ich die zweigeteilte Vechte, das Quaken der Enten und in der Ferne den Durchgangsverkehr, der zwar die neue Umgehungsstraße meidet, aber das Geschäftesterben im Ort nicht verhindern konnte.

Hinter dem Gebäude der Äbtissin, das zur Zeit durch seine neuen Besitzer von Grund auf renoviert wird und ab 1720 in Tuchfühlung zur älteren Abtei und zur Stiftskirche Ss. Cornelius und Cyprianus errichtet wurde, brechen die Strahlen der Mittagssonne hervor und unwillkürlich schließe ich wieder die Augen. Ich denke an die letzte Äbtissin, die Tante „unserer Droste“, und erinnere die Worte der Dichterin zur Angst der Stiftsdamen vor den durchziehenden Truppen des Christian von Braunschweig im Jahre 1623. In ihrem Epos „Die Schlacht im Lohner Bruch“ heißt es:

Noch hat die Flur kein Feind betreten,
Noch zittert nur die fromme Luft

Vom Klang der Glocke, welche ruft
Die Klosterfrauen zu Gebeten,
Wo dort aus dichter Buchen Kranz
Sich Meteln hebt im Abendglanz.

 Die Furt ist ein Durchgangsort für Freund und Feind. Ich phantasiere: schon römische Legionäre haben, hastig und in Auflösung begriffen, diese Furt durch die Vechte, die sie vidrus fluvius nannten, durchschritten, durchwatet ohne rückzublicken, in der Hoffnung, das rettende Militärlager am Niederrhein zu erreichen.

Der Urwald Germaniens hatte es in sich, nur die fünf Flüsse Rhein, Yssel, Vechte, Ems und Weser gaben Orientierung, da sie sich in die Nordsee öffneten und zumindest mit leichten Booten befahrbar waren. Doch die Boote der Römischen Legion auf der Ems, mit denen die Soldaten, vom Rheindelta und der Nordsee kommend, weit stromaufwärts gerudert waren, brannten, angesteckt von Urwaldpartisanen der hier lebenden germanischen Stämme, denen die relativ schwerfälligen Legionärstruppen wenig entgegensetzen konnten.

Samuel, das war der Spitzname des Beornrad, Erzbischof von Sens in Frankreich und Mitglied des Intellektuellenzirkels Karls des Großen. Bis zu seinem Tod im Jahre 797 blieb er auch Abt des Klosters Echternach in Luxemburg. Dieser Samuel kannte nicht nur seinen Tacitus und seinen Ptolemäus, sondern war vermutlich ein Jahrzehnt vor Liudger von Karl dem Großen zur Missionsarbeit in den sächsischen Gauen zwischen Rhein und Ems beauftragt worden. Daher kannte er die alten römischen Wege durch germania magna nicht nur aus der Literatur, sondern aus seiner Arbeit als Missionar. Er konnte also seinem Kaiser wertvolle Tipps geben, wie der in das Herz der sächsischen Stämme rechts des Rheins und nördlich der Lippe militärisch vordringen konnte.

Vermutlich war Samuel kein Freund der Zwangsmissionierung – und sein Missionsauftrag scheiterte –, aber sicher hat er mehrfach die Vechtefurt durchfahren und vielleicht den Plan geschmiedet, auch hier ein Königsgut mit fränkischen Vasallen anzusiedeln, um diesen Durchgangsort, den schon Ptolemäus von Hörensagen kannte, abzusichern.

Hundert Jahre später wird Arnulf von Kärnten, König des Ostfrankenreiches, ein Ururenkel Karls des Großen und kurzzeitig römischer Kaiser, einer geadelten Frau aus dieser fränkischen Familie mit Pioniergeist mit Namen Friduwi dieses Gut als Frauenkloster zurückschenken und unter seinen Schutz stellen. Damit wird für Jahrhunderte aus dem Durchgangsort eine kaiserliche Freiheit, ein Ort des Gebetes und des Lernens.

Die „Freileins“, wie die Klosterfrauen und späteren Stiftdamen im Wigbold Metelen genannt wurden, konnten nicht nur beten und singen, sie konnten schreiben und lesen – im Gegensatz zu den Männern in ihren Familien –, sie wussten auch ihre Erfahrung und ihr Wissen weiterzugeben; sie gründeten eine Volks- und Lateinschule. So wurden über die Jahrhunderte aus Sachsen gebildete Münsterländer, auch wenn Heinrich Heine im 19. Jahrhundert über die Westfalen – wenn auch mit Sympathie – spottete.

Mein fiktiver Freund Heinrich Krechting, Bürgermeister und Richter in Schöppingen, Kanzler des Täuferreiches in Münster, gewandelter Calvinist und Hafenplaner in der Herrlichkeit Gödens am Schwarzen Brack, ist – wie sein Vater Engelbert – in Metelen zur Schule gegangen und sein Enkel wurde ein gelehrter und berühmter Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen. Dieser Enkel, getauft auf den Vornamen seines Großvaters, hat die Geschichte und Herkunft seiner Familie, auch wenn er sich als calvinistischer Hochschullehrer und republikanischer Bürgermeister als Großstadtmensch zeitgemäß Kreffting nannte, nicht vergessen, sondern dokumentiert.

Auch die katholische Reformbewegung des 17. Jahrhunderts, die nicht ohne Grund „Gegenreformation“ genannt wird, hat Durchgangsreisende geschaffen, die in Metelen zur Schule gingen. Ich denke an den Theologen Hermann Bavinck, der Pfarrer in S. Maria de Anima in Rom und Reiseführer für deutschsprachige Rompilger wurde. Seine Schriften kann man in der Heidelberger Universitätsbibliothek noch heute einsehen, auch wenn er vor Ort vergessen ist.

Noch immer sitze ich an der Fischtreppe der Vechte und denke mir, auch eine Fischtreppe schafft Durchgang, ist eine Furt – und in mir reift der Vorschlag: sollten die gelben Orts- und Hinweisschilder nicht auch ergänzt werden: Metelen an der Vechtefurt?

Bücher und Gedanken, die mich begleiten – lebenslang: Heinrich Heine in einem Band

Heute Morgen nach dem Frühstück, während ich Hannes Wader hörte, las ich eher zufällig im Gedichtsband Hell und Schnell. 555 komische Gedichte aus 5 Jahrhunderten, herausgegeben u.a. von Robert Gernhardt, einen Text von Heinrich Heine: Das Fräulein stand am Meere.

Das Fräulein stand am Meere
und seufzte lang und bang,
es rührte sie so sehre
der Sonnenuntergang.

Mein Fräulein! Sein Sie munter,
das ist ein altes Stück,
hier vorne geht sie unter
und kehrt von hinten zurück.

Dieses Heine-Gedicht von der Wiederkehr des Gleichen rührte mich, eben auf komische Weise, und ich entschloss mich, es abzuschreiben (eine Art Genussverstärker). Dazu ging ich an das entsprechende Bücherregal, nahm die einbändige Heine-Dünndruck-Ausgabe, relativ sicher, dort schon dieses komische Produkt meines geliebten Heine zu finden; begab mich an meinen Schreibtisch, um mit blauer Tinte (zu Ehren des 1. Mai) den Fräulein-Text abzuschreiben.

Ich fand nicht nur das Gedicht (auf Seite 478), sondern eines meiner ältesten Bücher, die mich bis heute begleiten:

Heinrich Heine Werke in einem Band (handlich auf Dünndruck) bei Hoffmann und Campe in Hamburg erschienen – zum 100. Todestag von Heine am 17. Februar 1956 und anlässlich des 175jährigen Bestehens des Verlages (1781) veröffentlicht; in der 4. Auflage.

Und wie aus der römischen Ziffernangabe meiner damaligen Unterschrift (III.LXII) erkennbar und aus einem Einkleber auf der Innenumschlagseite ablesbar im März 1962 in Krefeld bei der Kleinʼschen Buchhandlung (W. Kirchhoff) gekauft.

Dieses Buch begleitet mich also seit meiner Schulzeit – kurz vor dem Abitur – und teilt bereits die Unart – meine Unart – vieler meiner mit Inbrunst gelesenen Bücher: vollgekritzelt mit handschriftlichen Bleistiftnotizen – und einer Kuriosität auf der dritten Innenseite: Es weist mit drei unterschiedlichen Unterschriften mich als Besitzer aus. Die stilistischen Unterschiede demonstrieren meine Entwicklung 1962, 1971, 2014.

Ich interpretiere diese Unterschiede meiner jeweiligen Unterschrift einerseits als Entwicklung, andererseits als gleichbleibendes Bewusstsein meiner Bibliomanie (Bücherbesitzsucht). Des weiteren zeigen auch die handschriftlichen Einträge, dass ich „meinen“ Heine immer wieder gebraucht, gelesen habe. Dafür zitiere ich einige Beispiele:

Das oben aufgeschriebene Gedicht von der Wahrnehmung des Sonnenuntergangs am Meer gehört zu einer Sammlung der ironisch gebrochenen Wahrnehmungen am Meer. Es heißt dort (Seite 479):

Das Meer erstrahlt im Sonnenschein,
als ob es golden wär.
Ihr Brüder, wenn ich sterbe,
versenkt mich in das Meer.

Hab immer das Meer so lieb gehabt,
es hat mit sanfter Flut
so oft mein Herz gekühlet;
wir waren einander gut.

Diese Verse habe ich dick angestrichen und kommentiert: „Heines Banalitäten im letzten Vers – meine Welt!“

Und dann „Deutschland – ein Wintermärchen“ – ein immer wieder von mir als Deutschlehrer bearbeitetes Reisegedicht. Zu Ende des Kaput XIV heißt es:

Wie klingen sie lieblich, wie klingen sie süß,
die Märchen der alten Amme!
Mein abergläubisches Herze jauchzt:
„Sonne, du klagende Flamme!“

Und ich kommentiere: „Mein Freund Heine – der selbe Aberglaube, dieselbe Sehnsucht, anderer Spott in anderen Seiten“. Ich kann sogar rekonstruieren, wann und wo ich diesen Kommentar geschrieben habe, denn auf der selben Seite (557) heißt es am Rand: „1.30 DM fürs Fürstenberger, 17.00 DM Traube in Waldau“. Ich verzichte auf eine biografische Aufklärung dieses Hinweises und ende mit einem Blick in Heines im September 1844 geschriebenes Vorwort des „Wintermärchens“. Dort träumt Heine von seinem europäischen Patriotismus in emphatischer Weise und schimpft auf seine Verleumder in den deutschen Ländern und in den damaligen Medien: „Wahrhaftig, Schufterle ist nicht tot, er lebt noch immer, und steht seit Jahren an der Spitze einer wohlorganisierten Bande von literarischen Strauchdieben …“. Ich habe mit Bleistift wiederholt: „Wahrhaftig, Schufterle ist nicht tot.“ Mehr ist bis heute nicht zu sagen; Heine sei es geklagt und gelobt.

Mangel an Differenzierung und Übermaß an Emotionalität in der politischen Kontroverse

Mein Plädoyer für mehr Nüchternheit und die Prüfung sowie Anerkennung von Kompromissen

Von Zeit zu Zeit besuche ich Diskussionsveranstaltungen der SPD in unserer Region; sowohl aus traditioneller Verbundenheit (immerhin kann ich damit kokettieren, über 50 Jahre Mitglied dieser Partei zu sein und aus einer sozialdemokratischen Familie in Krefeld am Niederrhein zu stammen), als auch aus Selbstverpflichtung eines homo politicus, trotz altersbedingten Rückzugs aus der regionalen wie lokalen Politik (ein wenig) weiter „mitzumischen“.

Ich muss mein Verhalten als homo politicus noch weiter präzisieren. Ich gehöre zu der radikalen Minderheit (von heute unter 10 %), die sich nicht nur in der Schulzeit schon politisch engagiert haben (ich hatte damals den Spitznamen „Ollenhauer“), sondern von der ersten Möglichkeit an in allen Wahlen SPD gewählt haben; selbst in der Zeit der „Studentenbewegung“ mit ihrer/meiner Sympathie für linke studentische Sektierergruppen oder später als Gewerkschaftsvorsitzender der GEW in NRW (von 1994 bis 2004). Ich bin also ein sog. „Stammwähler“ und weiß, dass heutzutage Wahlen nicht mehr durch diese Wählergruppe entschieden werden. Die „Wechselwähler“ entscheiden – und ihr Verhalten ist schwer vorherzusagen.

Dennoch schätze ich mich, als Wissenschaftler methodisch geschult, als selbstkritischen Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklung ein und frage mich daher, ob meine aktuelle Wahrnehmung des menschlichen Verhaltens in unserer Gesellschaft sich erfahrungs- und altersbedingt verändert hat (ein subjektiver Faktor), oder ob meine aktuellen Beobachtungen objektivierbar sind; der Phänomenologe in mir weiter wirksam ist.

