Herbstzeitlose (3) – Herbstzeit ist Endzeit.

Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden.“ (Hannah Arendt, 1958)

Diese Überzeugung der Hannah Arendt kann ich mir zu eigen machen. Und ich warne vor dem naturalistischen Missverständnis, den Jahreskreislauf der Natur auf die menschliche Gesellschaft und das In-der-Welt-Sein zu übertragen: als Naturwesen erwarten wir – auf den Herbst folgend – den Winter; und nach Dunkelheit und Winterskälte den Frühling und den Sommer. Demgegenüber ist für uns als Vernunftwesen die Zeit des Herbstes Endzeit. Denn der Herbst ist bildhafter Ausdruck für die Situation, in der wir Menschen leben. In Erwartung des Endes, unseres Todes, erfahren wir, wenn wir bewusst leben, die Dynamik des Vorläufigen. Sie verpflichtet uns zur Verantwortung für die Welt, die Gesellschaft, die Mitmenschen und für uns selbst.

Diese Verantwortung ist im Prinzip weder delegierbar noch relativierbar; sie ist eine Konsequenz unserer Autonomie, unserer Freiheit. Diese Freiheit schließt den Missbrauch ein: zu Verbrechen gegen andere, zur Welt- und Selbstzerstörung. Diese Freiheit verpflichtet uns Menschen (als Vernunftwesen), sie zur Welt- und Selbsterhaltung zu gebrauchen. Das Ethos der Menschenliebe und die Anerkennung der Menschenwürde sind Basis-Verpflichtungen, die (vernünftigerweise) nicht relativierbar sind.

Aber diese Verpflichtungen sind nicht naturgegeben; sie bedürfen stetiger Überprüfung und Revision. Das ist der vernünftige Grund („die Welt im Sein zu halten“) menschlichen Verhaltens und Handelns als „sterbliche Schöpfer“. Diese Verpflichtung verlangt Disziplin (Arendt spricht vom „Einrenken“) und lebt von der Utopie der Erlösung.

Diese Verpflichtung (dieses Ethos) kann in einem anthropozentrischen Weltverständnis reflektiert und eingeordnet werden. Dieses heutige Weltbild ist – realistisch verstanden – unüberholbar (das ist mit dem Begriff der „Endzeit“ gemeint); es hat Aufklärung, Autonomie und Verantwortung zur Grundlage (Verstandesgebrauch, Selbständigkeit, Ethik). Daher spreche ich von einem aufgeklärten Realismus.

Dieser Realismus mag in der Vorstellung (oder Phantasie) mancher Philosophen oder Theologen in Frage gestellt oder als unzureichend reflektiert gekennzeichnet werden, aber das von mir entwickelte Konzept eines aufgeklärten Realismus ist die notwendige Voraussetzung für erfolgreiches wissenschaftliches Arbeiten (inklusive des methodischen Atheismus) einerseits, und die Voraussetzung für verantwortliches Handeln und Verhalten andererseits.

Dieses Konzept nenne ich aufgeklärt, da sowohl die Wahrheitsfrage wie der ethische Imperativ kritisch geprüft wurden (bezogen auf metaphysische, religiöse und anthropologische wie sprachkritische Postulate) – und das Gebot der Verantwortung sich aus der Autonomie (Selbstbestimmung) des Menschen herleitet.

In diesem Konzept, das ich hier nur angedeutet habe, verschwindet Religion (als Praxis oder Institution) nicht – im Sinne einer (globalen) Säkularisierung. Ich versuche, religiöse Praxis und die sie legitimierende Sprache zu verstehen und zu übersetzen – in Abgrenzung von allen Formen der religiösen Metaphysik, der Esoterik und des Aberglaubens. Meiner Überzeugung nach können sowohl aufgeklärte Christen (oder Muslime), als auch nachdenkende Atheisten in diesem Konzept des aufgeklärten Realismus übereinstimmen und in der Praxis des Alltags wie der Wissenschaft zusammenarbeiten.

Herbstzeitlose (2)

Warum Karl R. Poppers Denken zu kurz greift.

Der Herbst ist da; das Efeu am Nachbarschuppen färbt sich wein- bis blutrot. Die Nachttemperatur sinkt nahe an den Gefrierpunkt. Ich benötige eine zusätzliche Decke, denn die Sonne wärmt mich nur noch, wenn sie tagsüber scheint.

Ich sitze am Schreibtisch und denke über die Spielarten des Realismus nach: aufgeregt – unaufgeregt, kritisch – unkritisch; aufgeklärt – naiv. Sind die verschiedenen Sprachspiele eine undurchdringliche Wand oder simulieren sie eine Tür oder versteckt sich in ihnen ein verschlossenes Tor zu einer anderen Wirklichkeit?

Und ich greife auf den (veralteten) Karl R. Popper zurück: wir nähern uns der Wahrheit durch die Methode der Falsifikation – endlos – endlicher Weg bis zum Tod. Für Popper ist „alles Leben Problemlösen“ (1991). Wäre dann das Ende des Lebens, der Tod, die Erlösung? Popper erkennt nicht die Dynamik des Vorläufigen. Differenz und Bezug zwischen Chronos und Kairos sind ihm fremd.

Zwar ist alles Vorläufige endlich und alles Endliche vorläufig, aber im endlichen Augenblick scheint die Utopie auf: zeitlose Ewigkeit – ein anderer Ausdruck für Erlösung. Die Herbstzeitlose erinnert an diese dynamische Erfahrung in der Vergänglichkeit des Augenblicks und verweist, ungreifbar und unbegreifbar, auf die radikale Menschwerdung des Göttlichen. Die messianische Vorstellung der Kenosis (im Sprachspiel der Entäußerung bis in die Hinrichtung und der Erhöhung „am Ende der Zeit“, also jenseits aller chronologischen Fixierung) hat die Struktur der konkreten Utopie, kann – in unserem Weltverständnis – als Erlösung jenseits aller Problemlösungen beschrieben, nicht begriffen werden.

Die konkrete Utopie der Erlösung als „Entäußerung“ (Kenosis)

Im Bedenken und Übersetzen (als Versuch) eines urchristlichen Hymnus, den Paulus, der sich wahrscheinlich in Rom im Gefängnis befindet (um das Jahr 59/60 n.Ch.) und der sich als Sklave des Christus Jesus bezeichnet, in seinem Brief an seine Freunde in Philippi (Makedonien), die er als die Heiligen des Christus Jesus kennzeichnet, zitiert (Phil 2, 5-11):

Dies sinnt bei euch, was auch in Christos Jesus, der, als er in Gestalt Gottes war, nicht für Raub hielt das Sein gleich Gott, sondern sich selbst entäußerte, Gestalt eines Sklaven annehmend, in Gleichheit von Menschen geworden; und im Äußeren erfunden wie ein Mensch, demütigte er sich selbst, geworden gehorsam bis zum Tod, zum Tod aber (des) Kreuzes. Deshalb auch erhöhte ihn Gott und schenkte ihm den Namen, der über jedem Namen (ist), damit im Namen von Jesus jedes Knie sich beuge, (der) Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne: Herr (ist) Jesus Christos zur Herrlichkeit Gottes (des) Vaters.“

(Studienübersetzung Münchener Neues Testament, Düsseldorf 1998, 5.A.)

Übersetzung des Urtextes (Koine-Griechisch) ins Deutsche 2007; Zürcher Bibel:

Niedrigkeit und Erhöhung Christi
Seid so gesinnt, wie es eurem Stand in Christus Jesus entspricht:
Er, der doch von göttlichem Wesen war,
hielt nicht, wie an einer Beute daran fest,
Gott gleich zu sein,
sondern gab es preis
und nahm auf sich das Dasein eines Sklaven,
wurde den Menschen ähnlich,
in seiner Erscheinung wie ein Mensch.
Er erniedrigte sich
und wurde gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz.
Deshalb hat Gott ihn auch über alles erhöht
und ihm den Namen verliehen,
der über allen Namen ist,
damit im Namen Jesu
sich beuge jedes Knie,
all derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind,
und jede Zunge bekenne,
dass Jesus Christus der Herr ist,
zur Ehre Gottes, des Vaters.

Wer war Paulus von Tarsus (Kilikien; heute südl. Türkei)?

P. war, soweit wir heute wissen, ein griechisch gebildeter jüdischer Gelehrter, wie (damals üblich) auch ein ausgebildeter Zeltmacher, Anhänger des messianischen Judentums seiner Zeit, Römischer Bürger, Kenner der hellenistischen Philosophie seiner Zeit, Bekenner des Messias Jesus aus Nazaret, Botschafter und erster Theologe des Urchristentums, das sich „weltweit“ (also im Römischen Reich) entwickelte.

In diesem Hymnus wird auf sehr spezielle und konkrete Weise die „Menschwerdung Gottes“ im und durch den „Messias Jesus“ aus Nazaret verkündet, natürlich unter den Erfahrungen und Bedingungen eines theozentrischen (wie auch durch das römische Reich geprägten) Weltbildes.

Mein Problem und meine Frage ist: wie kann die Botschaft des Paulus, und insbesondere der von ihm zitierte „Hymnus“ sinnvoll unter den Bedingungen der anthropozentrischen Welterfahrung und den bewährten Methoden moderner Problemlösung („als wenn es Gott nicht gäbe“), also im „Zeitalter der Aufklärung und Wissenschaft“ übersetzt und verstanden werden?

Ich setze voraus (was ich anderswo erläutert habe), dass unter den Bedingungen der Aufklärung (Kritik jeder Metaphysik, Religionskritik, Sprachkritik) „Erlösung“ der Welt (als Grenzerfahrung allen vorläufigen Problemlösens) denkbar und erfahrbar, aber nicht begreifbar ist. „Erlösung“ ist daher nur als „Utopie“ beschreibbar.

Ich übersetze den von Paulus zitierten „Kenosis-Hymnus“ in ein heutiges Sprachspiel. Unsere Sprachen kennen nicht nur „logische“ Sprachspiele, die widerspruchsfrei und begreifbar sind, sondern auch Sprachspiele, die die Struktur von „Oxymora“ haben und auf spezielle Weise erfahrbar sind (auch dies habe ich anderswo erläutert).

Ein erster Versuch:

Erlösung als konkrete Utopie

Ein konkreter Mensch
prophezeit das Ende der Zeit (als kairos nicht chronos),
nicht als mächtiger Herrscher (König oder Kaiser oder Führer),
der das Paradies auf Erden verspricht;
sondern als hingerichteter Verbrecher (in der Sicht und Macht der Mächtigen)
Vertrauen erwartet (ohne es erzwingen zu können oder wollen).

Wer dem Gekreuzigten als „Messias“ vertraut (pistis),
der kann befreit und ohne Zwänge denken und handeln,
der muss sich nicht den herrschenden Gesetzen der Macht anpassen,
sondern kann und muss prüfen, was gut und gerecht ist.

In diesem Sinn ist er befreit und bereit,
Gerechtigkeit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit zu realisieren.
Selbst der Tod hat keine Macht mehr über ihn,
obwohl er als Naturwesen sterblich bleibt.

Zum Verhältnis von Macht und Gewalt, Gebrauch und Missbrauch

Unkontrollierte Macht schlägt in Gewalt um. Gewalt realisiert sich in Zerstörung und Selbstzerstörung; in Hass und Vernichtung. Der Gebrauch der Macht kann in Missbrauch umschlagen; das ist der Preis der Freiheit.

Menschen sind Vernunft- und Naturwesen. Sie sind, wie Hannah Arendt sagt: sterbliche Schöpfer.

Sie können ihre Macht gebrauchen und missbrauchen. Sie allein sind verantwortlich für Verbrechen, aber auch für die Durchsetzung der Menschenwürde und Menschenrechte und die Gestaltung gerechter gesellschaftlicher Verhältnisse.

Menschen (als Vernunftwesen) haben die dauernde Verpflichtung und Aufgabe, Menschenwürde für alle und Pflege der Natur durchzusetzen. Als Vernunftwesen sind sie in der Lage und dafür verantwortlich, gerechte Lebensverhältnisse zu realisieren und Missbrauch zu verhindern bzw. einzugrenzen. Menschen sind daher dazu bestimmt (im Sinne der Selbstbestimmung), Probleme zu erkennen und zu lösen; Erlösung ist eine (notwendige) Utopie.

Ein zweiter Versuch:

Jesus Christus Erlöser (Erlösung gedacht in einer und durch eine konkrete Person), diese Botschaft (in Form einer konkreten Utopie) setzt auf Vertrauen; und dieses Vertrauen (pistis) verheißt zeitloses Leben (im Sinne des kairos). Diese konkrete Hoffnung wird existenziell erfahren und ermöglicht, Probleme in der Dynamik des Vorläufigen zu lösen.

Zwar bleiben alle Lösungswege und Ergebnisse bzw. Entscheidungen an Endlichkeit und Irrtum des menschlichen Daseins gebunden, aber in der „Nachfolge Christi“ sind sie weder Zufall noch Schicksal, das in Vernichtung oder Auflösung endet, sondern ermöglichen Korrektur und Umkehr.

Zwar wird die Differenz zwischen Erfahrung der Umkehr oder Korrektur (metanoia) und Erkenntnis des Begriffenen nicht aufgehoben, aber für die Zeit des irdischen Lebens im Lichte der Zusage des ewigen Lebens relativiert.

„Ewiges Leben“ (ein Oxymoron höchster Stufe) ist als Synonym für „Erlösung“ das entscheidende Sprachspiel eines „Christen“; es beschreibt die existenzielle Erfahrung der Zusage der Erlösung (als eines Geschenkes, das weder erkauft noch erzwungen werden kann). Die Macht dieser Zusage gegenüber den Bedingungen begenzten Lebens (als Naturwesen) kann weder aufgehoben, noch kann diese konkrete Utopie in menschlicher Sprache „begriffen“ werden. Aber dieses „Geschenk“ wurde und wird in einer radikalen Form sprachlich beschrieben, die alle theologischen Vorstellungen „sprengt“: Gott ist Liebe (theòs agápe estín).

Im ersten Johannesbrief wird der Gottesbegriff (im Lichte der Messias-Botschaft) entziffert, und die Gottesvorstellungen des theozentrischen Weltbildes werden so radikal zerlegt, dass diese Aussage auch für uns heutige Menschen verstehbar und bedeutsam sein kann: „Gott“ ist ein synsemantischer Ausdruck für konsequente Menschenliebe. So zumindest übersetze ich das Sprachspiel der „johanneischen Schule“.

p.s.

Diese Reflexion bleibt grenzwertig, da ich nicht ausreichend geklärt habe, wie das Verhältnis von begreifenden Sprachspielen und Sprachspielen, die existenzielle Erfahrungen beschreiben, sinnvoll zu klären ist. Aber dieses spezifische Verhältnis versuche ich in der „Formel“ von der Dynamik des Vorläufigen auszusprechen.

Zusammenfassende Übersetzung:

Erlösung in der Dynamik des Vorläufigen

„Jesus Christus Erlöser“ –
diese Botschaft setzt auf Vertrauen
und verheißt zeitloses Leben.

In der Dynamik des Vorläufigen
können Probleme gelöst werden;
gebunden an Irrtum und Endlichkeit.

In der Nachfolge Christi
herrscht weder Zufall noch Schicksal;
sondern Korrektur und Umkehr sind möglich.

Ewiges Leben steht für Erlösung;
Ein Geschenk, das alle frommen Vorstellungen sprengt:
Gott ist Liebe.

Reflexionen in Erinnerung an die Ostseekreuzfahrt im August 2018

Der Sturm auf den Winterpalast – zweifach

Hegel, so wird Karl Marx zitiert, bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Ich vermute, die Wirklichkeit kann komplizierter und komplexer sein.

Als Beispiel nenne ich die Geschichte des zaristischen Winterpalais in St. Petersburg: 1917 wurde es innerhalb der Russischen Revolution von den Bolschewiki übernommen; später hochstilisiert als „Sturm auf den Winterpalast“. Im August 2018 erlebte ich die Eroberung der Eremitage durch den Massentourismus; denn heute ist der Winterpalast – in all seiner goldenen Pracht – Teil der Eremitage, des größten Kunstmuseums – weltweit. War das Geschehen 1917 eine „Tragödie“ und der heutige – mehr oder weniger gesteuerte Massenansturm von Touristen und Touristengruppen – in ihren zahllosen Bussen – eine „Farce“?

Die Entmachtung der Kerenski-Regierung verlief relativ problemlos, auch wenn der Kreuzer „Aurora“ im Hafen einige ungezielte Schüsse abgab; sprachlich „aufgeputscht“ in Anlehnung an den „Sturm auf die Bastille“ zu Beginn der Französischen Revolution. Und das heutige „Durchschleusen“ von zahllosen Touristen hat mit Kunstbetrachtung und Museumspädagogik nichts zu tun, sondern erlaubt bestenfalls ein Dauerstaunen über die Prachtentfaltung und ängstliche Blicke, um die eigene Gruppe (Nr. 6 rot oder Nr. 76 weiß) nicht aus den Augen zu verlieren.

Auch ich werde mein Verhalten später rechtfertigen: Das muss man gesehen haben. Der Zweck heiligt die touristischen Zwangsmittel. Und wie bemerkte der ältere, perfekt deutsch sprechende Reiseführer, als er die Namensänderungen dieser wunderschönen Stadt auf satirische Weise kommentierte: in einigen Jahren sehen wir uns in „Putingrad“ wieder.

Mister Bitter Lemon, der schlafende Zieten

Ich liebe nachmittags an Bord den kleinen Beobachterstatus: Eckplatz, rückenfrei, Blick aufs Meer, Blick auf die wenigen, vorbeigehenden Mitreisenden und den eilfertigen, überfreundlichen Steward. Das war für mehrere Tage mein Aufschreiberplatz in der Galerie neben dem Captains-Club auf dem Promenadendeck. Der Blick aufs Meer wirkte sich sich beruhigend aus; meine Gehirnzellen konnten konzentriert arbeiten, während die Augen sich zeitweilig schlossen – soweit meine Selbstwahrnehmung.

Der Steward schreckte mich auf: „Hallo, Mister Bitter Lemon“, denn er wusste, was ich am Nachmittag trinke, um meine Konzentration zu festigen. Am Horizont sah ich einige Schiffe und einen dünnen Streifen Land; wir durchquerten den finnischen Meerbusen Richtung Stockholm.

Beim Abendessen wurde mir vorgehalten, auf dem Promenadendeck eingeschlafen zu sein; und als Beweis zeigte I. ein Foto, das sie mit ihrem Handy aufgenommen hatte – ohne dass ich irgendetwas bemerkt hatte.

Ich erinnerte mich an den schlafenden Zieten in der Tabakrunde Friedrich II. und unterstelle, dass er als erfolgreicher General an der Seite des Großen Friedrich auch im Schlaf, also in seinem inneren Bewusstsein seine Strategien und Taktiken nachzeichnete, während er für den äußeren Beobachter schlief. Vielleicht war das der innere Grund, warum Friedrich den Schlaf seines väterlichen Freundes duldete.

Ich rechtfertige mein inneres, elitäres Bewusstsein mit der Notwendigkeit des Beobachter-Status als Phänomenologe; Stichwort: Epochè. Ich verbinde die äußere wie innere Beobachter-Rolle mit der kritischen Einschätzung voreiligen politischen Engagements. Der Beobachter-Status – als Grundlage der Analyse der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse – zeigt sich in einer präzisen Urteilsenthaltung, die ein vorschnelles, noch so gut gemeintes Engagement verbietet; dies geht gerade engagierten Politikerinnen und Politikern, die meine Sympathie haben, ab.

Einerseits macht das Engagement sympathisch und auch solidarisch, andererseits führt dieses Verhalten zu vorschnellen Urteilen bzw. Entscheidungen. Ein während der Kreuzfahrt kontrovers diskutiertes Beispiel ist A‘s Traum von einer „Europäischen Republik“. Der Begriff „Republik“ kann zu Kontroversen mit „konstitutionellen Monarchien“ in Europa führen, deren demokratische Struktur unzweifelhaft ist. Daher bleibe ich bei dem Projekt „Vereinigte Staaten von Europa“ und unterscheide mich in der Sache nicht; es geht darum, supranationale Strukturen weiter zu entwickeln, die zu mehr Demokratie, Mitbestimmung und Chancengleichheit führen. Dieser notwendige kurzfristige, mittelfristige und langfristige Prozess darf nicht durch Kontroversen „am Rande“ verzögert bzw. ausgebremst werden.

In einer konsequenten Strategie zur quantitativen wie qualitativen Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse in ganz Europa muss nicht nur – taktisch klug – zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Lösungen unterschieden werden (die sich nicht behindern oder sogar ausschließen dürfen), sondern auch ablenkende Vorschläge und Kontroversen müssen vermieden werden, die das Ziel von Demokratisierung, Gewaltenteilung und Chancengleichheit in allen Ländern und Regionen Europas ausbremsen.

Daher ist in meiner Zielvorstellung, in meiner „Utopie“ die Methode der Epochè ein notwendiges Element, Problemlösungen voranzutreiben, ohne unüberlegt zu handeln. Symbol dieser Methode ist die Eule der Minerva, die in der Dämmerung ihren Flug beginnt und gerade in dieser Zwischenzeit Blick und Überblick bewahrt. Sie steht nicht im Widerspruch zum Gallischen Hahn, der in der Morgenröte seinen Schrei und seine Aktion beginnt. Zwar ist er wachsam und agil, aber er kann nicht (oder kaum) fliegen.