Unter der Prämisse, dass letztere Wahrnehmung weiter wirksam ist und ich mich als Theoretiker der Aufklärung und der Epoché (nach Husserl) zurecht verstehe, stelle ich fest, dass Leidenschaft und Emotion in Bezug auf die medienpräsenten Akteure zunehmen und eine nüchterne, interessenbezogene Einschätzung politischen Verhaltens (und ihrer Rechtfertigungsgründe) kaum noch möglich ist.

Ich erläutere diese Feststellung durch eine Analyse der aktuellen Kontroverse über die sog. GroKo.

  • In der vorletzten Woche nahm ich an einer SPD-Mitgliederversammlung des Unterbezirks Steinfurt teil, in der das weitere Vorgehen in Bezug auf mögliche Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und CDU/CSU auf der Basis des „Sondierungspapiers“ diskutiert wurde. Im vollbesetzten Saal waren über 120 Mitglieder anwesend, nicht nur Funktionäre, sondern auch mir nicht bekannte Mitglieder aus den Ortsvereinen. Es fand eine korrekt geführte Diskussion statt; am Ende wurde eine Probeabstimmung mit klarem Ergebnis durchgeführt: 2/3 der Anwesenden sprachen sich gegen eine Aufnahme von Koalitionsverhandlungen auf der Basis des vorliegenden Sondierungspapieres aus. Im Gegensatz dazu hat sich der Bundesparteitag am darauf folgenden Samstag nach leidenschaftlicher, aber fairer Diskussion mit klarer Mehrheit (aber unter 60%) für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen ausgesprochen.
  • Ich habe auf der Mitgliederversammlung des Unterbezirks Steinfurt den Ausdruck „Große Koalition“ kritisiert. Er stellt eine Selbsttäuschung dar; es geht allein um eine mögliche Koalition mit ausreichender „Kanzlermehrheit“, in der die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag mit Recht ihren Vorschlag für einen neuen Bundeskanzler/eine neue (alte) Bundeskanzlerin dem Bundespräsidenten präsentiert. Weiterhin habe ich noch kurz meine mir bewusste Minderheitenposition (Stichwort: Stabilitätspakt; veröffentlicht in der Lokalzeitung) erwähnt; aber es war offensichtlich, dass an dieser Möglichkeit unseres Grundgesetzes weder Interesse bestand, noch die Möglichkeit gesehen wurde, eine Bundeskanzlerin in einem ersten Wahlgang mit ausreichender Mehrheit (auf Vorschlag des Bundespräsidenten) zu wählen, ohne einen Koalitionsvertrag (der alle Politikbereiche betrifft) zuvor zu vereinbaren. Die jahrzehntelange Praxis von Koalitionsverhandlungen und einem zu vereinbarenden Koalitionsvertrag hat die Möglichkeiten des Grundgesetzes, das keinen Koalitionsvertrag kennt, völlig überlagert – und bei allen Akteuren, auch den engagierten Wählerinnen und Wählern – wurde diese Praxis verinnerlicht.
  • Wenn ich das Verhalten der SPD-Mitglieder in dieser Versammlung richtig beobachte und einschätze, dann fand bei den allermeisten keine Interessenabwägung auf der Grundlage des Sondierungspapiers statt – ich vermute, die meisten hatten das Papier nicht gelesen –, sondern eine emotionale Polarisierung gegenüber der geschäftsführenden Bundeskanzlerin Merkel und eine immer wieder geäußerte Hoffnung, die SPD könne nur in der Opposition wieder „zu alter Kraft und Stärke“ zurückfinden.
  • Der innerparteilich verständliche Wunsch, dass wieder 30% (und mehr) Wählerinnen und Wähler bei Wahlen die SPD wählen, wird sowohl mit der Notwendigkeit, konsequent und ohne Folgenabschätzung in die Opposition zu gehen, begründet, als auch mit der Gegenposition, die SPD bleibe oder werde nur glaubwürdig, wenn sie Verantwortung übernehme und ihre Fraktion auf der Basis eines Koalitionsvertrages mit der CDU/CSU Frau Merkel im ersten Wahlgang (auf Vorschlag des Bundespräsidenten und mit der sog. „Kanzlermehrheit“) zur Bundeskanzlerin wähle. Ich habe große Zweifel, ob die eine oder andere Position das Wahlverhalten zugunsten der SPD beeinflusst. Zumindest kenne ich keine empirisch abgesicherte Untersuchung, die den innerparteilichen Wunsch nach besseren Wahlergebnissen durch das eine oder andere Verhalten stützt. Eher sehe ich einerseits eine europaweite Tendenz, dass sog. „Volksparteien“ an Einfluss verlieren (und das gilt nicht nur für die Sozialdemokratie), andererseits das Verhältnis zwischen Parteien und den wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern sich langfristig ändert – und das hat Konsequenzen für die parteimäßige Zusammensetzung der Parlamente und die mögliche Bildung von Regierungen. Daher ist die Behauptung, sog. „Minderheitsregierungen“ seien von vorne herein instabil, unbegründet. Darüber hinaus ist zu prüfen, durch welche strukturellen Maßnahmen unser parlamentarisches System effektiver und demokratischer gestaltet werden kann, um die Aktivität und die Einflussmöglichkeiten z.B. des Bundestages gegenüber Ministerialbürokratie, Verwaltung und Parteienhierarchie zu stärken. Es kann in einer lebendigen Demokratie nicht sein, dass die gewählten Abgeordneten wochenlang auf die sog. Sondierungsgespräche der Parteien starren, fast „bewegungslos“, und ihre Aufgabe der Gesetzgebung nicht ausreichend oder nur zögerlich wahrnehmen.
  • Aber diese Überlegungen sind längerfristig notwendig, ändern aber nichts an der jetzigen Situation. Das bestehende Grundgesetz erlaubt schon jetzt Zwischenlösungen zwischen ausreichenden Koalitionen zur Bildung einer Regierung, die auf der Basis eines umfassenden Koalitionsvertrages zwischen den jeweiligen beteiligen Parteien (nicht den Fraktionen) geschlossen werden, und einer unsicheren Minderheitsregierung, deren Kanzler oder Kanzlerin (in einem letzten Wahlgang) nur mit relativer Mehrheit gewählt wurde und möglicherweise vom Bundespräsidenten ernannt wurde, falls dieser nicht zum Mittel der Neuwahl greift. Diese Minderheitsregierung ist nicht nur durch Abstimmungsniederlagen bedroht und durch ein konstruktives Misstrauensvotum – das sind auch alle Mehrheitsregierungen, denn unsere Verfassung kennt kein imperatives Mandat unserer gewählten Abgeordneten –, sondern sie sieht sich möglicherweise einer Mehrheit an Abgeordneten gegenüber, die die Durchsetzung ihres politischen Programmes systematisch durchkreuzen und verunmöglichen. Ich behaupte, dass dies nicht so sein muss, denn die Verantwortung für politisches Handeln liegt dann zunehmend bei den im Bundestag vorhandenen Fraktionen und ihrer Kompromissfähigkeit, aber ich sehe ein, der bisherigen Praxis des Verhältnisses von Regierung und Parlament mangelt es an solcher Erfahrung, und ohne strukturelle Änderungen unseres GG ist eine Minderheitenregierung kaum sinnvoll realisierbar. Und der Bundespräsident wird sich im Zweifelsfall eher für die Auflösung des Bundestages und Neuwahlen entscheiden.
  • Aber ich bleibe dabei: es gibt eine „stabile“ Zwischenlösung: der Stabilitätspakt, um eine eindeutige Kanzlerwahl mit ausreichender Kanzlermehrheit (im ersten Wahlgang) zu erreichen.
  • Die „Realität“ hat meinen Vorschlag überholt; aber das ändert nichts an meiner Analyse.

Metelen, 21. Januar/01. Mai 2018

Was bedeutet strukturell Erlösung in einer Welt ohne Gott?

Über die Differenz zwischen Chronos und Kairos im messianisch-apokalyptischen Denken und die Konsequenzen in einem anthropozentrischen Weltverständnis: methodischer Atheismus und die Utopie der Erlösung

(A) Gliederung mit Thesen

(0) Analyse der Frage: Ist in einer „Welt ohne Gott“ Erlösung denkbar?
Ich antworte mit JA und kläre im Folgenden fünf Voraussetzungen
meiner Grundsatzfrage:

  • der „erlesene“ Hintergrund,
  • ein Irrtum bisheriger Religionskritik: Religion verschwindet nicht,
  • Aufklärung und Übersetzung sind notwendig,
  • die Differenz von Erfahrung und Erkenntnis,
  • Erlösung denken?

(0.1) Der „erlesene“ Hintergrund: Bonhoeffers Widerstand und Ergebung
und Blochs Atheismus im Christentum
(0.2) Sakralität der Person statt Entzauberung der Welt (Zur Position von
Hans Joas)
Religionen können sowohl Hindernis wie Treibmittel kollektiver
Selbstsakralisierung sein. Auch die „Sakralität der Person“ (Joas) ist
ambivalent gegenüber den jeweiligen Machtverhältnissen. Das
Grundrecht auf Menschenwürde muss daher immer wieder
durchgesetzt und ethisch normiert werden.
(0.3) Theorie und Praxis des Christentums bedürfen der Aufklärung und
die christlich/jüdische Botschaft bedarf der Übersetzung
Hannah Arendt fasst das aufgeklärte Menschenverständnis (die
Würde und Autonomie des Menschen; die conditio humana) unter
der Parole zusammen, dass wir „sterbliche Schöpfer“ sind.
(0.4) Zur Differenz von Erfahrung und Erkenntnis im aufgeklärten Denken
Diese Differenz muss bedacht werden, um Ideologisierung und
Verdinglichung jeder religiösen Weltanschauung zu erkennen. Das
gilt auch für Weltanschauungen, die sich atheistisch als Spielarten
von Materialismus oder Naturalismus präsentieren.

(0.5) Erlösung denken?
Nach der Lektüre von Hans-Jürgen Goertz: Bruchstücke radikaler
Theologie heute. Eine Rechenschaft, Göttingen 2010
Was es bedeutet, christliche Theologie heute radikal zu denken, ohne
dies als „Verschwinden der Religion“ misszuverstehen.

(1) Zur Politischen Theologie des Paulus
Gerd Theißen und Petra von Gemünden formulieren: „Paulus wollte
nicht das Christentum begründen. Sein Christentum war ein antikes
messianisches Reformjudentum. Sein Römerbrief wurde aber zu einem
Testament für die ganze Menschheit.“

(2) Chronologischer Prozess oder kairologische Struktur
Die Erlösung der Welt als chronologischen Prozess zu denken, ist unter
den Bedingungen anthropozentrischer Weltvorstellung sinn-los.
Erlösung im Sinne des Messias-Ereignisses hat eine kairologische
Struktur.

(3) Kairologische Struktur als konkrete Utopie
Die Zusage der Erlösung – als Messias-Ereignis – befreit zu
autonomem, verantwortungsvollem Handeln.

(4) Befreiung als ständige Aufgabe im Sinne der conditio humana
Die Erfahrung der Erlösung – als konkreter Utopie – kann nicht erkauft
oder erzwungen werden; aber ohne Arbeit, Verantwortung und
Empathie kann Befreiung nicht gelebt und Erlösung nicht erfahren
werden.

Exkurs (1): Zum Theorie-Praxis-Verhältnis – Problemfall: Muße

Exkurs (2): Tableau der conditio humana

(5) Zur Differenz von Problemlösen und Erlösung
Die Sterblichkeit und Vorläufigkeit des In-der-Welt-Seins in Frage
zu stellen, ist im Lichte der Hoffnung auf Erlösung möglich. Dabei
muss die Struktur der konkreten Utopie beachtet werden, um nicht in
Metaphysik oder Projektion zurückzufallen.

(6) Revision als Metamorphose
Die Utopie der Erlösung ist ort- und zeitlos, aber kann und muss in
der Zeit wirksam werden (als konkrete Utopie erfahrbar).

(7) Gott: ein synsemantischer Ausdruck für Liebe (agape)
„Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und
Gott bleibt in ihm.“ (1 Joh. 4,16)

(8) Orthopraxis statt Orthodoxie
Die Orthopraxis der uneingeschränkten Menschenliebe verbindet
die Christen mit allen Menschen, die sich für Freiheit, Gleichheit
und Gerechtigkeit engagieren.

(9) Zur Vorgeschichte des Atheismus im Christentum
Die theologia negativa hat Selbstdisziplin zur Konsequenz:
Schweigen statt „Gottesgeplapper“.