Wie kehre ich von meiner impliziten Kritik der revolutionären Ungeduld zurück zum Schlafenden Zieten? Nun weiß ich es dank der Sprachspiele: aus dem schlafenden Zieten wird der Zieten aus dem Busch. Wir schlafen nicht, wir konzentrieren uns auf unseren Tagtraum und vergessen den Hahnenschrei nicht – manchmal mit Hilfe einer Flasche Bitter Lemon.

Von Zieten aus dem Busch

 Auf dem Promenadendeck
der MS Astor ostseewärts
saß täglich ein alter Mann,
der trank in der Captain‘s Lounge
Bitter Lemon.

Er erinnerte (sich) an
den schlafenden von Zieten
in der Tabakrunde
des alten Friedrich 2.

Zieten aus dem Busch.
Preußens Gloria,
Preußens Untergang.

Transzendentale Apperzeption

Ich saß auf einem Stein am Fuß des Denkmals für den Markgrafen Albrecht von Brandenburg und blickte auf das Grabmal Immanuel Kants an der Außenmauer des Königsberger Doms, eingerahmt durch eine russische Säulenhalle. Was ging mir durch den Kopf (nicht durch den Magen)? Kant, komplizierter Aufklärer, kein hitziger Franzose; preußisch diszipliniert, 1804 in Königsberg (heute Kaliningrad) gestorben. Hier hat er sein Leben lang gelebt, gedacht und gearbeitet.

Dennoch schon in seiner Zeit weltberühmt, aber er war kein Säulenheiliger. Sowjetische Heiligenverehrung hätte er zutiefst abgelehnt. Der Markgraf Albert von Brandenburg hatte 1544 die Universität gegründet. Er konnte nicht ahnen, dass ein Professor seiner Albertina die Metaphysik aus den Angeln heben würde; und dieser Kant seine drei schwer verdaulichen Kritiken (der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft) aufschriebe, um die Philosophie zu revolutionieren.

Marx, Freud, Husserl und Wittgenstein sind ohne seine Leistung nicht denkbar. Ich verzichte darauf, in dieser Reihung Hegel zu nennen, denn es ist schwer genug, ihn vom Kopf auf die Füße zu stellen (oder umgekehrt?).

Hastig verlasse ich Grab- und Denkmal, da die Abfahrt des Busses bevorsteht und verwerfe den elitären und unnützen Gedanken, im Bus meine Mitreisenden zu fragen, was „transzendentale Apperzeption“ bei Kant bedeutet. Nein, es bleibt die bescheidene Quizfrage, wie Kants langjähriger Kammerdiener mit Namen hieß. Da müsste uns ein Licht aufgehen! Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten.

p.s. Kants Diener hieß „Lampe“.

Schein und Sein im Kapitalismus der Gründerjahre

Ich liebe den Bauhausstil des 20. Jahrhunderts: die Funktion der Häuser und Wohnungen und der Gebrauchswert der Dinge des Alltags zeigen Stringenz und schlichte Eleganz. Ich weiß, die ästhetische Einheit von Tausch- und Gebrauchswert bleibt in der kapitalistischen Produktionsweise eine (schöne) Illusion.

Demgegenüber demonstriert der Jugendstil – zumindest an den Fassaden der Häuser – für den, der „dahinter“ blickt, den Gegensatz von Schein (der Fassaden) und Sein (Wohnquantität und -qualität).

Dies erkannte ich in Riga, der Stadt des Jugendstils: eine straßenweite Stuck-Explosion und Expansion; für mich ein (schön anzuschauender) „Rückfall“ in Manierismus und Rokoko.

Die Reiseführerin erzählte, dass die Architekten des Jugendstils zunächst das Dekor und die Pracht der Außenfassaden ihrer Häuser planten und in Konkurrenz zueinander realisierten, während die Innen- und Hinterhöfe sowie die Wohnungen bestenfalls funktional, aber ohne jede „Verzierung“ hergestellt wurden. Zwar wurden keine potemkinschen Dörfer entworfen (wie einem Liebhaber der Zarin Katharina unterstellt wird), aber der Gegensatz von Schein (zur Schaustellung) und Sein (Wohnraumbeschaffung angesichts boomender Industrie und überregionalen Handels) ist belegbar.

Ich erinnerte mich an die Handelshäuser in Leipzig – mit ihren goldenen Fassaden und kunstvoll dekorierten Innenhöfen und denke über die Entwicklungsphasen des Kapitalismus nach: vom frühneuzeitlichen Handelskapital der Hanse (und ihren Bauten) bis zum Industrie-Kapitalismus und der heutigen Rekonstruktion vergangener Zeiten für die Selbstdarstellung und den Massentourismus.

Ästhetische Erfahrung bedarf immer der Aufklärung über das Verhältnis von Sein und Schein in der jeweiligen Produktionsweise einer Gesellschaft. Aber ich bleibe dabei: es gibt heutzutage elegantere Darstellungsformen dieses Verhältnisses von Tausch- und Gebrauchswert – und unweigerlich der Einbruch der Realität durch Zerstörung oder Zerfall.

Kosmos, Chronos, Kairos

In-der-Welt-Sein ist immer auch In-der-Zeit-Sein. Kosmos (mundus) und Chronos entsprechen einander.

Ob die Welt einen Anfang oder ein Ende hat, ist als chronologische Frage bis heute nicht eindeutig gelöst und vielleicht nicht zu lösen. Ich unterstelle, der Kosmos ist endlos und hat deswegen auch keinen Anfang; also der kosmos ist anfangslos und endlos – chronologisch gesehen. Demgegenüber ist unser Planet Erde in unserem Sonnensystem mit allem organischen Leben endlich; hat also – in dieser Form – einen Anfang und ein Ende.

Alle Lebewesen auf dieser Erde sind sterblich, aber in der Lage, sich (ihre Art) zu reproduzieren. Der Mensch ist ebenfalls in der Lage, sich (seine Art) zu reproduzieren, sowohl genetisch, wie auch durch Entwicklung künstlicher Intelligenz. Der Mensch ist als Individuum nicht nur sterblich, er ist sich seines Sterbens bewusst. Zugleich weiß er, dass seine Gattung weiterlebt und unter bestimmten Bedingungen selbst gesteuert weiterleben kann. Er weiß um seine Geschichte, seine Herkunft und Zukunft. Und der Mensch hat die Möglichkeit, Ewigkeit zu denken (nicht missverständlicherweise als Endlosigkeit), sondern als Kairos, als Erfahrung des geglückten/glücklichen Augenblick (in Mystik, als Schweigen), jenseits chronologischer Erwartungen.

Diese Erfahrungen bleiben im endlichen Leben immer vorläufig; die Erlösung als Aufhebung von individuellem Tod und Vergänglichkeit ist eine Utopie. In einem nachmetaphysischen Weltverständnis (in einer „Welt ohne Gott“) ist die Hoffnung auf Erlösung nicht sinnlos, sondern als Utopie denkbar und in konkreten Utopien erzählbar (wenn auch grundsätzlich in der Form von Oxymora).

Daher bedarf es für ein aufgeklärtes Weltverständnis der Übersetzung religiöser Sprache und Sprachspiele. Wenn wir heutigen Menschen, zumindest in unserer Gesellschaftsformation, denken und handeln – in Wissenschaft wie im Alltag – „als wenn es Gott oder Götter nicht gäbe“, also wenn wir in Theorie und Praxis „methodische Atheisten“ sind, dann darf die notwendige Übersetzung religiöser Sprache (und Weltbilder) kein Rückfall in theozentrische Weltvorstellungen (und entsprechende Sprache) sein.

Religion verschwindet nicht aus der Gesellschaft; insofern ist die Behauptung (im Sinne einer geschichtsphilosophischen Konzeption), dass Religion (auf Dauer) verschwindet, gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der wir leben, inadäquat. Hans Joas kritisiert daher zu Recht die zugrunde liegende geschichtsphilosophische (ins soziologische gewendete) Vorstellung der „Entzauberung“ in der modernen Welt, wie sie von Max Weber konzipiert wurde.

Religion verschwindet nicht, wie eine vulgäre Vorstellung geschichtlicher Entwicklung moderner Gesellschaften unterstellt und oftmals prophezeit hat, aber das entbindet eine kritische Theorie der Gesellschaft nicht, die Funktion der Religion im allgemeinen und des Christentums im besonderen zu analysieren, denn die Grundsätze der Aufklärung, ihre Metaphysik- und Religionskritik, sowie die moderne Sprachkritik sind nicht überholt.

p.s.

Zum Kontext dieser Überlegung verweise ich auf meinen Aufsatz: „Was bedeutet strukturell Erlösung in einer Welt ohne Gott?“ in der Abteilung Religion meiner Homepage: schmitter.sifisu.org – und als Ergänzung auf mein Lehrgedicht: Metamorphose (1) – (4), Mai 2018

Was bedeutet strukturell Erlösung in einer Welt ohne Gott?

Über die Differenz zwischen Chronos und Kairos im messianisch-apokalyptischen Denken und die Konsequenzen in einem anthropozentrischen Weltverständnis: methodischer Atheismus und die Utopie der Erlösung

(A) Gliederung mit Thesen

(0) Analyse der Frage: Ist in einer „Welt ohne Gott“ Erlösung denkbar?
Ich antworte mit JA und kläre im Folgenden fünf Voraussetzungen
meiner Grundsatzfrage:

  • der „erlesene“ Hintergrund,
  • ein Irrtum bisheriger Religionskritik: Religion verschwindet nicht,
  • Aufklärung und Übersetzung sind notwendig,
  • die Differenz von Erfahrung und Erkenntnis,
  • Erlösung denken?

(0.1) Der „erlesene“ Hintergrund: Bonhoeffers Widerstand und Ergebung
und Blochs Atheismus im Christentum
(0.2) Sakralität der Person statt Entzauberung der Welt (Zur Position von
Hans Joas)
Religionen können sowohl Hindernis wie Treibmittel kollektiver
Selbstsakralisierung sein. Auch die „Sakralität der Person“ (Joas) ist
ambivalent gegenüber den jeweiligen Machtverhältnissen. Das
Grundrecht auf Menschenwürde muss daher immer wieder
durchgesetzt und ethisch normiert werden.
(0.3) Theorie und Praxis des Christentums bedürfen der Aufklärung und
die christlich/jüdische Botschaft bedarf der Übersetzung
Hannah Arendt fasst das aufgeklärte Menschenverständnis (die
Würde und Autonomie des Menschen; die conditio humana) unter
der Parole zusammen, dass wir „sterbliche Schöpfer“ sind.
(0.4) Zur Differenz von Erfahrung und Erkenntnis im aufgeklärten Denken
Diese Differenz muss bedacht werden, um Ideologisierung und
Verdinglichung jeder religiösen Weltanschauung zu erkennen. Das
gilt auch für Weltanschauungen, die sich atheistisch als Spielarten
von Materialismus oder Naturalismus präsentieren.

(0.5) Erlösung denken?
Nach der Lektüre von Hans-Jürgen Goertz: Bruchstücke radikaler
Theologie heute. Eine Rechenschaft, Göttingen 2010
Was es bedeutet, christliche Theologie heute radikal zu denken, ohne
dies als „Verschwinden der Religion“ misszuverstehen.

(1) Zur Politischen Theologie des Paulus
Gerd Theißen und Petra von Gemünden formulieren: „Paulus wollte
nicht das Christentum begründen. Sein Christentum war ein antikes
messianisches Reformjudentum. Sein Römerbrief wurde aber zu einem
Testament für die ganze Menschheit.“

(2) Chronologischer Prozess oder kairologische Struktur
Die Erlösung der Welt als chronologischen Prozess zu denken, ist unter
den Bedingungen anthropozentrischer Weltvorstellung sinn-los.
Erlösung im Sinne des Messias-Ereignisses hat eine kairologische
Struktur.

(3) Kairologische Struktur als konkrete Utopie
Die Zusage der Erlösung – als Messias-Ereignis – befreit zu
autonomem, verantwortungsvollem Handeln.

(4) Befreiung als ständige Aufgabe im Sinne der conditio humana
Die Erfahrung der Erlösung – als konkreter Utopie – kann nicht erkauft
oder erzwungen werden; aber ohne Arbeit, Verantwortung und
Empathie kann Befreiung nicht gelebt und Erlösung nicht erfahren
werden.

Exkurs (1): Zum Theorie-Praxis-Verhältnis – Problemfall: Muße

Exkurs (2): Tableau der conditio humana

(5) Zur Differenz von Problemlösen und Erlösung
Die Sterblichkeit und Vorläufigkeit des In-der-Welt-Seins in Frage
zu stellen, ist im Lichte der Hoffnung auf Erlösung möglich. Dabei
muss die Struktur der konkreten Utopie beachtet werden, um nicht in
Metaphysik oder Projektion zurückzufallen.

(6) Revision als Metamorphose
Die Utopie der Erlösung ist ort- und zeitlos, aber kann und muss in
der Zeit wirksam werden (als konkrete Utopie erfahrbar).

(7) Gott: ein synsemantischer Ausdruck für Liebe (agape)
„Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und
Gott bleibt in ihm.“ (1 Joh. 4,16)

(8) Orthopraxis statt Orthodoxie
Die Orthopraxis der uneingeschränkten Menschenliebe verbindet
die Christen mit allen Menschen, die sich für Freiheit, Gleichheit
und Gerechtigkeit engagieren.

(9) Zur Vorgeschichte des Atheismus im Christentum
Die theologia negativa hat Selbstdisziplin zur Konsequenz:
Schweigen statt „Gottesgeplapper“.

(10) Metamorphose statt Restitution
– eine Konsequenz aus der kritischen Aufarbeitung
der historischen Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts

(11) Prüfung und Umkehr (metanoia) statt Anpassung
– das fiktive Bekenntnis des Heinrich Krechting

(12) Lob der Inkonsequenz
Jede gelebte Orthopraxie ist verbindlich und vorläufig zugleich.
Gegen falsche Konsequenz, die in Terror umschlägt.

(13) Messianisches Denken in einer Welt ohne Gott
In einer Welt ohne Gott ist Erlösung denk- und erfahrbar,
aber nicht (aussagenlogisch) begreifbar.

Exkurs (3): Maximen für einen aufgeklärten Menschen im 21. Jahrhundert,
sein Denken und Handeln, seinen Alltag und Beruf betreffend.

(B) Essay

(0) Analyse der Frage: Ist in einer „Welt ohne Gott“ Erlösung denkbar?

Der mögliche Sinn dieser Grundsatzfrage ergibt sich aus Bedeutung und Kontext der gebrauchten Wörter. Sind es Begriffe oder synsemantische Ausdrücke oder Beschreibungen von Tätigkeiten oder Oxymora?
Die Bedeutung der Wörter ist gebunden an ihren Verwendungszusammenhang und den Deutungs-Horizont, der sich aus der jeweiligen zeitbedingten Weltanschauung, dem Weltbild ergibt. *) Anm.1

Daher scheint die Antwort auf die eingangs gestellte Frage einerseits einfach: NEIN, denn „Erlösung“ ist nur in einem theozentrischen Weltbild
denkbar. In einem anthropozentrischen Weltbild – in einer Welt ohne Gottesvorstellung (welcher Art auch immer) – ist „Erlösung“ (was immer damit gemeint ist) nicht denkbar (wobei „denkbar“ der Definition bedarf).

Das spontane NEIN impliziert eine bestimmte Weltvorstellung. Auf den ersten Blick ist in einem anthropozentrischen Weltverständnis, also in einer „Welt ohne Gott“ die Frage nach Erlösung sinnlos.

Andererseits erwarten die Leserin oder der Leser, dass ich mit JA antworte; sonst würde ich mich nicht mit dieser Frage beschäftigen und meine Antwort aufschreiben. Mein JA bedarf nicht nur der Begründung, sondern zuvor der begrifflichen wie biographischen Explikation:

  • der Hintergrund meiner Argumentation;
  • das Verschwinden der Religion: ein religionskritischer Irrtum;
  • die Notwendigkeit aufzuklären und zu übersetzen;
  • die Differenz von Erfahrung und Erkenntnis;
  • Erlösung denken.

Der philosophisch geschulte Leser (die Leserin) wird bereits jetzt erkennen, dass die Klärung dieser fünf Vorabklärungen zumindest ansatzweise die Begründung der Antwort auf die Gesamtfrage dieses Essays impliziert.

So ist es im Feld der Metareflexion: Wer über die Voraussetzungen des Denkens nachdenkt, denkt bereits nach; also bewegt sich in den Strukturen der Metareflexion. Dennoch ist es sinnvoll, zunächst die fünf Voraussetzungen meiner Grundsatzfrage zu klären; so ist es möglich, meine Argumentationsstruktur offenzulegen, damit sie nachvollzogen und beurteilt werden kann.. Argumente und ihren Strukturzusammenhang offenzulegen, vermeidet logische Denkfehler und die unreflektierte Weitergabe von Vorurteilen.
Es kommt darauf an, Vorurteile nicht zu leugnen (denn dann reduziert sich der Wahrheitsanspruch auf personenbezogene Glaubwürdigkeit), sondern, Vorurteile zu erkennen und ihre Wirkungen zu prüfen.

(0.1) Der „erlesene“ Hintergrund: Bonhoeffers Widerstand und Ergebung und Blochs Atheismus im Christentum.

Während meines Studiums (1968 in Freiburg/Breisgau) habe ich Ernst Blochs Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs gelesen (Band 14 der Werkausgabe) und (in der Paperback-Ausgabe des Suhrkamp-Verlages) durchgearbeitet. Und – wie es meine Unart ist – habe ich mit schwarzer Tusche den Text kommentiert. Auf dem Titelblatt zitiere ich aus Goethes Faust: „Jeder sonnt sich heute so gern. Sie feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind selber auferstanden.“ Und ich gebe einen Hinweis: „Hiob, der erste Marxist“. Ich zitiere aus dem entsprechenden 24. Kapitel „Grenze der Geduld, Hiob oder Exodus nicht in, sondern aus der Jachwevorstellung selber, Schärfe des Messianismus“ (Seite 165f):
„Der Auszug aus caesarischer Gottesvorstellung, wie ihn Hiob begann, den Menschen über jede Art von Tyrannei setzend, über die fragwürdige einer Gerechtigkeit von oben, auch über die neu-mythische einer Naturmajestät an sich: dieser Auszug ist nicht auch einer aus dem Auszug selbst. Konträr: gerade der Rebell besitzt Gottvertrauen, ohne an Gott zu glauben; das heißt, er hat Vertrauen auf den spezifischen Jachwe des Exodus aus Ägypten, auch wenn jede mythologische Verdinglichung durchschaut wurde, jeder Herrenreflex nach oben ursächlich aufhört.“
Und zwei Sätze weiter heißt es lapidar: „…doch Hiob ist gerade fromm, indem er nicht glaubt“. Am unteren Rand verweise ich auf „Camus – Revolte – Sartre“ und stelle die Frage: „…oder ist der Vater Jesu im Zeugnis Jesu bereits entideologisiert“?
Beim heutigen Durchlesen bleibt die Hiob-Analyse Blochs zutreffender als die verkürzende und einseitig zugespitzte Formulierung, dass nur ein Atheist ein guter Christ sein kann und ein Christ ein guter Atheist. Aber Bloch liebt auch die Zuspitzung und ich denke über meine damalige Begeisterung dieses 1969 neuen Buches von Ernst Bloch nach; dass Hiob fromm ist, indem er nicht glaubt, das überzeugt mich (in ihrer Dialektik) auch heute.

Wenn ich recht erinnere, kannte ich 1969 bereits das Siebenstern-Taschenbuch Nr.1: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hrsg.v. Eberhard Bethge. Seine „nicht-religiöse Interpretation der biblischen Begriffe“ (S.176) beschäftigte mich und meine Freundinnen und Freunde. Als Konsequenz der „weltlichen Interpretation“ (S.178) formuliert Bonhoeffer in dem selben Gefängnisbrief vom 16. Juli 1944:
„Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden; ebenso aber als philosophische und religiöse Arbeitshypothese (Feuerbach!). Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit diese Arbeitshypothese fallen zu lassen bzw. sie so weitgehend wie irgend möglich auszuschalten.“ (S.177, zitiert nach der 5.A., München und Hamburg 1968)
Und zwei Absätze weiter heißt es, dass wir nicht redlich sein können, ohne zu erkennen, dass wir in der Welt leben müssen – „etsi deus non daretur“.
Bonhoeffer sieht in dieser Erkenntnis den „entscheidenden Unterschied“ zu allen Religionen. Und er spitzt seine Erkenntnis zu in die Formel eines unaufhebbaren Widerspruchs, eines Oxymoron: „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.“ (S.178)

Zu beachten ist bei der Aussage von Bonhoeffer das „als ob“ (etsi deus non daretur). Die Frage nach der Existenz Gottes wird gleichsam eingeklammert, da in einem anthropologischen Weltverständnis (in einer „Welt ohne Gott“) nicht beantwortbar; als „moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese abgeschafft“; in meinem Sprachgebrauch sinn-los.

(0.2) Sakralität der Person statt Entzauberung der Welt (Zur Position von Hans Joas)

Auch in modernen (nachindustriellen) Gesellschaften verschwindet Religion nicht; insofern ist das Konzept von der Entzauberung der Welt durch den historischen Prozess der Säkularisierung zu hinterfragen. Hans Joas setzt sich daher zu Recht mit der geschichtsphilosophischen Konstruktion der „Entzauberung der Welt“ bei Max Weber auseinander.