(10) Metamorphose statt Restitution
– eine Konsequenz aus der kritischen Aufarbeitung
der historischen Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts

(11) Prüfung und Umkehr (metanoia) statt Anpassung
– das fiktive Bekenntnis des Heinrich Krechting

(12) Lob der Inkonsequenz
Jede gelebte Orthopraxie ist verbindlich und vorläufig zugleich.
Gegen falsche Konsequenz, die in Terror umschlägt.

(13) Messianisches Denken in einer Welt ohne Gott
In einer Welt ohne Gott ist Erlösung denk- und erfahrbar,
aber nicht (aussagenlogisch) begreifbar.

Exkurs (3): Maximen für einen aufgeklärten Menschen im 21. Jahrhundert,
sein Denken und Handeln, seinen Alltag und Beruf betreffend.

(B) Essay

(0) Analyse der Frage: Ist in einer „Welt ohne Gott“ Erlösung denkbar?

Der mögliche Sinn dieser Grundsatzfrage ergibt sich aus Bedeutung und Kontext der gebrauchten Wörter. Sind es Begriffe oder synsemantische Ausdrücke oder Beschreibungen von Tätigkeiten oder Oxymora?
Die Bedeutung der Wörter ist gebunden an ihren Verwendungszusammenhang und den Deutungs-Horizont, der sich aus der jeweiligen zeitbedingten Weltanschauung, dem Weltbild ergibt. *) Anm.1

Daher scheint die Antwort auf die eingangs gestellte Frage einerseits einfach: NEIN, denn „Erlösung“ ist nur in einem theozentrischen Weltbild
denkbar. In einem anthropozentrischen Weltbild – in einer Welt ohne Gottesvorstellung (welcher Art auch immer) – ist „Erlösung“ (was immer damit gemeint ist) nicht denkbar (wobei „denkbar“ der Definition bedarf).

Das spontane NEIN impliziert eine bestimmte Weltvorstellung. Auf den ersten Blick ist in einem anthropozentrischen Weltverständnis, also in einer „Welt ohne Gott“ die Frage nach Erlösung sinnlos.

Andererseits erwarten die Leserin oder der Leser, dass ich mit JA antworte; sonst würde ich mich nicht mit dieser Frage beschäftigen und meine Antwort aufschreiben. Mein JA bedarf nicht nur der Begründung, sondern zuvor der begrifflichen wie biographischen Explikation:

  • der Hintergrund meiner Argumentation;
  • das Verschwinden der Religion: ein religionskritischer Irrtum;
  • die Notwendigkeit aufzuklären und zu übersetzen;
  • die Differenz von Erfahrung und Erkenntnis;
  • Erlösung denken.

Der philosophisch geschulte Leser (die Leserin) wird bereits jetzt erkennen, dass die Klärung dieser fünf Vorabklärungen zumindest ansatzweise die Begründung der Antwort auf die Gesamtfrage dieses Essays impliziert.

So ist es im Feld der Metareflexion: Wer über die Voraussetzungen des Denkens nachdenkt, denkt bereits nach; also bewegt sich in den Strukturen der Metareflexion. Dennoch ist es sinnvoll, zunächst die fünf Voraussetzungen meiner Grundsatzfrage zu klären; so ist es möglich, meine Argumentationsstruktur offenzulegen, damit sie nachvollzogen und beurteilt werden kann.. Argumente und ihren Strukturzusammenhang offenzulegen, vermeidet logische Denkfehler und die unreflektierte Weitergabe von Vorurteilen.
Es kommt darauf an, Vorurteile nicht zu leugnen (denn dann reduziert sich der Wahrheitsanspruch auf personenbezogene Glaubwürdigkeit), sondern, Vorurteile zu erkennen und ihre Wirkungen zu prüfen.

(0.1) Der „erlesene“ Hintergrund: Bonhoeffers Widerstand und Ergebung und Blochs Atheismus im Christentum.

Während meines Studiums (1968 in Freiburg/Breisgau) habe ich Ernst Blochs Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs gelesen (Band 14 der Werkausgabe) und (in der Paperback-Ausgabe des Suhrkamp-Verlages) durchgearbeitet. Und – wie es meine Unart ist – habe ich mit schwarzer Tusche den Text kommentiert. Auf dem Titelblatt zitiere ich aus Goethes Faust: „Jeder sonnt sich heute so gern. Sie feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind selber auferstanden.“ Und ich gebe einen Hinweis: „Hiob, der erste Marxist“. Ich zitiere aus dem entsprechenden 24. Kapitel „Grenze der Geduld, Hiob oder Exodus nicht in, sondern aus der Jachwevorstellung selber, Schärfe des Messianismus“ (Seite 165f):
„Der Auszug aus caesarischer Gottesvorstellung, wie ihn Hiob begann, den Menschen über jede Art von Tyrannei setzend, über die fragwürdige einer Gerechtigkeit von oben, auch über die neu-mythische einer Naturmajestät an sich: dieser Auszug ist nicht auch einer aus dem Auszug selbst. Konträr: gerade der Rebell besitzt Gottvertrauen, ohne an Gott zu glauben; das heißt, er hat Vertrauen auf den spezifischen Jachwe des Exodus aus Ägypten, auch wenn jede mythologische Verdinglichung durchschaut wurde, jeder Herrenreflex nach oben ursächlich aufhört.“
Und zwei Sätze weiter heißt es lapidar: „…doch Hiob ist gerade fromm, indem er nicht glaubt“. Am unteren Rand verweise ich auf „Camus – Revolte – Sartre“ und stelle die Frage: „…oder ist der Vater Jesu im Zeugnis Jesu bereits entideologisiert“?
Beim heutigen Durchlesen bleibt die Hiob-Analyse Blochs zutreffender als die verkürzende und einseitig zugespitzte Formulierung, dass nur ein Atheist ein guter Christ sein kann und ein Christ ein guter Atheist. Aber Bloch liebt auch die Zuspitzung und ich denke über meine damalige Begeisterung dieses 1969 neuen Buches von Ernst Bloch nach; dass Hiob fromm ist, indem er nicht glaubt, das überzeugt mich (in ihrer Dialektik) auch heute.

Wenn ich recht erinnere, kannte ich 1969 bereits das Siebenstern-Taschenbuch Nr.1: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hrsg.v. Eberhard Bethge. Seine „nicht-religiöse Interpretation der biblischen Begriffe“ (S.176) beschäftigte mich und meine Freundinnen und Freunde. Als Konsequenz der „weltlichen Interpretation“ (S.178) formuliert Bonhoeffer in dem selben Gefängnisbrief vom 16. Juli 1944:
„Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden; ebenso aber als philosophische und religiöse Arbeitshypothese (Feuerbach!). Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit diese Arbeitshypothese fallen zu lassen bzw. sie so weitgehend wie irgend möglich auszuschalten.“ (S.177, zitiert nach der 5.A., München und Hamburg 1968)
Und zwei Absätze weiter heißt es, dass wir nicht redlich sein können, ohne zu erkennen, dass wir in der Welt leben müssen – „etsi deus non daretur“.
Bonhoeffer sieht in dieser Erkenntnis den „entscheidenden Unterschied“ zu allen Religionen. Und er spitzt seine Erkenntnis zu in die Formel eines unaufhebbaren Widerspruchs, eines Oxymoron: „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.“ (S.178)

Zu beachten ist bei der Aussage von Bonhoeffer das „als ob“ (etsi deus non daretur). Die Frage nach der Existenz Gottes wird gleichsam eingeklammert, da in einem anthropologischen Weltverständnis (in einer „Welt ohne Gott“) nicht beantwortbar; als „moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese abgeschafft“; in meinem Sprachgebrauch sinn-los.

(0.2) Sakralität der Person statt Entzauberung der Welt (Zur Position von Hans Joas)

Auch in modernen (nachindustriellen) Gesellschaften verschwindet Religion nicht; insofern ist das Konzept von der Entzauberung der Welt durch den historischen Prozess der Säkularisierung zu hinterfragen. Hans Joas setzt sich daher zu Recht mit der geschichtsphilosophischen Konstruktion der „Entzauberung der Welt“ bei Max Weber auseinander.

Hier ist Aufklärung notwendig: nicht mit dem irrigen, empirisch falsifizierten Ziel oder der vermeintlichen Hoffnung, Religion zum Verschwinden zu bringen; sei es, als selbstlaufender oder angetriebener Prozess – sondern mit der notwendigen Reflexion, religiöse Aussagen und Strukturen auf ihren Sinngehalt und ihre historische Entwicklung zu prüfen und gegebenenfalls in nichtreligiöse Sprache wie auch partizipative, demokratische Strukturen zu übersetzen und menschenverbindend und -verbindlich („universalethisch“) zu dokumentieren. *) Anm.2

Die berechtigte Kritik an Max Webers Entzauberungsthese (in „Wissenschaft als Beruf“ 1919), wie sie von Hans Joas enwickelt und veröffentlicht wurde (neuestens: Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017), verstehe ich nicht als Rehabilitation unaufgeklärter Religion, sondern verweist auf die fortbestehenden Funktionen von religiöser Theorie und Praxis in modernen, bürgerlichen Gesellschaften. Übrigens gelten diese aus der dreifachen Kritik der Aufklärung gewonnenen Funktionen oft auch für die heute vorherrschenden atheistischen Weltanschauungen des Materialismus und Naturalismus. Ich erinnere an die Kritik der Erkenntnis überhaupt (Kritik jeder Metaphysik), Kritik der Religion (Projektionstheorie) und die moderne Sprachkritik (Bedeutungsanalyse und Struktur von Sprachspielen).

Wenn ich Hans Joas recht verstehe, erkennt auch er die ambivalente Funktion von Religion im Verhältnis zu Macht und Gewalt. Religionen (aus achsenzeitlichen Traditionen) können „sowohl Hindernis wie Treibmittel kollektiver Selbstsakralisierung“ sein (Die Macht des Heiligen, S. 485). Joas bescheinigt allen religiösen und säkularen Traditionen ein „beträchtliches Maß an Flexibilität“, „was ihre Anpassung an Machtverhältnisse betrifft“ (ebd.). „Es gilt der „Hegelschen Versuchung“ teleologischer Geschichtsdeutung zu entgehen, ohne dabei zu vergessen, dass die Menschheit eine einzige Geschichte hat.“ (ebd. ohne Fußnoten)

Ich frage mich daher, ob das Bekenntnis zur „Sakralität der Person“ (so Joas), also, wie ich es verstehe, ob das Postulat und die Unterstellung der Menschenwürde für alle, auch zukünftige Menschen in dieser Welt ein quasi religiöser Grundwert ist. Und was bedeutet diese „Flexibilität“ (Joas) oder pointierter formuliert: diese Ambivalenz? Hans Joas gibt in seiner Schrift „Sind die Menschenrechte westlich?“ (München 2015) eine selbstkritische Antwort. *) Anm.3

Ich ziehe aus diesen Überlegungen folgende Konsequenz: Das Grundrecht auf Menschenwürde und die praktische Umsetzung der Menschenrechte insgesamt müssen immer wieder neu durchgesetzt und als Normen verankert werden. Das meint auch Hannah Arendt, wenn sie davon spricht, dass die Welt täglich neu „eingerenkt“ werden muss. (Vortrag 1958, Die Krise der Erziehung) Und ich formuliere noch grundsätzlicher: So wie das christliche Kreuz als Symbol der Erlösung durch den hingerichteten (radikal „entmachteten“) Messias Jesus auch als Zeichen der Macht und Gewalt missbraucht wurde und wird, so ist auch die Würde jedes Menschen (als universaler Grundwert) in der Gefahr, als Legitimation verbrecherischer Praxis, selbst wenn Staaten sich darauf berufen, missbraucht zu werden.

(03) Theorie und Praxis des Christentums bedürfen der Aufklärung und die christlich/jüdische Botschaft bedarf der Übersetzung

Ich plädiere für die Notwendigkeit der Erkenntnis-, Religions- und Sprachkritik auf der Basis des anthropozentrischen Weltbildes. Sie trifft und betrifft auch die Theorie und Praxis der christlichen Kirchen. Ich beschränke mich auf die Geschichte und Gegenwart des Christentums, weil ich mich biografisch und wissenschaftlich in dieser „Religion“ auskenne.

Uneingeschränktes Kritisches Denken und methodischer Zweifel müssen nicht in die Verzweiflung führen, sondern können die Autonomie des Menschen offenlegen, denn die Menschen sind für ihr Denken, Planen und Handeln veranwortlich. Diese Grundannahme – und Postulat zugleich – bedarf der differenzierten Erörterung und Analyse, um Missverständnisse zu vermeiden. Aber sie erzwingt die Manifestation und Durchsetzung der Würde des Menschen durch die Menschenrechte und seine Partizipation an der Macht durch Begrenzung und Demokratisierung.