Hier ist Aufklärung notwendig: nicht mit dem irrigen, empirisch falsifizierten Ziel oder der vermeintlichen Hoffnung, Religion zum Verschwinden zu bringen; sei es, als selbstlaufender oder angetriebener Prozess – sondern mit der notwendigen Reflexion, religiöse Aussagen und Strukturen auf ihren Sinngehalt und ihre historische Entwicklung zu prüfen und gegebenenfalls in nichtreligiöse Sprache wie auch partizipative, demokratische Strukturen zu übersetzen und menschenverbindend und -verbindlich („universalethisch“) zu dokumentieren. *) Anm.2

Die berechtigte Kritik an Max Webers Entzauberungsthese (in „Wissenschaft als Beruf“ 1919), wie sie von Hans Joas enwickelt und veröffentlicht wurde (neuestens: Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017), verstehe ich nicht als Rehabilitation unaufgeklärter Religion, sondern verweist auf die fortbestehenden Funktionen von religiöser Theorie und Praxis in modernen, bürgerlichen Gesellschaften. Übrigens gelten diese aus der dreifachen Kritik der Aufklärung gewonnenen Funktionen oft auch für die heute vorherrschenden atheistischen Weltanschauungen des Materialismus und Naturalismus. Ich erinnere an die Kritik der Erkenntnis überhaupt (Kritik jeder Metaphysik), Kritik der Religion (Projektionstheorie) und die moderne Sprachkritik (Bedeutungsanalyse und Struktur von Sprachspielen).

Wenn ich Hans Joas recht verstehe, erkennt auch er die ambivalente Funktion von Religion im Verhältnis zu Macht und Gewalt. Religionen (aus achsenzeitlichen Traditionen) können „sowohl Hindernis wie Treibmittel kollektiver Selbstsakralisierung“ sein (Die Macht des Heiligen, S. 485). Joas bescheinigt allen religiösen und säkularen Traditionen ein „beträchtliches Maß an Flexibilität“, „was ihre Anpassung an Machtverhältnisse betrifft“ (ebd.). „Es gilt der „Hegelschen Versuchung“ teleologischer Geschichtsdeutung zu entgehen, ohne dabei zu vergessen, dass die Menschheit eine einzige Geschichte hat.“ (ebd. ohne Fußnoten)

Ich frage mich daher, ob das Bekenntnis zur „Sakralität der Person“ (so Joas), also, wie ich es verstehe, ob das Postulat und die Unterstellung der Menschenwürde für alle, auch zukünftige Menschen in dieser Welt ein quasi religiöser Grundwert ist. Und was bedeutet diese „Flexibilität“ (Joas) oder pointierter formuliert: diese Ambivalenz? Hans Joas gibt in seiner Schrift „Sind die Menschenrechte westlich?“ (München 2015) eine selbstkritische Antwort. *) Anm.3

Ich ziehe aus diesen Überlegungen folgende Konsequenz: Das Grundrecht auf Menschenwürde und die praktische Umsetzung der Menschenrechte insgesamt müssen immer wieder neu durchgesetzt und als Normen verankert werden. Das meint auch Hannah Arendt, wenn sie davon spricht, dass die Welt täglich neu „eingerenkt“ werden muss. (Vortrag 1958, Die Krise der Erziehung) Und ich formuliere noch grundsätzlicher: So wie das christliche Kreuz als Symbol der Erlösung durch den hingerichteten (radikal „entmachteten“) Messias Jesus auch als Zeichen der Macht und Gewalt missbraucht wurde und wird, so ist auch die Würde jedes Menschen (als universaler Grundwert) in der Gefahr, als Legitimation verbrecherischer Praxis, selbst wenn Staaten sich darauf berufen, missbraucht zu werden.

(03) Theorie und Praxis des Christentums bedürfen der Aufklärung und die christlich/jüdische Botschaft bedarf der Übersetzung

Ich plädiere für die Notwendigkeit der Erkenntnis-, Religions- und Sprachkritik auf der Basis des anthropozentrischen Weltbildes. Sie trifft und betrifft auch die Theorie und Praxis der christlichen Kirchen. Ich beschränke mich auf die Geschichte und Gegenwart des Christentums, weil ich mich biografisch und wissenschaftlich in dieser „Religion“ auskenne.

Uneingeschränktes Kritisches Denken und methodischer Zweifel müssen nicht in die Verzweiflung führen, sondern können die Autonomie des Menschen offenlegen, denn die Menschen sind für ihr Denken, Planen und Handeln veranwortlich. Diese Grundannahme – und Postulat zugleich – bedarf der differenzierten Erörterung und Analyse, um Missverständnisse zu vermeiden. Aber sie erzwingt die Manifestation und Durchsetzung der Würde des Menschen durch die Menschenrechte und seine Partizipation an der Macht durch Begrenzung und Demokratisierung.

Hannah Arendt fasst dieses Menschenverständnis (die conditio humana) unter der Parole zusammen, dass wir sterbliche Schöpfer sind. Demgegenüber entlastet Religion – in Form von Überzeugung und (ritueller) Praxis – auf der Basis theozentrischer Weltauffassung – zwar von der Gesamtverantwortung der Menschen für ihre Erde, aber sie legitimiert zugleich Heteronomie und unkontrollierte, undemokratische Machtausübung.

Meine Auffassung ist: die modernen Gesellschaften und die heutigen Wissenschaften wie auch das zeitgemäße Rechtssystem verlangen, um Erkenntnisfortschritt wie demokratische Partizipation und Chancengleichheit zu sichern, den methodischen Atheismus wie erfahrungswissenschaftlich geprüftes Wissen und erfolgreiche Theorien; aber Erkenntnis und Erkenntnisfortschritt sind von existenzieller Erfahrung zu unterscheiden.

Meine Einschätzung ist: Religion, selbst in ihrer unaufgeklärten Form und in ihren religiös-rituellen Praktiken, verschwindet nicht; gerade deshalb bedarf sie der aufklärenden Analyse, um in der Welt des 21. Jahrhunderts glaubwürdig zu bleiben. Das jüdisch-christliche Konzept der Exodus-Erfahrung schafft diese Möglichkeit, hat es doch den Prozess der (historischen) Aufklärung mitbewirkt; auch wenn die Vorstellung einer „evolutionären Aufhebung“ von Religion in eine säkulare Gesellschaft defizitär ist und diese Vorstellung der Korrektur bedarf. *) Anm.4

(04) Zur Differenz von Erkenntnis und Erfahrung im aufgeklärten Denken

Problemlösen geschieht sachgemäß (metatheoretisch bedenkend) in der „Dynamik des Vorläufigen“. Die jeweiligen Lösungen in den gegenwärtigen Problemlösungsprozessen sind im doppelten Sinn vorläufig: provisorisch und antizipativ zugleich. Diese Struktur meine ich, wenn ich von der Differenz von existenzieller Erfahrung (in der Dimension des kairos) und methodischer Erkenntnis (in der Dimension des chronos) spreche.

Probleme müssen und können wir alltäglich (wie auch in vorgedachten und konstruierten Labors) lösen und müssen sie lösen, um zu leben und zu überleben. Aber erlösen können wir uns nicht. Menschliches Leben ist endlich und vergänglich, auch wenn wir es zeitlich verlängern können und uns (unser Gehirn) in zunehmendem Maß entlasten können und müssen, um unsere Lebensbedingungen als Menschen weltweit zu erhalten und zu verbessern. Von der weltweiten „globalen“ Verbesserung sind wir (die Menschheit) noch meilenweit entfernt.

Auch können wir uns selbst zerstören, aber diese individuelle wie gesellschaftliche Möglichkeit als Macht über den Tod oder als Erlösung zu er- und verklären, ist Selbstbetrug. Erlösung bleibt eine Utopie; auch und gerade im anthropozentrischen Weltverständnis. Soviel können wir durch Nachdenk-Arbeit erkennen: Erlösung ist keine Machtfrage, sondern eine konkrete Utopie. Aus der Sicht des Christentums ist diese konkret erzählte Utopie ein Oxymoron höchster Stufe: ein hingerichteter, absolut machtloser Mensch als Messias/Christus ist erfahrbar im Wort als Beginn und Grund der Erlösung der Welt. Die Wahrheit dieser erzählten Aktion ist existenziell erfahrbar, aber nicht beweisbar und begreifbar. Diese Differenz zwischen Erfahrung und Erkenntnis kann und muss bedacht werden, um Ideologisierung und Verdinglichung jeder religiösen Theorie und Praxis zu erkennen; dies gilt auch für Weltanschauungen, die sich atheistisch als Spielarten von Materialismus oder Naturalismus präsentieren. *) Anm.5

(05) Erlösung denken?
(Nach der Lektüre von Hans-Jürgen Goertz: Bruchstücke
radikaler Theologie heute. Eine Rechenschaft, Göttingen 2010)

Sinn-gebung aus dem Geist des Christentums negiert alle Formen von Hierarchie und Herrschaft. Das vermeintliche Spannungsfeld von Autonomie und Heteronomie ist eine sinn-lose Beschreibung des menschlichen Handlungsfeldes. Basis menschlichen Handelns ist Autonomie – als Verwirklichung von Selbständigkeit und Eigenverantwortung – uneingeschränkt als Prinzip, aber beschränkt in der Umsetzung (unterschiedliche Maße der Realisierung) und Durchsetzung (Möglichkeiten der Willensfreiheit). Die Differenz ist: setze ich Autonomie als Machtstruktur durch oder erfahre ich sie als Befreiung.

In christlicher Sinngebung ist für mich „Gott-denken“ Freiheit realisieren
(in Überwindung von Anpassung an den status quo und als Verwirklichung von Selbständigkeit im Sinne einer Metamorphose). Muss dieser Prozess des Mündigwerdens nicht als Überwindung jeder Form von Religion (als Rückbindung an Konvention, an bestehende Machtstrukturen und theozentrische Weltvorstellung) gedacht werden, ohne dass Religion verschwindet? Der Christ ist „religionslos“, wenn und insoweit er die „Freiheit der Kinder Gottes“ lebt.

Im Rahmen von Religion in der bürgerlichen Gesellschaft und in der Sprache und Vorstellung eines theozentrischen Weltverständnisses kann meiner Überzeugung nach für uns heute „Erlösung“ nicht sinn-voll gedacht und expliziert werden. Aber zu bedenken bleibt: Christliche Kirchen – verstanden als Zuspitzung der jüdischen Orthodoxie und in Abgrenzung und Konkurrenz zum Judentum des 2. nachchristlichen Jahrhunderts – sind trotz allen Fehlverhaltens und trotz allen Rückfalls in religiöse Herrschaftspraxis „Traditionsträger“ der Botschaft von der Erlösung – in der Erzählung vom Exodus und der Menschwerdung Gottes im Messias Jesus aus Nazaret. *) Anm. 5a

H.-J. Goertz ist auf dem Weg, diese Radikalität des Christentums zu denken und auszusprechen; aber ich meine, er ist nicht konsequent genug. Christliche Theologie heute radikal zu denken, bedeutet, sie als im theozentrischen Weltbild argumentierende Theologie „aufzuheben“, ohne diese Notwendigkeit als „Verschwinden der Religion“ misszuverstehen.

Christliche Sinngebung – in einem anthropozentrischen Weltverständnis – denkt das Verhältnis von Gott (als einem synsemantischen Ausdruck) und Mensch nicht als Rückbindung oder als Abhängigkeit (Heteronomie), sondern als Utopie, die nicht erzwungen werden kann, sondern geschenkt ist. Mein Konzept menschlichen Handelns und Verhaltens muss daher (für einen Christenmenschen) das Grundproblem erklären, wie Freiheit und Mündigkeit so umgesetzt werden können, dass sie nicht in neue/alte Abhängigkeiten umschlagen und neue/alte Herrschaftsverhältnisse produzieren oder stabilisieren. Diese Übersetzung in nichtreligiöse Sprache ist notwendig, um Erlösung heute denken zu können

(1) Zur Politischen Theologie des Paulus *) Anm.6

Es ist nicht leicht, die ein wenig chaotisch wirkende Vorlesung des Jacob Taubes zur “Politischen Theologie des Paulus“ in der vorliegenden Buchform (München 1993) zu verstehen. Taubes hat die Vorträge im Februar 1987 vor einer kleinen Gruppe von Zuhörern an der Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg gehalten, wenige Wochen vor seinem Tod. Die schriftliche Fassung wurde von Aleida Assmann nach Tonbandaufzeichnungen redigiert.

Taubes wagt eine „Dekonstruktion“ der paulinischen Briefe nicht nur als jüdischer Gelehrter und Hochschullehrer für Philosophie, sondern versteht Paulus als Schriftgelehrten des messianischen Judentums seiner Zeit. Dabei unterläuft er die christlichen Interpretationen späterer Zeit, die aus Saul/Paulus aus Tarsus einen „christlichen“ Theologen gemacht haben, obwohl es die Selbst- bzw. Fremdbezeichnung „Christ“ zu seiner Missionszeit im Römischen Reich noch nicht gab. Auf der Basis seiner Messias-Erfahrung des gekreuzigten Jesus aus Nazaret verallgemeinert Paulus die jüdische Erlösungsvorstellung für alle Menschen (ob beschnitten oder unbeschnitten), scheitert mit dieser Botschaft in seinem eigenen Volk und öffnet nach längerer Auseinandersetzung mit den jüdischen Vertreterinnen und Vertretern der „Messias-Jesus-Bewegung“ in Jerusalem die judenchristlichen Gemeinden für alle Menschen, die auf den gekreuzigten Jesus aus Nazaret als den erwarteten Messias vertrauen und sich taufen lassen.

Gerd Theißen und Petra von Gemünden haben in ihrer 2016 veröffentlichten Exegese des Römerbriefes (mit dem Untertitel: „Rechenschaft eines Reformators“) Paulus „als einen scheiternden Reformator“ dargestellt. In der Zusammenfassung am Ende ihrer Untersuchung heißt es: „Paulus hinterlässt mit dem Römerbrief einen Rechenschaftsbericht über sein Reformprogramm, das nachträglich zu seinem Testament wurde. Paulus wollte nicht das Christentum begründen. Sein Christentum war ein antikes messianisches Reformjudentum. Sein Römerbrief wurde aber zu einem Testament für die ganze Menschheit.“

Taubes greift in seinen Überlegungen auf Spinozas „Tractatus Theologico-politicus aus dem Jahr 1670 und das Theologisch-politische Fragment von Walter Benjamin (1920/21) sowie den letzten Abschnitt (Nr.153) „Zum Ende“ der Minima Moralia von Theodor W. Adorno (Dritter Teil, 1946/47) zurück. Dabei gibt er dem Fragment von Benjamin den Vorzug, da er die Position Adornos als ästhetisierend kritisiert . Aus einer messianischen Perspektive mag das verständlich sein, da Adorno davon spricht, „alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten“. Demgegenüber geht Benjamin von einer Tatsachenbehauptung aus: „Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft“.

(2) Chronologischer Prozess oder kairologische Struktur

Mich interessiert die Struktur der Argumentation Benjamins. Er fährt in seinem Fragment fort: „ Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden. Historisch gesehen ist es nicht Ziel, sondern Ende.“

Benjamin, wenn ich ihn recht verstehe, trennt also strikt die messianische Vorstellung vom Reiche Gottes von – wie er formuliert – „der Ordnung des Profanen“. Apokalyptische Vorstellungen in einem theozentrischen Weltbild markieren das Ziel geschichtlicher Entwicklung, sei es als Weltgericht und oder Gottesherrschaft. Die Erlösung der Welt, inklusive der Menschheit, wird als ein chronologischer Prozess gedacht. Unter den Bedingungen anthropozentrischer Weltvorstellung, also in einer Welt ohne Gottesvorstellung,, ist dieser Gedanke sinn-los. Erlösung im Sinne des Messias-Ereignisses hat eine kairologische Struktur, die „quer“ zu historischen Entwicklungen mit ihren chronologischen Bestimmungen wirkt. In der Vorstellung des messianischen Judentums wird daher – in einem längeren Erfahrungsprozess – jede chronologische Fixierung der kommenden Gottesherrschaft verworfen und die existenzielle „Nähe“ erfahren und bezeugt. Die zunächst vorhandene (chronologische)„Naherwartung“ der Freunde des hingerichteten Jesus aus Nazaret erweist sich als Missverständnis. Zwar bleibt in den zeitlich späteren „Glaubensbekenntnissen“ der etablierten christlichen Gemeinden (der Kirche) die Erwartung des „Endgerichtes“ und des „kommenden Reiches“ als einprägsames Bild erhalten, aber jede zeitliche Fixierung wird abgelehnt und führt immer wieder in die Sektenbildung.

(3) Kairologische Struktur als konkrete Utopie

Ich interpretiere unter den Bedingungen heutiger Welterfahrung die kairologische Struktur des Messias-Ereignisses als konkrete Utopie: Obwohl die Sterblichkeit ein andauerndes Kriterium für Mensch und Natur in dieser Welt bleibt (und die individuelle Unsterblichkeit eine höchst problematische Illusion), hat der „Tod keine Macht mehr“; dies nennen Christen – in der sprachlichen Form des Oxymoron – „ewiges Leben“.

Benjamin versucht in seinem „Theologisch-politischen Fragment“ das Verhältnis von politischer Ordnung und messianischem Reich durch die Differenzierung der Kategorie des „Glücks“ zu klären. Ich bevorzuge die Kategorie der „Befreiung“. Sie bedeutet autonomes, verantwortungsvolles Handeln unter der „Zusage der Erlösung“.

Paulus aus Tarsus deutet als Schriftgelehrter des messianischen Judentums seiner Zeit und in Abgrenzung und Ablehnung des Unsterblichkeitsgedankens der hellenistischen Philosophie seine Messias/Christus-Erfahrung im ersten Korintherbrief (Kapitel 7) folgendermaßen: „Die Zeit ist zusammengedrängt.“ Und er rät den Mitgliedern seiner Gemeinde: „Und die sich Dinge dieser Welt zunutze machen, sollen sie sich zunutze machen, als nutzen sie sie nicht. Denn die Gestalt (im Griechischen: das Schema) dieser Welt vergeht.“ (Übersetzung der Zürcher Bibel). Und Paulus schließt seinen Rat mit dem Wunsch: „Ich will aber, dass ihr sorglos seid.“

Berger/Nord übersetzen diese Perikope meiner Meinung nach nicht stringent genug; gerade weil sie daran interessiert sind, verständlich zu sein:
„Und wer die Welt in Gebrauch nimmt, soll das so tun, als dürfte er sie nicht verbrauchen, da doch die sichtbare Gestalt dieser Welt sehr schnell vergeht. Ich will nur, dass ihr euch keine überflüssigen Sorgen macht.“
(Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Frankfurt/Leipzig 1999)

Wenn ich – in anderem Zusammenhang – davon spreche, in der Dynamik des Vorläufigen zu denken und zu handeln, dann kann ich diese Verhaltensweise – den Ratschlag des Paulus im Hinterkopf – explizieren:
Handle verantwortungsvoll, aber sorglos. Bezüglich des „Weltverbrauchs“, also im Umgang mit den Ressourcen dieser Welt beachte eine gewisse Vorsicht; halte den Verbrauch „in der Schwebe“; arbeite nicht zerstörend – mit einer scheinbar paradoxen Begründung: denn das „Schema dieser Welt“ vergeht. *) Anm.7

(4) Befreiung als ständige Aufgabe im Sinne der conditio humana

Ich fokussiere meine Überlegung auf unser heutiges, zeit-gemäßes Weltbild. Die paulinische Argumentation mag zunächst noch durch die chronologisch (miss-)verstandene Parusie geprägt sein; in unserem anthropozentrischen Weltverständnis bedeutet die Messias-Erwartung, die unerlöste Welt steht unter der Zusage ihrer Erlösung durch den Messias (Christus), konkret durch den gekreuzigten Jesus aus Nazaret. Diese konkrete Utopie gibt denen, die auf Jesus Christus (als den Messias in der Vorstellungswelt des messianischen Judentums) vertrauen, also den sog. „Christen“ die Möglichkeit, sorglos, befreit die Welt zu „gebrauchen“.

Sie leben in dieser Welt, aber sie stehen nicht mehr unter ihren Zwängen, nicht mehr unter dem „Schema“ dieser Welt; denn sie bezeugen in „utopischer“ Sprache: der Tod hat keine Herrschaft mehr. Die basileia tou theou ist kein zeitlich zu erwartendes Zeitalter, sondern die gemeinsame Erfahrung, gegen Tod und Vergänglichkeit erlöst zu werden. Diese Erfahrung kann nicht gegen Leistung erkauft oder erzwungen werden, aber ohne Arbeit, Verantwortung und Empathie können Befreiung, Sinn und Erlösung nicht erfahren werden.