Hannah Arendt fasst dieses Menschenverständnis (die conditio humana) unter der Parole zusammen, dass wir sterbliche Schöpfer sind. Demgegenüber entlastet Religion – in Form von Überzeugung und (ritueller) Praxis – auf der Basis theozentrischer Weltauffassung – zwar von der Gesamtverantwortung der Menschen für ihre Erde, aber sie legitimiert zugleich Heteronomie und unkontrollierte, undemokratische Machtausübung.

Meine Auffassung ist: die modernen Gesellschaften und die heutigen Wissenschaften wie auch das zeitgemäße Rechtssystem verlangen, um Erkenntnisfortschritt wie demokratische Partizipation und Chancengleichheit zu sichern, den methodischen Atheismus wie erfahrungswissenschaftlich geprüftes Wissen und erfolgreiche Theorien; aber Erkenntnis und Erkenntnisfortschritt sind von existenzieller Erfahrung zu unterscheiden.

Meine Einschätzung ist: Religion, selbst in ihrer unaufgeklärten Form und in ihren religiös-rituellen Praktiken, verschwindet nicht; gerade deshalb bedarf sie der aufklärenden Analyse, um in der Welt des 21. Jahrhunderts glaubwürdig zu bleiben. Das jüdisch-christliche Konzept der Exodus-Erfahrung schafft diese Möglichkeit, hat es doch den Prozess der (historischen) Aufklärung mitbewirkt; auch wenn die Vorstellung einer „evolutionären Aufhebung“ von Religion in eine säkulare Gesellschaft defizitär ist und diese Vorstellung der Korrektur bedarf. *) Anm.4

(04) Zur Differenz von Erkenntnis und Erfahrung im aufgeklärten Denken

Problemlösen geschieht sachgemäß (metatheoretisch bedenkend) in der „Dynamik des Vorläufigen“. Die jeweiligen Lösungen in den gegenwärtigen Problemlösungsprozessen sind im doppelten Sinn vorläufig: provisorisch und antizipativ zugleich. Diese Struktur meine ich, wenn ich von der Differenz von existenzieller Erfahrung (in der Dimension des kairos) und methodischer Erkenntnis (in der Dimension des chronos) spreche.

Probleme müssen und können wir alltäglich (wie auch in vorgedachten und konstruierten Labors) lösen und müssen sie lösen, um zu leben und zu überleben. Aber erlösen können wir uns nicht. Menschliches Leben ist endlich und vergänglich, auch wenn wir es zeitlich verlängern können und uns (unser Gehirn) in zunehmendem Maß entlasten können und müssen, um unsere Lebensbedingungen als Menschen weltweit zu erhalten und zu verbessern. Von der weltweiten „globalen“ Verbesserung sind wir (die Menschheit) noch meilenweit entfernt.

Auch können wir uns selbst zerstören, aber diese individuelle wie gesellschaftliche Möglichkeit als Macht über den Tod oder als Erlösung zu er- und verklären, ist Selbstbetrug. Erlösung bleibt eine Utopie; auch und gerade im anthropozentrischen Weltverständnis. Soviel können wir durch Nachdenk-Arbeit erkennen: Erlösung ist keine Machtfrage, sondern eine konkrete Utopie. Aus der Sicht des Christentums ist diese konkret erzählte Utopie ein Oxymoron höchster Stufe: ein hingerichteter, absolut machtloser Mensch als Messias/Christus ist erfahrbar im Wort als Beginn und Grund der Erlösung der Welt. Die Wahrheit dieser erzählten Aktion ist existenziell erfahrbar, aber nicht beweisbar und begreifbar. Diese Differenz zwischen Erfahrung und Erkenntnis kann und muss bedacht werden, um Ideologisierung und Verdinglichung jeder religiösen Theorie und Praxis zu erkennen; dies gilt auch für Weltanschauungen, die sich atheistisch als Spielarten von Materialismus oder Naturalismus präsentieren. *) Anm.5

(05) Erlösung denken?
(Nach der Lektüre von Hans-Jürgen Goertz: Bruchstücke
radikaler Theologie heute. Eine Rechenschaft, Göttingen 2010)

Sinn-gebung aus dem Geist des Christentums negiert alle Formen von Hierarchie und Herrschaft. Das vermeintliche Spannungsfeld von Autonomie und Heteronomie ist eine sinn-lose Beschreibung des menschlichen Handlungsfeldes. Basis menschlichen Handelns ist Autonomie – als Verwirklichung von Selbständigkeit und Eigenverantwortung – uneingeschränkt als Prinzip, aber beschränkt in der Umsetzung (unterschiedliche Maße der Realisierung) und Durchsetzung (Möglichkeiten der Willensfreiheit). Die Differenz ist: setze ich Autonomie als Machtstruktur durch oder erfahre ich sie als Befreiung.

In christlicher Sinngebung ist für mich „Gott-denken“ Freiheit realisieren
(in Überwindung von Anpassung an den status quo und als Verwirklichung von Selbständigkeit im Sinne einer Metamorphose). Muss dieser Prozess des Mündigwerdens nicht als Überwindung jeder Form von Religion (als Rückbindung an Konvention, an bestehende Machtstrukturen und theozentrische Weltvorstellung) gedacht werden, ohne dass Religion verschwindet? Der Christ ist „religionslos“, wenn und insoweit er die „Freiheit der Kinder Gottes“ lebt.

Im Rahmen von Religion in der bürgerlichen Gesellschaft und in der Sprache und Vorstellung eines theozentrischen Weltverständnisses kann meiner Überzeugung nach für uns heute „Erlösung“ nicht sinn-voll gedacht und expliziert werden. Aber zu bedenken bleibt: Christliche Kirchen – verstanden als Zuspitzung der jüdischen Orthodoxie und in Abgrenzung und Konkurrenz zum Judentum des 2. nachchristlichen Jahrhunderts – sind trotz allen Fehlverhaltens und trotz allen Rückfalls in religiöse Herrschaftspraxis „Traditionsträger“ der Botschaft von der Erlösung – in der Erzählung vom Exodus und der Menschwerdung Gottes im Messias Jesus aus Nazaret. *) Anm. 5a

H.-J. Goertz ist auf dem Weg, diese Radikalität des Christentums zu denken und auszusprechen; aber ich meine, er ist nicht konsequent genug. Christliche Theologie heute radikal zu denken, bedeutet, sie als im theozentrischen Weltbild argumentierende Theologie „aufzuheben“, ohne diese Notwendigkeit als „Verschwinden der Religion“ misszuverstehen.

Christliche Sinngebung – in einem anthropozentrischen Weltverständnis – denkt das Verhältnis von Gott (als einem synsemantischen Ausdruck) und Mensch nicht als Rückbindung oder als Abhängigkeit (Heteronomie), sondern als Utopie, die nicht erzwungen werden kann, sondern geschenkt ist. Mein Konzept menschlichen Handelns und Verhaltens muss daher (für einen Christenmenschen) das Grundproblem erklären, wie Freiheit und Mündigkeit so umgesetzt werden können, dass sie nicht in neue/alte Abhängigkeiten umschlagen und neue/alte Herrschaftsverhältnisse produzieren oder stabilisieren. Diese Übersetzung in nichtreligiöse Sprache ist notwendig, um Erlösung heute denken zu können

(1) Zur Politischen Theologie des Paulus *) Anm.6

Es ist nicht leicht, die ein wenig chaotisch wirkende Vorlesung des Jacob Taubes zur “Politischen Theologie des Paulus“ in der vorliegenden Buchform (München 1993) zu verstehen. Taubes hat die Vorträge im Februar 1987 vor einer kleinen Gruppe von Zuhörern an der Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg gehalten, wenige Wochen vor seinem Tod. Die schriftliche Fassung wurde von Aleida Assmann nach Tonbandaufzeichnungen redigiert.

Taubes wagt eine „Dekonstruktion“ der paulinischen Briefe nicht nur als jüdischer Gelehrter und Hochschullehrer für Philosophie, sondern versteht Paulus als Schriftgelehrten des messianischen Judentums seiner Zeit. Dabei unterläuft er die christlichen Interpretationen späterer Zeit, die aus Saul/Paulus aus Tarsus einen „christlichen“ Theologen gemacht haben, obwohl es die Selbst- bzw. Fremdbezeichnung „Christ“ zu seiner Missionszeit im Römischen Reich noch nicht gab. Auf der Basis seiner Messias-Erfahrung des gekreuzigten Jesus aus Nazaret verallgemeinert Paulus die jüdische Erlösungsvorstellung für alle Menschen (ob beschnitten oder unbeschnitten), scheitert mit dieser Botschaft in seinem eigenen Volk und öffnet nach längerer Auseinandersetzung mit den jüdischen Vertreterinnen und Vertretern der „Messias-Jesus-Bewegung“ in Jerusalem die judenchristlichen Gemeinden für alle Menschen, die auf den gekreuzigten Jesus aus Nazaret als den erwarteten Messias vertrauen und sich taufen lassen.

Gerd Theißen und Petra von Gemünden haben in ihrer 2016 veröffentlichten Exegese des Römerbriefes (mit dem Untertitel: „Rechenschaft eines Reformators“) Paulus „als einen scheiternden Reformator“ dargestellt. In der Zusammenfassung am Ende ihrer Untersuchung heißt es: „Paulus hinterlässt mit dem Römerbrief einen Rechenschaftsbericht über sein Reformprogramm, das nachträglich zu seinem Testament wurde. Paulus wollte nicht das Christentum begründen. Sein Christentum war ein antikes messianisches Reformjudentum. Sein Römerbrief wurde aber zu einem Testament für die ganze Menschheit.“

Taubes greift in seinen Überlegungen auf Spinozas „Tractatus Theologico-politicus aus dem Jahr 1670 und das Theologisch-politische Fragment von Walter Benjamin (1920/21) sowie den letzten Abschnitt (Nr.153) „Zum Ende“ der Minima Moralia von Theodor W. Adorno (Dritter Teil, 1946/47) zurück. Dabei gibt er dem Fragment von Benjamin den Vorzug, da er die Position Adornos als ästhetisierend kritisiert . Aus einer messianischen Perspektive mag das verständlich sein, da Adorno davon spricht, „alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten“. Demgegenüber geht Benjamin von einer Tatsachenbehauptung aus: „Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft“.

(2) Chronologischer Prozess oder kairologische Struktur

Mich interessiert die Struktur der Argumentation Benjamins. Er fährt in seinem Fragment fort: „ Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden. Historisch gesehen ist es nicht Ziel, sondern Ende.“

Benjamin, wenn ich ihn recht verstehe, trennt also strikt die messianische Vorstellung vom Reiche Gottes von – wie er formuliert – „der Ordnung des Profanen“. Apokalyptische Vorstellungen in einem theozentrischen Weltbild markieren das Ziel geschichtlicher Entwicklung, sei es als Weltgericht und oder Gottesherrschaft. Die Erlösung der Welt, inklusive der Menschheit, wird als ein chronologischer Prozess gedacht. Unter den Bedingungen anthropozentrischer Weltvorstellung, also in einer Welt ohne Gottesvorstellung,, ist dieser Gedanke sinn-los. Erlösung im Sinne des Messias-Ereignisses hat eine kairologische Struktur, die „quer“ zu historischen Entwicklungen mit ihren chronologischen Bestimmungen wirkt. In der Vorstellung des messianischen Judentums wird daher – in einem längeren Erfahrungsprozess – jede chronologische Fixierung der kommenden Gottesherrschaft verworfen und die existenzielle „Nähe“ erfahren und bezeugt. Die zunächst vorhandene (chronologische)„Naherwartung“ der Freunde des hingerichteten Jesus aus Nazaret erweist sich als Missverständnis. Zwar bleibt in den zeitlich späteren „Glaubensbekenntnissen“ der etablierten christlichen Gemeinden (der Kirche) die Erwartung des „Endgerichtes“ und des „kommenden Reiches“ als einprägsames Bild erhalten, aber jede zeitliche Fixierung wird abgelehnt und führt immer wieder in die Sektenbildung.

(3) Kairologische Struktur als konkrete Utopie

Ich interpretiere unter den Bedingungen heutiger Welterfahrung die kairologische Struktur des Messias-Ereignisses als konkrete Utopie: Obwohl die Sterblichkeit ein andauerndes Kriterium für Mensch und Natur in dieser Welt bleibt (und die individuelle Unsterblichkeit eine höchst problematische Illusion), hat der „Tod keine Macht mehr“; dies nennen Christen – in der sprachlichen Form des Oxymoron – „ewiges Leben“.

Benjamin versucht in seinem „Theologisch-politischen Fragment“ das Verhältnis von politischer Ordnung und messianischem Reich durch die Differenzierung der Kategorie des „Glücks“ zu klären. Ich bevorzuge die Kategorie der „Befreiung“. Sie bedeutet autonomes, verantwortungsvolles Handeln unter der „Zusage der Erlösung“.