Und ich füge polemisch hinzu: Befreiung ist nicht Müßiggang. Der Müßiggänger bleibt ein Resultat vorchristlicher wie vordemokratischer Herrschaftsideologie. Das Ideal der Muße (otium) wie das Lob der Faulheit (Lafargue) bedürfen einer speziellen Ideologiekritik. Das „Einrenken der Welt“ (im Sinne von Hannah Arendt) bleibt unsere ständige Aufgabe, ist der Sinn der conditio humana. *) Anm. 8

Exkurs (1)

Zum Theorie-Praxis-Verhältnis – Problemfall: Muße (otium)

In Analogie eines allseitig bekannten Ausspruches des jungen Marx formuliere ich:
Die Philosophen als Müßiggänger haben die WELT nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie als verantwortlich handelnde Menschen zu verändern.
Zum verantwortlichen Handeln gehört aber notwendigerweise das Nachdenken, die Reflexion. Oder im Bild gesprochen:
Was nützt der morgendliche Hahnenschrei, wenn in der Nacht zuvor die Eule der Minerva ihren Flug nicht absolviert hat? In der zeitlichen Korrelation von Aktion und Reflexion steckt u.a. das zu lösende Problem. Oder nochmals im Tierbild ausgedrückt: wie kommen Tagesaktivist und Nachtschwärmer produktiv zusammen? *) Anm. 9

Es geht mir darum, eine Theorie des Verhaltens und Handelns der Menschen im zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext zu konzipieren und zu skizzieren, um das Verhältnis von Reflexion und Aktion präzise und wirksam zu bestimmen. Das Theorie-Praxis-Verhältnis „dialektisch“ zu nennen, klärt noch nichts; es bedarf der erfahrungsbasierten Analyse und der Offenlegung (Transparenz) der einzelnen Arbeitsschritte, ihrer Muster, Normen und Maximen.

Diese Maximen (Handlungsanleitungen) „fallen nicht vom Himmel“, sondern sind im historisch-gesellschaftlichen Kontext an das jeweilige Weltverständnis rückgekoppelt, das sich im jeweiligen WELTBILD (zusammengefasst) ausdrückt.
Bezogen auf die Summe der jeweiligen Denk- und Handlungsweisen spreche ich von der conditio humana, zeit- und gesellschaftsgebunden und zumeist in unterschiedlichen Mischformen auftretend; zusammengestellt in einem aktuellen Tableau der conditio humana.

Die Aufforderung, als verantwortlich handelnde Menschen die Welt zu verändern, hat mehrere notwendige Voraussetzungen oder Bedingungen:

  • Aufklärung (i.S. Kants): Überwindung der selbstverschuldeten Unmündigkeit.
  • Nonkonformität (i.d.S. „Entweltlichung“).
  • Aufhebung der Arbeitsteilung in „Freie“ und „Sklaven“.
  • Demokratie i.S.d. Partizipation aller.
  • Problematisierung der Begriffe „Muße“ (otium) und „Müßiggang“.

Exkurs (2)

Ich habe in meinem 2017 veröffentlichten „Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten“ das aktuelle „Tableau der conditio humana“ zusammengefasst:

Der Mensch im 21. Jahrhundert in einer Welt ohne GOTT

(5) Zur Differenz von Problemlösen und Erlösung

Den metaphorischen Begriff „Einrenken“ von Hannah Arendt übersetze ich mit „Problemlösen“. Problemlösen (problem solving) hat eine chronologische Struktur, ist menschliche Arbeit (am Erhalt der Welt) und damit „Anstrengung“. Menschliche Arbeit ist vorläufig, korrigier- und revidierbar, zielorientiert. Sie ist schöpferische Tätigkeit sterblicher Menschen, die Vernunftwesen und Naturwesen zugleich sind. *) Anm. 10

Demgegenüber kann Erlösung sinnvoller Weise nur in einer kairologischen Struktur gedacht werden; sie ist Geschenk, endgültig, unbegreifbar, aber existentiell erfahrbar, in Oxymora beschreibbar („ewiges Leben“); ist verstehbar als konkrete Utopie, erfahrbar und ortlos zugleich.

Der Prozess des Problemlösens kann im Folgenden im Detail als Verhältnis von Weg und Ziel erörtert werden. Im Nachdenken über die Struktur des Problemlösens wird die Dynamik des Vorläufigen erkennbar. Die Menschen sind – im Sinne von Hannah Arendt – „sterbliche Schöpfer“. Dass sie „Geschöpfe Gottes“ oder „Produkte der Naturentwicklung“ sind, ist, ideologiekritisch analysiert, eine Projektion. Dass sie „sterbliche Schöpfer“ sind, kann vom Standpunkt der Hoffnung auf Erlösung erkannt und erfahren werden. Adorno spricht daher davon, dass Erkenntnis dieser Art nur vom „Lichte der Erlösung“ her möglich ist.

In meinem Verständnis erzwingt der Atheismus als Methode keine atheistische Weltanschauung (wie z.B. im Naturalismus oder in den Spielarten des Materialismus vorgestellt). Weltbilder dieser Art sind nur (insgeheime) Spiegelbilder des theozentrischen Weltbildes; daher sind naturalistische wie materialistische Welterklärungen Eng- und Irreführungen. Die Sterblichkeit und Vorläufigkeit des In-der-Welt-Seins in Frage zu stellen, ist im Lichte der Hoffnung auf Erlösung möglich. Dabei muss die Struktur der konkreten Utopie beachtet werden, um nicht in Metaphysik oder Projektion zurückzufallen.

Problemlösungsprozesse – wie auch vollständig durchgeführte Lernhandlungen – haben einen konkret zu analysierenden Ausgangspunkt A und eine überprüfbare Problemlösung, das Ziel Z. Der Weg von A nach Z muss rekonstruierbar sein. Die Behauptung, der Weg sei schon das Ziel, ist unsinnig und leugnet die notwendige Stringenz des Weges von A nach Z. Sie ist eine manchmal verständliche, aus der Resignation geborene Schutzbehauptung.

Das bedeutet nicht, dass es keine Um- und Irrwege geben dürfe. Im Gegenteil: jede Stringenz im Weg von A nach Z ist dem Erfolg aus Erfahrung geschuldet oder inkludiert als methodische Stringenz (im Sinne logischer Deduktionen) Idealisierung. So ist die Mathematik – philosophisch oder wissenschaftstheoretisch gesehen – eine idealisierte Sprache; daher in den Erfahrungswissenschaften (der Natur oder Gesellschaft) universal einsetzbar und verstehbar.

(6) Revision als Metamorphose

Zu erfolgreichen Problemlösungsprozessen gehört das bewusste Einplanen möglicher Revision. Umkehr und Neuanfang sind keine Notlösungen, sondern nützen einer wirksamen Problemlösung, die natürlich von der Art des Problembereiches abhängig ist. Ich erinnere nur an die empirische Wahlforschung und die Eindeutigkeit der gefundenen Wahlprognosen. Die Präzision der Vorhersagen ist z.B. abhängig von dem vermuteten Potential an Stammwählern; und dieses Potential hat sich parteispezifisch entscheidend geändert bzw. verringert.

Umwege, Irrwege und Sackgassen zu erkennen und die jeweiligen Gründe zu ermitteln, um zukünftige Fehler möglichst zu vermeiden, hat eine systematische Bedeutung. Ich spreche von der Methode des Mäanderns; so wie ein großer Fluss mäandert, ohne sein Ziel, das offene Meer zu vergessen. Im menschlichen Verhalten spielen die bewusste Umkehr und Metamorphose, die metanoia eine entscheidende Rolle. *) Anm. 11

Der wesentliche Unterschied zwischen der Notwendigkeit, Probleme zu lösen, und der Möglichkeit, die Welt und die in ihr lebenden Menschen zu erlösen, bleibt erhalten. Die Utopie ist ortlos, aber in der Zeit als konkrete Utopie erfahrbar. Des Weiteren ist die Utopie der Erlösung zeitlos, aber kann und muss in der Zeit wirksam werden. Das Gleiche gilt für die Ortlosigkeit der Utopie der Erlösung. Die konkrete Utopie ist nicht nur existenziell erfahrbar, sondern sie kann und muss in der „Welt“, also in Geschichte und Gesellschaft wirksam werden.

Diesen Zusammenhang will ich im Folgenden an zwei wesentlichen Aus-sagen der historischen Jesus-Bewegung verdeutlichen und sie vor Missverständnissen in unserer heutigen aufgeklärten Welterfahrung (zusammengefasst im anthropozentrischen Weltbild, aktualisiert in meinem „Tableau der conditio humana“ – Der Mensch im 21. Jahrhundert in einer Welt ohne Gott“) schützen. Daher müssen diese beiden Grundaussagen aus dem jüdisch-messianischen Kontext verstanden und in unser aufgeklärtes Weltverständnis übersetzt werden: die Verknüpfung, Verschränkung, Gleichsetzung von Gottesliebe und Menschenliebe (GOTT/theos ist agape) und die Ankunft des Gottesreiches (der Gottesherrschaft, der basileia tou theou).

(7) Gott: ein synsemantischer Ausdruck für Liebe (agape)

Die synoptische Tradition der Reich-Gottes-Botschaft reflektiert bereits das Problem eines chronologischen (Miss-)Verständnisses der beginnenden Gottesherrschaft. Der Redakteur des Markus-Evangeliums spricht (in 1,14) vom kairos, der erfüllt ist und bindet das Nahekommen des Reiches Gottes an Umkehr (metanoia) und Vertrauen (pistis). Und im Lukas-Evangelium (17,21) wird das Gottesreich „mitten unter Euch“ oder in der Übertragung von Berger/Nord: „unsichtbar ist Gottes Herrschaft bereits unter euch “ verortet und jede zeitliche Fixierung des Erscheinen des Menschensohns gegenüber den Fragen der Pharisäer abgelehnt.

Der zeitlich früher verfasste erste Johannesbrief (um 55 n. Chr.), der aus einem anderen Kontext als die synoptischen Schriften stammt, radikalisiert das jüdische Gottesverständnis durch die (sprachkritisch gesprochen) synsemantische Erklärung des Gottesbegriffes: „GOTT ist Liebe/agape“ (1 Joh 4, 16: „Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm“.) Alle anderen Vorstellungen und kultischen Praktiken sind, so warnt der Schreiber des Johannesbriefes seine jüdischen Freunde in der Nachfolge Jesu, sind Götzendienst.