Paulus aus Tarsus deutet als Schriftgelehrter des messianischen Judentums seiner Zeit und in Abgrenzung und Ablehnung des Unsterblichkeitsgedankens der hellenistischen Philosophie seine Messias/Christus-Erfahrung im ersten Korintherbrief (Kapitel 7) folgendermaßen: „Die Zeit ist zusammengedrängt.“ Und er rät den Mitgliedern seiner Gemeinde: „Und die sich Dinge dieser Welt zunutze machen, sollen sie sich zunutze machen, als nutzen sie sie nicht. Denn die Gestalt (im Griechischen: das Schema) dieser Welt vergeht.“ (Übersetzung der Zürcher Bibel). Und Paulus schließt seinen Rat mit dem Wunsch: „Ich will aber, dass ihr sorglos seid.“

Berger/Nord übersetzen diese Perikope meiner Meinung nach nicht stringent genug; gerade weil sie daran interessiert sind, verständlich zu sein:
„Und wer die Welt in Gebrauch nimmt, soll das so tun, als dürfte er sie nicht verbrauchen, da doch die sichtbare Gestalt dieser Welt sehr schnell vergeht. Ich will nur, dass ihr euch keine überflüssigen Sorgen macht.“
(Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Frankfurt/Leipzig 1999)

Wenn ich – in anderem Zusammenhang – davon spreche, in der Dynamik des Vorläufigen zu denken und zu handeln, dann kann ich diese Verhaltensweise – den Ratschlag des Paulus im Hinterkopf – explizieren:
Handle verantwortungsvoll, aber sorglos. Bezüglich des „Weltverbrauchs“, also im Umgang mit den Ressourcen dieser Welt beachte eine gewisse Vorsicht; halte den Verbrauch „in der Schwebe“; arbeite nicht zerstörend – mit einer scheinbar paradoxen Begründung: denn das „Schema dieser Welt“ vergeht. *) Anm.7

(4) Befreiung als ständige Aufgabe im Sinne der conditio humana

Ich fokussiere meine Überlegung auf unser heutiges, zeit-gemäßes Weltbild. Die paulinische Argumentation mag zunächst noch durch die chronologisch (miss-)verstandene Parusie geprägt sein; in unserem anthropozentrischen Weltverständnis bedeutet die Messias-Erwartung, die unerlöste Welt steht unter der Zusage ihrer Erlösung durch den Messias (Christus), konkret durch den gekreuzigten Jesus aus Nazaret. Diese konkrete Utopie gibt denen, die auf Jesus Christus (als den Messias in der Vorstellungswelt des messianischen Judentums) vertrauen, also den sog. „Christen“ die Möglichkeit, sorglos, befreit die Welt zu „gebrauchen“.

Sie leben in dieser Welt, aber sie stehen nicht mehr unter ihren Zwängen, nicht mehr unter dem „Schema“ dieser Welt; denn sie bezeugen in „utopischer“ Sprache: der Tod hat keine Herrschaft mehr. Die basileia tou theou ist kein zeitlich zu erwartendes Zeitalter, sondern die gemeinsame Erfahrung, gegen Tod und Vergänglichkeit erlöst zu werden. Diese Erfahrung kann nicht gegen Leistung erkauft oder erzwungen werden, aber ohne Arbeit, Verantwortung und Empathie können Befreiung, Sinn und Erlösung nicht erfahren werden.

Und ich füge polemisch hinzu: Befreiung ist nicht Müßiggang. Der Müßiggänger bleibt ein Resultat vorchristlicher wie vordemokratischer Herrschaftsideologie. Das Ideal der Muße (otium) wie das Lob der Faulheit (Lafargue) bedürfen einer speziellen Ideologiekritik. Das „Einrenken der Welt“ (im Sinne von Hannah Arendt) bleibt unsere ständige Aufgabe, ist der Sinn der conditio humana. *) Anm. 8

Exkurs (1)

Zum Theorie-Praxis-Verhältnis – Problemfall: Muße (otium)

In Analogie eines allseitig bekannten Ausspruches des jungen Marx formuliere ich:
Die Philosophen als Müßiggänger haben die WELT nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie als verantwortlich handelnde Menschen zu verändern.
Zum verantwortlichen Handeln gehört aber notwendigerweise das Nachdenken, die Reflexion. Oder im Bild gesprochen:
Was nützt der morgendliche Hahnenschrei, wenn in der Nacht zuvor die Eule der Minerva ihren Flug nicht absolviert hat? In der zeitlichen Korrelation von Aktion und Reflexion steckt u.a. das zu lösende Problem. Oder nochmals im Tierbild ausgedrückt: wie kommen Tagesaktivist und Nachtschwärmer produktiv zusammen? *) Anm. 9

Es geht mir darum, eine Theorie des Verhaltens und Handelns der Menschen im zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext zu konzipieren und zu skizzieren, um das Verhältnis von Reflexion und Aktion präzise und wirksam zu bestimmen. Das Theorie-Praxis-Verhältnis „dialektisch“ zu nennen, klärt noch nichts; es bedarf der erfahrungsbasierten Analyse und der Offenlegung (Transparenz) der einzelnen Arbeitsschritte, ihrer Muster, Normen und Maximen.

Diese Maximen (Handlungsanleitungen) „fallen nicht vom Himmel“, sondern sind im historisch-gesellschaftlichen Kontext an das jeweilige Weltverständnis rückgekoppelt, das sich im jeweiligen WELTBILD (zusammengefasst) ausdrückt.
Bezogen auf die Summe der jeweiligen Denk- und Handlungsweisen spreche ich von der conditio humana, zeit- und gesellschaftsgebunden und zumeist in unterschiedlichen Mischformen auftretend; zusammengestellt in einem aktuellen Tableau der conditio humana.

Die Aufforderung, als verantwortlich handelnde Menschen die Welt zu verändern, hat mehrere notwendige Voraussetzungen oder Bedingungen:

  • Aufklärung (i.S. Kants): Überwindung der selbstverschuldeten Unmündigkeit.
  • Nonkonformität (i.d.S. „Entweltlichung“).
  • Aufhebung der Arbeitsteilung in „Freie“ und „Sklaven“.
  • Demokratie i.S.d. Partizipation aller.
  • Problematisierung der Begriffe „Muße“ (otium) und „Müßiggang“.

Exkurs (2)

Ich habe in meinem 2017 veröffentlichten „Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten“ das aktuelle „Tableau der conditio humana“ zusammengefasst:

Der Mensch im 21. Jahrhundert in einer Welt ohne GOTT

(5) Zur Differenz von Problemlösen und Erlösung

Den metaphorischen Begriff „Einrenken“ von Hannah Arendt übersetze ich mit „Problemlösen“. Problemlösen (problem solving) hat eine chronologische Struktur, ist menschliche Arbeit (am Erhalt der Welt) und damit „Anstrengung“. Menschliche Arbeit ist vorläufig, korrigier- und revidierbar, zielorientiert. Sie ist schöpferische Tätigkeit sterblicher Menschen, die Vernunftwesen und Naturwesen zugleich sind. *) Anm. 10

Demgegenüber kann Erlösung sinnvoller Weise nur in einer kairologischen Struktur gedacht werden; sie ist Geschenk, endgültig, unbegreifbar, aber existentiell erfahrbar, in Oxymora beschreibbar („ewiges Leben“); ist verstehbar als konkrete Utopie, erfahrbar und ortlos zugleich.

Der Prozess des Problemlösens kann im Folgenden im Detail als Verhältnis von Weg und Ziel erörtert werden. Im Nachdenken über die Struktur des Problemlösens wird die Dynamik des Vorläufigen erkennbar. Die Menschen sind – im Sinne von Hannah Arendt – „sterbliche Schöpfer“. Dass sie „Geschöpfe Gottes“ oder „Produkte der Naturentwicklung“ sind, ist, ideologiekritisch analysiert, eine Projektion. Dass sie „sterbliche Schöpfer“ sind, kann vom Standpunkt der Hoffnung auf Erlösung erkannt und erfahren werden. Adorno spricht daher davon, dass Erkenntnis dieser Art nur vom „Lichte der Erlösung“ her möglich ist.

In meinem Verständnis erzwingt der Atheismus als Methode keine atheistische Weltanschauung (wie z.B. im Naturalismus oder in den Spielarten des Materialismus vorgestellt). Weltbilder dieser Art sind nur (insgeheime) Spiegelbilder des theozentrischen Weltbildes; daher sind naturalistische wie materialistische Welterklärungen Eng- und Irreführungen. Die Sterblichkeit und Vorläufigkeit des In-der-Welt-Seins in Frage zu stellen, ist im Lichte der Hoffnung auf Erlösung möglich. Dabei muss die Struktur der konkreten Utopie beachtet werden, um nicht in Metaphysik oder Projektion zurückzufallen.

Problemlösungsprozesse – wie auch vollständig durchgeführte Lernhandlungen – haben einen konkret zu analysierenden Ausgangspunkt A und eine überprüfbare Problemlösung, das Ziel Z. Der Weg von A nach Z muss rekonstruierbar sein. Die Behauptung, der Weg sei schon das Ziel, ist unsinnig und leugnet die notwendige Stringenz des Weges von A nach Z. Sie ist eine manchmal verständliche, aus der Resignation geborene Schutzbehauptung.

Das bedeutet nicht, dass es keine Um- und Irrwege geben dürfe. Im Gegenteil: jede Stringenz im Weg von A nach Z ist dem Erfolg aus Erfahrung geschuldet oder inkludiert als methodische Stringenz (im Sinne logischer Deduktionen) Idealisierung. So ist die Mathematik – philosophisch oder wissenschaftstheoretisch gesehen – eine idealisierte Sprache; daher in den Erfahrungswissenschaften (der Natur oder Gesellschaft) universal einsetzbar und verstehbar.

(6) Revision als Metamorphose

Zu erfolgreichen Problemlösungsprozessen gehört das bewusste Einplanen möglicher Revision. Umkehr und Neuanfang sind keine Notlösungen, sondern nützen einer wirksamen Problemlösung, die natürlich von der Art des Problembereiches abhängig ist. Ich erinnere nur an die empirische Wahlforschung und die Eindeutigkeit der gefundenen Wahlprognosen. Die Präzision der Vorhersagen ist z.B. abhängig von dem vermuteten Potential an Stammwählern; und dieses Potential hat sich parteispezifisch entscheidend geändert bzw. verringert.

Umwege, Irrwege und Sackgassen zu erkennen und die jeweiligen Gründe zu ermitteln, um zukünftige Fehler möglichst zu vermeiden, hat eine systematische Bedeutung. Ich spreche von der Methode des Mäanderns; so wie ein großer Fluss mäandert, ohne sein Ziel, das offene Meer zu vergessen. Im menschlichen Verhalten spielen die bewusste Umkehr und Metamorphose, die metanoia eine entscheidende Rolle. *) Anm. 11

Der wesentliche Unterschied zwischen der Notwendigkeit, Probleme zu lösen, und der Möglichkeit, die Welt und die in ihr lebenden Menschen zu erlösen, bleibt erhalten. Die Utopie ist ortlos, aber in der Zeit als konkrete Utopie erfahrbar. Des Weiteren ist die Utopie der Erlösung zeitlos, aber kann und muss in der Zeit wirksam werden. Das Gleiche gilt für die Ortlosigkeit der Utopie der Erlösung. Die konkrete Utopie ist nicht nur existenziell erfahrbar, sondern sie kann und muss in der „Welt“, also in Geschichte und Gesellschaft wirksam werden.

Diesen Zusammenhang will ich im Folgenden an zwei wesentlichen Aus-sagen der historischen Jesus-Bewegung verdeutlichen und sie vor Missverständnissen in unserer heutigen aufgeklärten Welterfahrung (zusammengefasst im anthropozentrischen Weltbild, aktualisiert in meinem „Tableau der conditio humana“ – Der Mensch im 21. Jahrhundert in einer Welt ohne Gott“) schützen. Daher müssen diese beiden Grundaussagen aus dem jüdisch-messianischen Kontext verstanden und in unser aufgeklärtes Weltverständnis übersetzt werden: die Verknüpfung, Verschränkung, Gleichsetzung von Gottesliebe und Menschenliebe (GOTT/theos ist agape) und die Ankunft des Gottesreiches (der Gottesherrschaft, der basileia tou theou).

(7) Gott: ein synsemantischer Ausdruck für Liebe (agape)

Die synoptische Tradition der Reich-Gottes-Botschaft reflektiert bereits das Problem eines chronologischen (Miss-)Verständnisses der beginnenden Gottesherrschaft. Der Redakteur des Markus-Evangeliums spricht (in 1,14) vom kairos, der erfüllt ist und bindet das Nahekommen des Reiches Gottes an Umkehr (metanoia) und Vertrauen (pistis). Und im Lukas-Evangelium (17,21) wird das Gottesreich „mitten unter Euch“ oder in der Übertragung von Berger/Nord: „unsichtbar ist Gottes Herrschaft bereits unter euch “ verortet und jede zeitliche Fixierung des Erscheinen des Menschensohns gegenüber den Fragen der Pharisäer abgelehnt.

Der zeitlich früher verfasste erste Johannesbrief (um 55 n. Chr.), der aus einem anderen Kontext als die synoptischen Schriften stammt, radikalisiert das jüdische Gottesverständnis durch die (sprachkritisch gesprochen) synsemantische Erklärung des Gottesbegriffes: „GOTT ist Liebe/agape“ (1 Joh 4, 16: „Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm“.) Alle anderen Vorstellungen und kultischen Praktiken sind, so warnt der Schreiber des Johannesbriefes seine jüdischen Freunde in der Nachfolge Jesu, sind Götzendienst.

(8) Orthopraxis statt Orthodoxie

Der im Römischen Reich des ersten Jahrhunderts n. Chr. erhobene Vorwurf, dass die Anhänger des Jesus aus Nazaret „Atheisten“ seien, ist insofern berechtigt, als alle Gottesvorstellungen, die nicht von der „Menschwerdung Gottes“ in Jesus als dem Messias ausgehen, abgelehnt werden, da sie, so formuliere ich, der konkreten Utopie, dass GOTT Liebe ist, widersprechen. Daraus folgt zwingend, dass die Mitglieder der Jesus-Bewegung „Täter des Wortes“ sind (so der Jakobusbrief, der ebenfalls aus den fünfziger Jahren stammt). Es geht also zu Beginn der Jesus-Bewegung – nach Ende der Auseinandersetzung um Beschneidung und Speisegesetze – um Orthopraxis, nicht um Orthodoxie. Im Zentrum dieser Orthopraxis steht die uneingeschränkte Menschenliebe, gleich ob einer von Hause aus orthodoxer Jude, Hellene, römischer Bürger oder Sklave ist. Im Römischen Reich des ersten Jahrhunderts (nach Christi Geburt) führte diese Überzeugung und Praxis oftmals zu Verspottung (der gekreuzigte Esel) und zu Verurteilung und Hinrichtung. In meiner Überzeugung als aufgeklärter Mensch des 21. Jahrhunderts (der lebt, denkt und arbeitet, „als wenn es GOTT nicht gäbe“ (D.Bonhoeffer), also als methodischer Atheist) ist diese radikale Menschenliebe (agape) Ausdruck der Zusage von „Erlösung“. Diese Zusage ist nicht erzwingbar – weder kultisch noch institutionell, aber sie ist als Befreiung erfahrbar und in Taten der Menschenliebe realisierbar. Sie bedarf der wiederkehrenden (gemeinsamen) Erinnerung an den hingerichteten Jesus als Messias und realisiert sich im Engagement für Gleichheit aller Menschen und Gerechtigkeit.

Diese Orthopraxis verbindet (uns) Christen mit allen Menschen, die sich für Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit engagieren. Auf dieser Basis ist auch das Gespräch mit (nachdenkenden) Atheisten möglich und notwendig. Bei diesen Gesprächen ist zu beachten, dass „Liebe“ (als radikale Sympathie) im menschlichen Leben, das endlich ist, nur vorläufig erfahrbar und „wie in einem Spiegel“ erkennbar ist. Ich nenne diese Erkenntnis in Anlehnung an eine Überlegung des Paulus „aenigmatisch“.

Daher ist die Erfahrung, wie die Praxis der Liebe nur als Oxymoron beschreibbar, um Erlösung (als synsemantischen Ausdruck größter Komplexität – ich sage auch als „Grenzbegriff des In-der-Welt-Seins“) aussprechen, ausdrücken zu können. Aber diese „Beschreibungen“, diese „Bekenntnisse“ stehen meiner Überzeugung nach nicht im Widerspruch zum methodischen Atheismus, wie ich ihn verstehe.

(9) Zur Vorgeschichte des Atheismus im Christentum *) Anm. 12

Der „Atheismus im Christentum“ (vgl. Ernst Bloch) hat eine Vorgeschichte, die – verkürzt gefasst – mit dem biblischen Verbot, den Namen Gottes zu nennen, beginnt, und sich in wiederkehrenden Versuchen der „negativen Theologie“ dokumentiert. Wenn und da „Gott Liebe ist“, schweige ich zunächst, um keine Missverständnisse zu produzieren. Am „Gottesgeplapper“ beteilige ich mich bewusst nicht. Diese Selbstdisziplin sollte nachdenkende Atheisten und aufgeklärte Christen miteinander verbinden. Nur durch Erfahrung und annähernde Beschreibung (in poetischer oder mystischer Sprache) der radikalen Liebe ist erhoffbar und erfahrbar, dass der Tod keine Herrschaft mehr ausübt („And death shall have no dominion“, Dylan Thomas; vgl. Röm 6,9); schon das Hohe Lied ahnte von dieser Erfahrung: „denn stark wie der Tod ist die Liebe, hart wie das Totenreich die Leidenschaft“.

(10) Metamorphose statt Restitution

Diese Überlegungen sind – historisch wie strukturell gesehen – noch im Vorfeld der „Verkehrung“ des messianisch-prophetischen Christentums in eine „imperial-kolonisierende“ Christenheit, wie sie von Urs Eigenmann skizziert und zur Kritik der bestehenden Verhältnisse (vor allem in der römisch-katholischen Kirche – benutzt wird). Dabei ist mir wichtig, dass eine unreflektierte Restitution des nahen Gottesreiches bzw. der urchristlichen Lebenspraxis als heutige Alternative für gesellschaftliche Veränderung vermieden wird.

Die radikalen Reformatoren des 16. Jahrhunderts, insbesondere verschiedene Gruppen der Täuferbewegung, haben mit dieser Strategie der „Restitution“ ihr Verhalten gerechtfertigt und versucht, ein „Neues Jerusalem“ (z.B. Mitte des 16. Jahrhunderts in Münster in Westfalen) zu errichten. Zwar haben Staat (Das Römische Reich) und sowohl die römisch-katholische Kirche wie die entstandenen Kirchen der Reformation in der Folgezeit mit Erfolg versucht, diese Restitutionsbewegungen zu diskriminieren , zu verfolgen und tot zu schweigen, aber selbstkritisch muss festgestellt werden, dass ihre Praxis und ihre Hoffnungen (Utopien) gescheitert sind – nicht nur durch die Gewalt ihrer Gegner, sondern auch ihre Strategien und Konzepte dienten oft der Legitimation, führten in die Irre und – in einigen Gruppen des Täufertums – in die Menschenverachtung. Daher in verkürzter Form meine „Parole“: Metamorphose statt Restitution. *) Anm. 13

In meiner fiktiven Dokumentation gibt der ehemalige Kanzler des Täufer-reiches Heinrich Krechting, der durch besondere Umstände die brutale Eroberung Münsters 1535 überlebte und sich in der Grafschaft Gödens am Schwarzen Brack (dem heutigen Jadebusen an der Nordsee) zum Calvinisten wandelte (Metamorphose!) eine selbstkritische Einschätzung des (melchioritischen) Täufertums und der Restitutionsstrategie. Sein Freund Dr. Gerhard Westerburg schreibt in Erinnerung an das Karfreitagsgespräch und die Osterpredigt 1550 (von Albert Hardenberg) in seine Kladde:
„Es geht nicht um Restitution, also die Wiederherstellung des Reiches Gottes auf Erden, gegebenenfalls mit Gewalt und unter Ausschluss und Vernichtung der ungläubigen; auch geht es nicht nur um Reformation, als wenn es auf eine bestimmte Form des Leben und Handelns ankäme, sondern um Metamorphose, das bedeutet, sich nicht den herrschenden Verhältnissen und Vorstellungen anzupassen – denn diese Vorstellungen sind die Vorstellungen der Herrschenden. Dieses (jetzige) Verhalten ist unser vernünftiger Gottesdienst, wie Paulus im Römerbrief sagt. Der Freie Wille ist kein Naturgesetz (in Erinnerung und in Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam), sondern die Erlösungstat Christi befreit uns, für die Menschen zu handeln; das ist der Wille Gottes. Insofern ist die Wahrheit der Auferstehung Christi untödtlich (so Balthasar Hubmeier), weil sie uns befreit, gerecht und menschenwürdig zu handeln.“ (Der zweifache Exodus, Seite 82)

(11) Prüfung und Umkehr (metanoia) statt Anpassung

Die Aussage des Paulus in seinem Römerbrief, in dem er sein Scheitern als Reformator des messianischen Judentums seiner Zeit rechtfertigt, bedarf natürlich der Übersetzung in unsere Welterfahrung; ich habe das 2013 in meinem Buch „Die radikale Umkehr des Heinrich Krechting am Schwarzen Brack“ für Röm 12, 1u.2 versucht (Seite 15):
„Ich bitte Euch, Schwestern und Brüder, befreit von Zwängen und Ängsten, leidenschaftlich und verantwortlich zu handeln: Das ist unser sinnvolles Engagement. Passt euch nicht den herrschenden gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen an, sondern verändert euch, indem ihr nach-denkt und prüft, was gut für alle Menschen auf dieser Welt ist und was uns dem Traum vom freien, gerechten und guten Leben näher bringt.“

Diese Aufforderung zum Nachdenken und Prüfen verlangt eine umfassen-de Analyse der kapitalistischen Produktionsweise weltweit und eine ideologiekritische Aufarbeitung des Doppelcharakters der Waren in einer all-umfassenden Warengesellschaft, um offenzulegen, dass und wie die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse sich ändern müssen, damit sich Gleichheit und Gerechtigkeit durchsetzen. *) Anm. 14

(12) Lob der Inkonsequenz *) Anm. 15

Alle historisch bedeutsamen und gesellschaftlich relevanten Projekte, von denen in „Großen Erzählungen“ berichtet und oftmals aus unterschiedlichen Interessenlagen „verklärt“ wird, sind in der Gefahr „umzuschlagen“, sich in ihr Gegenteil zu verkehren. Ich erinnere an die Verkehrung der Französischen Revolution in ein inhumanes .Terrorsystem oder grundsätzlich an die Möglichkeit des Umschlags von Aufklärung in Totalitarismus (Stichwort: Dialektik der Aufklärung).

Leszek Kolakowski hat 1958 in seinem „Lob der Inkonsequenz“ formuliert:
„Konsequent sind Soldaten, die ihren gerechten Kampf solange fortsetzen, bis auf der Gegenseite der letzte Soldat gefallen ist; konsequent ist der gesetzestreue Bürger, der nicht vor Denunziation zurückschreckt und voller Selbstachtung mit der Geheimpolizei zusammenarbeitet; konsequent sind auch die Gläubigen, die Scheiterhaufen für Häretiker errichten, da in ihren Augen die himmlische Seligkeit unendlich kostbarer ist als das irdische Wohlergehen. Versuchen Menschen völlig konsequent zu sein, ihre Überzeugung von der absoluten Überlegenheit eines Wertes konsequent in die Tat umzusetzen, dann verwandelt sich die Welt in Schlachtfelder. Dies geschieht auch immer wieder – doch bleibt die Menschheit am Leben, da es stets auch die Inkonsequenten gibt, die Unsicheren, die Wankelmütigen.“

Ich ergänze und lobe die Zweifelnden. Zugegeben, auch Inkonsequenz kann in Opportunismus umschlagen. Ich beharre daher auf der Differenz von Orthopraxis und Orthodoxie: jede Orthopraxis (in meinem Verständnis) ist verbindlich und vorläufig zugleich, weil und wenn sie an der Menschenwürde sich orientiert – oder utopisch formuliert – darauf hofft, dass die Entfremdung der menschlichen Lebensverhältnisse aufgehoben werden kann; dass Erlösung möglich ist – oder in dem eindrucksvollen Oxymoron formuliert: dass der Tod seine Herrschaft verliert.

(13) Messianisches Denken in einer Welt ohne Gott

Religion hat keine Wahrheit, die allgemein begreifbar ist. Der Sinn des Religiösen (als Rückbindung), insbesondere der religiösen Sprache, ist weltbildgebunden. Der Sinn der Rede von GOTT ist in einem theozentrischen Weltbild verstehbar. Demgegenüber ist im anthropozentrischen Weltverständnis die „Rede von GOTT“ als synsemantischer Ausdruck bestimmbar und übersetzbar. Sie bedeutet die Utopie von der „Erlösung der Welt“ und der auf ihr heute und zukünftig lebenden wie bisher gestorbenen Menschen. Diese Utopie ist – als konkrete Utopie – existenziell – erfahrbar und in Oxymora beschreibbar.

Religiöse Denkformen sind an das theozentrische Weltbild gebunden; zumindest in den sog. „monotheistischen“ Religionen. Im Zentrum jüdisch/christlicher Religionsvorstellungen stehen die Exodus-Erzählung und die Messias-Erwartung. Dieses messianische Denken ist in ein anthropozentrisches Weltbild und die zugehörige aufgeklärte Sprache übersetzbar. In einer „Welt ohne Gott“ ist Erlösung denk- und erfahrbar, wenn auch – im sprachkritischen und aussagenlogischem Sinn – nicht begreifbar.

Aufgeklärtes Denken, das die Stadien der Erkenntniskritik (Metaphysik, Religion, Sprache) durchlaufen hat und durchläuft, ist vorläufig, nicht endgültig. Denn die Struktur des Vorläufigen ist dynamisch, da sich Erfahrung bzw. Erwartung und Erkenntnis unterscheiden, auch wenn sie aufeinander bezogen sind. Diese Differenz/dieser Bezug ist beschreibbar und als Utopie konkret erfahrbar. Diese Differenz, diesen Bezug zu leugnen, ist ein Rückfall in die ideologische (und damit reduktive) Position des Materialismus oder Naturalismus. Die Vorgabe und Struktur des Denkens und Handelns „als wenn es Gott nicht gäbe“ nenne ich den methodischen Atheismus und unterscheide ihn konsequent von Ideologien, die instrumentalisieren und/oder legitimieren. *) Anm.(16)

Exkurs (3)

Maximen für einen aufgeklärten Menschen im 21. Jahrhundert,
sein Denken und Handeln, seinen Alltag und Beruf betreffend

Auf die Frage, an welchen Maximen ich mich in meinem Leben, das endlich ist, orientiere, antworte ich wie folgt:
(vorausgesetzt, ich habe zuvor geklärt, was ich unter einer Maxime und unter Orientierung verstehe.)

Zuvor differenziere ich „mein Leben“ in „Alltag“ und „Beruf“ und nehme seine „Endlichkeit“, seine Sterblichkeit vorläufig als eine selbstverständliche Tatsache (des Menschen als Naturwesen, als „sterblicher Schöpfer“ im Sinne von H. Arendt) hin.
Ich nenne zwei Maximen und trenne vorläufig zwischen Alltag und Beruf:

(1) Für den Alltag erinnere ich an Kants kategorischen Imperativ und wähle eine Fassung aus der Einleitung der „Metaphysik der Sitten“:
Handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann. … Jede Maxime, die sich nicht zu einem allgemeinen Gesetz qualifiziert, ist der Moral zuwider.
Ich übersetze in mein Sprachspiel:
Handle verantwortlich unter den Möglichkeiten der Autonomie/der Mündigkeit/des Selbstdenkens, indem du die Würde aller Menschen achtest.

(2) Im Beruf als Lehrer/Philosoph formuliere ich:
Lehre/unterrichte und denke nach/reflektiere, als wenn es GOTT nicht gäbe (im Sinne Bonhoeffers und Blochs). Ich umfasse diese Maxime mit dem Begriff des „methodischen Atheismus“ und spezifiziere „nachdenken“, „aneignen“ und „vermitteln“ zusammenfassend als Problemlösen – ohne Rückgriff auf eine metaphysische/religiöse Instanz. In meinem Sprachspiel lautet daher die zweite Maxime:
Löse Probleme (unterschiedlicher Weite und Tiefe) so, als wenn es GOTT nicht gäbe.

(2a) Alles Problemlösen ist fehlerhaft und vorläufig. Ohne „trial and error“, ohne Zweifel sind Erkenntnis und Erkenntnisfortschritt nicht möglich. Der (methodisch notwendige) Zweifel kann in Verzweiflung umschlagen. Erlösung (als Utopie) bleibt ein Grenzbegriff; ein Oxymoron.

(2b) Weg wie Ziel des Lernens und Lehrens sind das Realisieren von „vollständigen Lernhandlungen“. Soweit stimme ich der konstruktivistischen Lerntheorie zu; denn vorzeitige Abbrüche wie unvollständige Inszenierungen führen zu keinen Problemlösungen.

(2c) Wie kann der (existenzielle) Umschlag von Zweifel in Verzweiflung (und damit als Konsequenz das vorzeitige Ende von Reflexion und Lernprozess) vermieden werden? Menschen (als Vernunft- und Naturwesen) bedürfen der „Hoffnung auf Erlösung“, vorstellbar und erfahrbar als Utopie.

(2d) Als Christ vertraue ich auf die Erlösung der Welt (mich eingeschlossen); wahrgenommen und expliziert als „konkrete Utopie“ im Messias-Ereignis des Jesus aus Nazaret. Dieser Vertrauensvorschuss (daher „konkrete Utopie“) drückt sich individuell und existenziell im Verb „credere“ aus, um das missverständliche Verb „Glauben“ (das auch „putare“ bedeuten kann) zu vermeiden.
Dieser Vertrauensvorschuss erlaubt mir (im Kreis der Mitvertrauenden), Jesus aus Nazaret als Christus, als Erlöser zu bekennen; erfahrbar wie realisierbar ist diese konkrete Utopie als Menschenliebe (agape).

Anmerkungen

(1) Zur Sprachkritik und zur Begriffsbildung vgl. die Einleitung und die entsprechenden Stichwörter in meinem Taschenwörterbuch „Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten, Münster/Westf.2017
Zur Struktur und zur Veränderung der Weltbilder vgl. Günter Dux, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Wiesbaden 2017 (4. Auflage)

(2) Hans Joas bietet in seinem neuesten Buch “Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung“, Frankfurt/Main 2017 eine ausführliche Analyse religionsgeschichtlicher Konzeptionen und hinterfragt mit guten Gründen die These vom zunehmenden „Bedeutungsverlust der Religion“ in der modernen Gesellschaft. Auf der Basis der Analyse des Verhältnisses der Geschichte der Macht und der Geschichte der Religion widerlegt er die teleologische Geschichtsauffassung vom Verschwinden der Religion bzw. ihrer „Aufhebung“ in der säkularen Gesellschaft. Dem stimme ich zu, vermisse aber eine religionskritische Analyse religiöser Theorie und Praxis in modernen Gesellschaften, die nicht nur die „Anpassungsfunktion“ gegenüber den Machtverhältnissen begreift, sondern auch die Ideologieproduktion.

(3) Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011; vgl. Bettina Hollstein/Matthias Jung/Wolfgang Knöbl (Hrsg.), Handlung und Erfahrung. Das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, Frankfurt u.a. 2011; Hermann-Josef Große Kracht (Hg.): Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Sozioöogie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas, Bielefeld 2014

(4) Ob und wie weit Judentum und Christentum den Säkularisierungsprozess verursacht haben, ist in der Literatur und der Wissenschaft umstritten; vgl. Philipp W. Hildmann/Johann Christian Koecke (Hrsg.), Christentum und politische Liberalität. Zu den religiösen Wurzeln säkularer Demokratie, Frankfurt am Main/Bern/Bruxelles 2017

(5) Grundsätzlich und umfassend zum Thema „Ideologiekritik“ vgl. Kurt Lenk (Hrsg.): Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Darmstadt/Neuwied 1978 (8. erweiterte Auflage); Zur Entfaltung der Differenz von Erfahrung und Erkenntnis unter dem Stichwort „Vorläufigkeit“ siehe: Jürgen Schmitter: Die Vorläufigkeit theoretischer Arbeit. Zum Verhältnis von Wissenschaftskritik und Hochschuldidaktik, Osnabrück 1980 (Univ.Diss.)

(5a) Ich verweise zum Problemzusammenhang auf Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015 und für das NT auf den Begriff der „Dahingabe“ als der radikalen Form der Interpretation des Kreuzestodes Jesu: Wiard Popkes: Christus Traditus. Eine Untersuchung zum Begriff der Dahingabe im Neuen Testament, Zürich/Stuttgart 1967. Die hier nicht zu lösende Frage ist: wie kann die radikale Kenosis-Theologie des NT – im Rahmen eines noch theozentrischen Weltverständnisses (Popkes nennt sie „Dahingabe-Christologie“) in ein anthropologisches Weltverständnis übersetzt werden? Schon diese Frage zu denken ist die strukturelle Möglichkeit für einen heutigen Christen, Erlösung als konkrete Utopie zu erfahren.

(6) Zur Differenz von Problemlösen und Erlösung: Ich fasse den Ausdruck „Problemlösen“ (problem solving) sehr allgemein; er soll wissenschaftliche, gesellschaftliche und alltägliche Arbeit umfassen. Expliziert habe ich diese „Methode“ innerhalb eines anthropozentrischen Weltverständnisses an den notwendigen Elementen eines erfolgreichen Lernprozesses (Stichwort: Vollständige Lernhandlung von der sachgemäßen Problemstellung bis zur Evaluation); siehe: Jürgen Schmitter: Grenzen und Möglichkeiten der Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung im System Schule, in: G.Bartsch/R.Gaßmann (Hrsg.): Generation Alkopops, Freiburg im Breisgau 2010.

(7) Wenn ich von der „Dynamik des Vorläufigen“ spreche – den Begriff habe ich von R. Schutz übernommen (Roger Schutz: Dynamik des Vorläufigen, Güterloh 1967; Original: „Dynamique du provisoire“ in: Le Presses de Taizé, 1965), dann auf der Basis des messianischen Denkens, nicht des Konstruktivismus (siehe: Siegfried J. Schmidt: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit, Weilerswist 2010); zum missverständlichen Begriff der „Entweltlichung“ siehe das entsprechende Stichwort in meinem „Vademecum“ und: Paul Josef Cordes/Manfred Lütz: Benedikts Vermächnis, Franziskus Auftrag. Entweltlichung – Eine Streitschrift, Freiburg/Basel/Wien 2013.

(8) Vgl. mein Nachwort „Mit der Torheit leben und sterben?“ in: Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten, Münster 2017

(9) Zum Verhältnis von Reflexion und Aktion verweise ich aus marxistischer Sicht auf: Wolfgang Harich: Zur Kritik der revolutionären Ungeduld. Eine Abrechung mit dem alten und neuen Anarchismus, in: ders.: Schriften zur Anarchie, Marburg 2014

(10) Vgl. auch: Dirk Baecker/Alexander Kluge: Vom Nutzen ungelöster Probleme, Berlin 2003

(11) Ich verweise auf das Stichwort „Orthopraxis“ in meinem „Vademecum“ (2017) und die Reflexion „Zum Verhältnis von Weg und Ziel“ in: „Die radikale Umkehr“ (2013).

(12) Vgl. die entsprechenden Stichworte in meinem „Vademecum“ (2017)

(13) Ich verweise auf die Rechtfertigungsrede des Heinrich Krechting in: „Der zweifache Exodus“ (2017).

(14) Zur Aktualität der Marxschen Konzeption der Kritik der politischen Ökonomie vgl. Michael Quante: Der unversöhnte Marx, Münster 2018 und Thomas Steinfeld: Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx, Frankfurt 2018

(15) Ich verweise nochmals auf mein Stichwort „Orthopraxis“ in meinem „Vademecum“ (2017).

(16) Damit kritisiere und ergänze ich die Aussagen von Siegfried J. Schmidt in seinem Buch: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit. Prozessualität als Argumentationsstrategie, Weilerswist 2010, und verweise auf Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, München 1951/1968, und Roger Schutz: Dynamik des Vorläufigen (Dynamique de provisoire, 1965), Gütersloh 1967; sowie: Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott, Festschrift für Stéphane Mosès, Berlin 2000. Zu meinen metatheoretischen und wissenschaftsdidaktischen Überlegungen siehe: Die Vorläufigkeit theoretischer Arbeit. Zum Verhältnis von Wissenschaftskritik und Hochschuldidaktik, Osnabrück 1980 (Diss.)

Literaturhinweise

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Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: Gesammelte Schriften, Bd.4, Darmstadt 1998

Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Den-ken I, München/Zürich 2000 (2.A.)

Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967

Hannah Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, mit einem Nachwort von Thomas Meyer, München 2018

Jan Assmann, Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015

Jan Assmann, Religio Duplex. Ägyptische Mysterien und Europäische Aufklärung, Berlin 2017

Kurt Appel/Erwin Dirscherl (Hrsg.), Das Testament der Zeit. Die Apokalyptik und ihre gegenwärtige Rezeption, Freiburg/Breisgau 2016

Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt/Main 2006

Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus,München 2002

Dirk Baecker/Alexander Kluge: Vom Nutzen ungelöster Probleme, Berlin 2003

Walter Benjamin, Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt/Main 1961

Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hrsg. v. Eberhard Bethge, München/Hamburg 1968

Ernst Bloch, Geist der Utopie (2. Fassung), Werkausgabe es Bd.3 Frankfurt/Main 1977

Ernst Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Werkausgabe es Bd. 14, Frankfurt/Main 1977

Ernst Bloch, Geist der Utopie (erste Fassung 1918), Werkausgabe es Bd.16, Frank-furt/Main 1977

Paul Josef Cordes/Manfred Lütz: Benedikts Vermächtnis, Franziskus Auftrag, Entweltlichung – Eine Streitschrift, Freiburg/Basel/Wien 2013

Günter Dux, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Wiesbaden 2017 (4. Auflage)

Urs Eigenmann, Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit als himmlischer Kern des Irdischen. Ein Beitrag zur religionskritischen Unterscheidung der Geister, in: Die Kritik der Religion. Der Kampf für das Diesseits der Wahrheit, Münster 2017 (Editi-on ITP-Kompass, Bd. 21

Urs Eigenmann, Von der Christenheit zum Reich Gottes. Beiträge zur Unterscheidung von prophetisch-messianischem Christentum und imperial-kolonisierender Christen¬heit, Luzern 2014 (Edition Exodus)

Dominik Finkelde, Politische Eschatologie nach Paulus, Wien 2007

Hans-Jürgen Goertz: Bruchstücke radikaler Theologie heute. Eine Rechenschaft, Göttingen 2010

Hermann-Josef Große Kracht (Hg.): Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas, Bielefeld 2014

Wolfgang Harich: Schriften zur Anarchie. Zur Kritik der revolutionären Ungeduld und Die Baader-Meinhoff-Gruppe, Marburg 2014
Hans Joas, Sind die Menschenrechte westlich?, München 2015

Philipp W. Hildmann/Johann Christian Koecke (Hrsg.): Christentum und politische Liberalität. Zu den religiösen Wurzeln säkularer Demokratie, Frankfurt am Main/Bern/Bruxelles 2017

Bettina Hollstein/Matthias Jung/ Wolfgang Knöbl (Hrsg.): Handlung und Erfahrung. Das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, Frankfurt am Main u.a. 2011

Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Frankfurt/Main 2017

Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott, Festschrift für Stéphane Mosès, Berlin 2000

Leszek Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative, München 1960

Leszek Kolakowski, Falls es keinen Gott gibt. Die Gottesfrage zwischen Skepsis und Glaube, Gütersloh 2008

Kurt Lenk (Hrsg. u. Einl.): Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Darmstadt/Neuwied 1978 (8. überarb. u. Erw. A.)

Wiard Popkes: Christus Traditus. Eine Untersuchung zum Begriff der Dahingabe im Neuen Testament, Zürich/Stuttgart 1967

Michael Quante: Der unversöhnte Marx. Die Welt in Aufruhr, Münster 2018

Siegfried J. Schmidt: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit. Prozessualität als Argumentationsstrategie, Weilerswist 2010

Jürgen Schmitter: Die Vorläufigkeit theoretischer Arbeit. Zum Verhältnis von Wissenschafskritik und Hochschuldidktik, Osnabrück 1980 (Univ.Diss.)

Jürgen Schmitter, Grenzen und Möglichkeiten der Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung im System Schule, in: G. Bartsch/R. Gaßmann (Hrsg.): Generation Alkopops. Jugendliche zwischen Marketing, Medien und Milieu, Freiburg im Breisgau 2010.

Jürgen Schmitter, Die radikale Umkehr des Heinrich Krechting am Schwarzen Brack, Episoden, Münster/Westf. 2013

Jürgen Schmitter, Der zweifache Exodus des Heinrich Krechting aus Schöppingen im Münsterland zu Beginn der Reformation. Eine fiktive Dokumentation, Münster 2017

Jürgen Schmitter, Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten. Ein Taschenwörterbuch, Münster 2017

Roger Schutz: Dynamik des Vorläufigen, Gütersloh 1967

Spinoza: Tractatus Theologico-politicus, Opera/Werke Bd. 1, Darmstadt 1989

Thomas Steinfeld: Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx, Frankfurt am Main 2018

Jacob Taubes: Die politische Theologie des Paulus, München 1993

Jacob Taubes: Apokalypse und Politik. Aufsätze, Kritiken und kleinere Schriften, hrsg.v. H. Kopp-Oberstebrink u. M. Treml, Paderborn 2017

Gerd Theißen/Petra von Gemünden: Der Römerbrief. Rechenschaft eines Reformators, Göttingen 2016

Gerd Theißen: Der Anwalt des Paulus, Gütersloh 2017

Stichwort: Messianisches Denken in einer Welt ohne Gott

Religion hat keine Wahrheit, die allgemein begreifbar ist (im Sinne aussagenlogisch geprüfter und sprachkritisch bewährter Begriffe und Sprachspiele). Der Sinn des Religiösen (als Rückbindung), insbesondere der religiösen Sprache, ist weltbildgebunden. Der Sinn der Rede von GOTT ist in einem theozentrischen Weltbild verstehbar. Demgegenüber ist im anthropozentrischen Weltverständnis die „Rede von GOTT“ einzig als synsemantischer Ausdruck bestimmbar und übersetzbar. Sie verweist auf die Utopie von der „Erlösung der Welt“ und der auf ihr heute und zukünftig lebenden wie bisher gestorbenen Menschen. Diese Utopie ist – als konkrete Utopie – existenziell – erfahrbar und in Oxymora beschreibbar bzw. erzählbar.
Religiöse Denkformen sind an das theozentrische Weltbild gebunden; zumindest in den sog. „monotheistischen“ Religionen. Im Zentrum jüdisch/christlicher Religionsvorstellungen stehen die Exodus-Erzählung und die Messias-Erwartung. Dieses messianische Denken ist – so meine These – in ein anthropozentrisches Weltbild und die zugehörige aufgeklärte Sprache übersetzbar. In einer „Welt ohne Gott“ ist Erlösung denk- und erfahrbar, wenn auch – im sprachkritischen und aussagenlogischen Sinn – nicht begreifbar.

Aufgeklärtes Denken, das die Stadien der Erkenntniskritik (Kritik der Metaphysik, der Religion und der Sprache) durchlaufen hat und durchläuft, ist vorläufig, nicht endgültig. Denn die Struktur des Vorläufigen ist dynamisch, da sich Erfahrung bzw. Erwartung und Erkenntnis unterscheiden, auch wenn sie aufeinander bezogen sind. Diese Differenz/dieser Bezug ist beschreibbar/erzählbar und als Utopie konkret erfahrbar. Diese Differenz, diesen Bezug zu leugnen, ist ein Rückfall in die ideologische (und damit reduktive) Position des Materialismus oder Naturalismus. Die Vorgabe und Struktur des Denkens und Handelns „als wenn es Gott nicht gäbe“ nenne ich den methodischen Atheismus und unterscheide ihn konsequent von Ideologien, die instrumentalisieren und/oder legitimieren.

p.s.
Damit kritisiere und ergänze ich die Aussagen von Siegfried J. Schmidt in seinem Buch: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit. Prozessualität als Argumentationsstrategie, Weilerswist 2010, und verweise auf Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, München 1951/1968, und Roger Schutz: Dynamik des Vorläufigen (Dynamique de provisoire, 1965), Gütersloh 1967; sowie: Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott, Festschrift für Stéphane Mosès, Berlin 2000. Zu meinen metatheoretischen und wissenschaftsdidaktischen Überlegungen siehe: Die Vorläufigkeit theoretischer Arbeit. Zum Verhältnis von Wissenschaftskritik und Hochschuldidaktik, Osnabrück 1980 (Diss.).

Ausführlich erläutert habe ich meine Überzeugung in meinem 2017 erschienen „Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten. Ein Taschenwörterbuch“ (Münster in Westf.) und neuestens argumentativ zusammengefasst in meinem (noch unveröffentlichten) Manuskript: „Was bedeutet strukturell Erlösung in einer Welt ohne Gott? (Über die Differenz zwischen Chronos und Kairos im messianisch-apokalyptischen Denken und die Konsequenzen in einem anthropozentrischen Weltverständnis: methodischer Atheismus und die Utopie der Erlösung), Metelen (März 2018, 35 S.).

Vgl. zur Gesamtproblematik das Stichwort „Messianismus“ I und II von Ton Veerkamp und Hans-Ernst Schiller in Band 9/I (Maschinerie bis Mitbestimmung) des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus (HKWM), Hamburg 2018 (Sp. 657-682) und speziell im selben Band das Stichwort „materialistische Bibellektüre“ von Kuno Füssel (Sp. 252-266).

Der Strichpunkt oder Lob auf das Semikolon

Vor mir liegt ein Cartoon, in dem die Kassiererin an der Theke den Kunden fragt, ob er Punkte sammelt, und der Kunde antwortet mit einer Gegenfrage: Haben Sie auch Kommas? Ich habe diesen Cartoon an Freunde und Familie verschickt mit folgendem Kommentar:

Meine Frage wäre: Haben Sie auch Semikola?

Mit dieser Zusatzfrage wird das ganze Dilemma unserer deutschen Sprache offensichtlich: nicht nur die Pluralbildung ist unser Problem (insbesondere bei Lehnwörtern aus dem Lateinischen oder Griechischen), sondern auch die Mehrdeutigkeit unserer Sprache.

Bevor ich diese Dilemmata aufzulösen beginne und durch meine mäandernde Denkweise eher verschärfe; (!) also bevor ich chaotisiere (dabei beharrt B. sicherlich darauf, dass der DUDEN eindeutige Regeln kennt, die ich aus Trotz nur ignorierte; (!) nämlich, dass ein Semikolon nur gesetzt würde, wenn ein weiterer Hauptsatz folgt, während ich auf Goethe, Schiller und Kleist verweise, die noch keinen DUDEN und dessen vorgebliche Verbindlichkeit kannten), bekenne ich, dass ich das Semikolon, den Strichpunkt seit langem liebe (B. kann beim Korrekturlesen meiner Texte ein „Lied davon singen“); (!) ja, ich versteige mich zu der Behauptung: „Das Semikolon ist mir ans Herz gewachsen.“ Warum?

Zunächst einmal – aus Tradition. Seit langem liebe ich die verschachtelten Sätze; sie entsprechen meinen mäandernden Gedankengängen und meiner philosophischen Vorstellung, dass alles mit allem zusammenhängt, und eine Differenzierung keine Trennung bedeuten muss. Der Punkt ist für mich ein Schlusspunkt; im Wortsinn, er schließt den Gedankengang ab; danach bleiben nur Luft oder Leere.

Demgegenüber dient das Komma nur zum Luftholen beim Vorlesen. Es ist für mich kein Satzzeichen, sondern ein Sprechzeichen. Und nun werden die grammatikalischen Regeln butterweich: die Schrift- und Lesekultur der Mönche konnte auf Kommata und Wörtertrennung fast ganz verzichten; die große und dekorierte Initiale am Anfang eines Abschnittes reichte aus.

Weiterhin – aus Einsicht. Mein üblicher Blick ins Etymologische Wörterbuch informiert im Detail:
Semikolon – Strichpunkt, Ende des 15. Jahrhunderts von A. Manutius eingeführt, von Schottel (1663) mit Strichpünctlein übersetzt. Zu lateinisch colon, griechisch kolon „Abschnitt einer Satzperiode“, eigentlich „Glied eines Tieres oder Menschen, besonders Bein“; vgl. nhd Kolon „Doppelpunkt“, anfangs Colon (16.Jahrh.).

Jetzt ist meine Neugierde geweckt; das GRIMMsche Wörterbuch wird zu Rate gezogen und läßt mich nicht im Stich: unter „strichpunkt, strichpünktlein“ heißt es:
„deutsche bezeichnung für semikolon“; und STEINHÖWEL wird zitiert, der 1473 „ein semikolonähnliches gebilde beschreibt“: „ ain sollich pünctlin oder túpflin mit ainem besicz gezognen strychlin also“.
Und auch SCHOTTEL in seiner „sprachlehre“ von 1641 wird zitiert:“ das strichpünctlein (als kompositum) hat seine benahmung, weil es von einem striche und einem pùnctleine oder tippel gemacht wird“.

Aber hilft mir der sprachgeschichtliche Rückblick meines „Strichpünktleins“ in der Frage weiter, warum ich mit Lust und Leidenschaft das Semikolon heute gebrauche?

Ich fasse zusammen: wenn schon der Bandwurm „Sprache“ als „Schreibe“ gegliedert werden muss, um den argumentativen Zusammenhang zu verdeutlichen, dann ist es wie mit dem Gegensatz von „sinnvoll“ und „unsinnig“; dazwischen gibt es ein „schwachsinnig“ – und dies im wörtlichen Sinn.
Denn der „Sinn“ einer Sache muss überall aufgespürt werden, wo er sich befindet. Und der Sinn zeigt sich nicht immer offensichtlich und von vorne herein.

So ist es auch mit dem Verhältnis von Punkt und Komma; das Strichpünktlein stellt ein Zwischenglied dar, das trennt und verbindet zugleich. Daher lobe ich das Semikolon und schätze seinen Gebrauch.