(8) Orthopraxis statt Orthodoxie

Der im Römischen Reich des ersten Jahrhunderts n. Chr. erhobene Vorwurf, dass die Anhänger des Jesus aus Nazaret „Atheisten“ seien, ist insofern berechtigt, als alle Gottesvorstellungen, die nicht von der „Menschwerdung Gottes“ in Jesus als dem Messias ausgehen, abgelehnt werden, da sie, so formuliere ich, der konkreten Utopie, dass GOTT Liebe ist, widersprechen. Daraus folgt zwingend, dass die Mitglieder der Jesus-Bewegung „Täter des Wortes“ sind (so der Jakobusbrief, der ebenfalls aus den fünfziger Jahren stammt). Es geht also zu Beginn der Jesus-Bewegung – nach Ende der Auseinandersetzung um Beschneidung und Speisegesetze – um Orthopraxis, nicht um Orthodoxie. Im Zentrum dieser Orthopraxis steht die uneingeschränkte Menschenliebe, gleich ob einer von Hause aus orthodoxer Jude, Hellene, römischer Bürger oder Sklave ist. Im Römischen Reich des ersten Jahrhunderts (nach Christi Geburt) führte diese Überzeugung und Praxis oftmals zu Verspottung (der gekreuzigte Esel) und zu Verurteilung und Hinrichtung. In meiner Überzeugung als aufgeklärter Mensch des 21. Jahrhunderts (der lebt, denkt und arbeitet, „als wenn es GOTT nicht gäbe“ (D.Bonhoeffer), also als methodischer Atheist) ist diese radikale Menschenliebe (agape) Ausdruck der Zusage von „Erlösung“. Diese Zusage ist nicht erzwingbar – weder kultisch noch institutionell, aber sie ist als Befreiung erfahrbar und in Taten der Menschenliebe realisierbar. Sie bedarf der wiederkehrenden (gemeinsamen) Erinnerung an den hingerichteten Jesus als Messias und realisiert sich im Engagement für Gleichheit aller Menschen und Gerechtigkeit.

Diese Orthopraxis verbindet (uns) Christen mit allen Menschen, die sich für Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit engagieren. Auf dieser Basis ist auch das Gespräch mit (nachdenkenden) Atheisten möglich und notwendig. Bei diesen Gesprächen ist zu beachten, dass „Liebe“ (als radikale Sympathie) im menschlichen Leben, das endlich ist, nur vorläufig erfahrbar und „wie in einem Spiegel“ erkennbar ist. Ich nenne diese Erkenntnis in Anlehnung an eine Überlegung des Paulus „aenigmatisch“.

Daher ist die Erfahrung, wie die Praxis der Liebe nur als Oxymoron beschreibbar, um Erlösung (als synsemantischen Ausdruck größter Komplexität – ich sage auch als „Grenzbegriff des In-der-Welt-Seins“) aussprechen, ausdrücken zu können. Aber diese „Beschreibungen“, diese „Bekenntnisse“ stehen meiner Überzeugung nach nicht im Widerspruch zum methodischen Atheismus, wie ich ihn verstehe.

(9) Zur Vorgeschichte des Atheismus im Christentum *) Anm. 12

Der „Atheismus im Christentum“ (vgl. Ernst Bloch) hat eine Vorgeschichte, die – verkürzt gefasst – mit dem biblischen Verbot, den Namen Gottes zu nennen, beginnt, und sich in wiederkehrenden Versuchen der „negativen Theologie“ dokumentiert. Wenn und da „Gott Liebe ist“, schweige ich zunächst, um keine Missverständnisse zu produzieren. Am „Gottesgeplapper“ beteilige ich mich bewusst nicht. Diese Selbstdisziplin sollte nachdenkende Atheisten und aufgeklärte Christen miteinander verbinden. Nur durch Erfahrung und annähernde Beschreibung (in poetischer oder mystischer Sprache) der radikalen Liebe ist erhoffbar und erfahrbar, dass der Tod keine Herrschaft mehr ausübt („And death shall have no dominion“, Dylan Thomas; vgl. Röm 6,9); schon das Hohe Lied ahnte von dieser Erfahrung: „denn stark wie der Tod ist die Liebe, hart wie das Totenreich die Leidenschaft“.

(10) Metamorphose statt Restitution

Diese Überlegungen sind – historisch wie strukturell gesehen – noch im Vorfeld der „Verkehrung“ des messianisch-prophetischen Christentums in eine „imperial-kolonisierende“ Christenheit, wie sie von Urs Eigenmann skizziert und zur Kritik der bestehenden Verhältnisse (vor allem in der römisch-katholischen Kirche – benutzt wird). Dabei ist mir wichtig, dass eine unreflektierte Restitution des nahen Gottesreiches bzw. der urchristlichen Lebenspraxis als heutige Alternative für gesellschaftliche Veränderung vermieden wird.

Die radikalen Reformatoren des 16. Jahrhunderts, insbesondere verschiedene Gruppen der Täuferbewegung, haben mit dieser Strategie der „Restitution“ ihr Verhalten gerechtfertigt und versucht, ein „Neues Jerusalem“ (z.B. Mitte des 16. Jahrhunderts in Münster in Westfalen) zu errichten. Zwar haben Staat (Das Römische Reich) und sowohl die römisch-katholische Kirche wie die entstandenen Kirchen der Reformation in der Folgezeit mit Erfolg versucht, diese Restitutionsbewegungen zu diskriminieren , zu verfolgen und tot zu schweigen, aber selbstkritisch muss festgestellt werden, dass ihre Praxis und ihre Hoffnungen (Utopien) gescheitert sind – nicht nur durch die Gewalt ihrer Gegner, sondern auch ihre Strategien und Konzepte dienten oft der Legitimation, führten in die Irre und – in einigen Gruppen des Täufertums – in die Menschenverachtung. Daher in verkürzter Form meine „Parole“: Metamorphose statt Restitution. *) Anm. 13

In meiner fiktiven Dokumentation gibt der ehemalige Kanzler des Täufer-reiches Heinrich Krechting, der durch besondere Umstände die brutale Eroberung Münsters 1535 überlebte und sich in der Grafschaft Gödens am Schwarzen Brack (dem heutigen Jadebusen an der Nordsee) zum Calvinisten wandelte (Metamorphose!) eine selbstkritische Einschätzung des (melchioritischen) Täufertums und der Restitutionsstrategie. Sein Freund Dr. Gerhard Westerburg schreibt in Erinnerung an das Karfreitagsgespräch und die Osterpredigt 1550 (von Albert Hardenberg) in seine Kladde:
„Es geht nicht um Restitution, also die Wiederherstellung des Reiches Gottes auf Erden, gegebenenfalls mit Gewalt und unter Ausschluss und Vernichtung der ungläubigen; auch geht es nicht nur um Reformation, als wenn es auf eine bestimmte Form des Leben und Handelns ankäme, sondern um Metamorphose, das bedeutet, sich nicht den herrschenden Verhältnissen und Vorstellungen anzupassen – denn diese Vorstellungen sind die Vorstellungen der Herrschenden. Dieses (jetzige) Verhalten ist unser vernünftiger Gottesdienst, wie Paulus im Römerbrief sagt. Der Freie Wille ist kein Naturgesetz (in Erinnerung und in Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam), sondern die Erlösungstat Christi befreit uns, für die Menschen zu handeln; das ist der Wille Gottes. Insofern ist die Wahrheit der Auferstehung Christi untödtlich (so Balthasar Hubmeier), weil sie uns befreit, gerecht und menschenwürdig zu handeln.“ (Der zweifache Exodus, Seite 82)

(11) Prüfung und Umkehr (metanoia) statt Anpassung

Die Aussage des Paulus in seinem Römerbrief, in dem er sein Scheitern als Reformator des messianischen Judentums seiner Zeit rechtfertigt, bedarf natürlich der Übersetzung in unsere Welterfahrung; ich habe das 2013 in meinem Buch „Die radikale Umkehr des Heinrich Krechting am Schwarzen Brack“ für Röm 12, 1u.2 versucht (Seite 15):
„Ich bitte Euch, Schwestern und Brüder, befreit von Zwängen und Ängsten, leidenschaftlich und verantwortlich zu handeln: Das ist unser sinnvolles Engagement. Passt euch nicht den herrschenden gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen an, sondern verändert euch, indem ihr nach-denkt und prüft, was gut für alle Menschen auf dieser Welt ist und was uns dem Traum vom freien, gerechten und guten Leben näher bringt.“

Diese Aufforderung zum Nachdenken und Prüfen verlangt eine umfassen-de Analyse der kapitalistischen Produktionsweise weltweit und eine ideologiekritische Aufarbeitung des Doppelcharakters der Waren in einer all-umfassenden Warengesellschaft, um offenzulegen, dass und wie die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse sich ändern müssen, damit sich Gleichheit und Gerechtigkeit durchsetzen. *) Anm. 14

(12) Lob der Inkonsequenz *) Anm. 15

Alle historisch bedeutsamen und gesellschaftlich relevanten Projekte, von denen in „Großen Erzählungen“ berichtet und oftmals aus unterschiedlichen Interessenlagen „verklärt“ wird, sind in der Gefahr „umzuschlagen“, sich in ihr Gegenteil zu verkehren. Ich erinnere an die Verkehrung der Französischen Revolution in ein inhumanes .Terrorsystem oder grundsätzlich an die Möglichkeit des Umschlags von Aufklärung in Totalitarismus (Stichwort: Dialektik der Aufklärung).

Leszek Kolakowski hat 1958 in seinem „Lob der Inkonsequenz“ formuliert:
„Konsequent sind Soldaten, die ihren gerechten Kampf solange fortsetzen, bis auf der Gegenseite der letzte Soldat gefallen ist; konsequent ist der gesetzestreue Bürger, der nicht vor Denunziation zurückschreckt und voller Selbstachtung mit der Geheimpolizei zusammenarbeitet; konsequent sind auch die Gläubigen, die Scheiterhaufen für Häretiker errichten, da in ihren Augen die himmlische Seligkeit unendlich kostbarer ist als das irdische Wohlergehen. Versuchen Menschen völlig konsequent zu sein, ihre Überzeugung von der absoluten Überlegenheit eines Wertes konsequent in die Tat umzusetzen, dann verwandelt sich die Welt in Schlachtfelder. Dies geschieht auch immer wieder – doch bleibt die Menschheit am Leben, da es stets auch die Inkonsequenten gibt, die Unsicheren, die Wankelmütigen.“

Ich ergänze und lobe die Zweifelnden. Zugegeben, auch Inkonsequenz kann in Opportunismus umschlagen. Ich beharre daher auf der Differenz von Orthopraxis und Orthodoxie: jede Orthopraxis (in meinem Verständnis) ist verbindlich und vorläufig zugleich, weil und wenn sie an der Menschenwürde sich orientiert – oder utopisch formuliert – darauf hofft, dass die Entfremdung der menschlichen Lebensverhältnisse aufgehoben werden kann; dass Erlösung möglich ist – oder in dem eindrucksvollen Oxymoron formuliert: dass der Tod seine Herrschaft verliert.

(13) Messianisches Denken in einer Welt ohne Gott

Religion hat keine Wahrheit, die allgemein begreifbar ist. Der Sinn des Religiösen (als Rückbindung), insbesondere der religiösen Sprache, ist weltbildgebunden. Der Sinn der Rede von GOTT ist in einem theozentrischen Weltbild verstehbar. Demgegenüber ist im anthropozentrischen Weltverständnis die „Rede von GOTT“ als synsemantischer Ausdruck bestimmbar und übersetzbar. Sie bedeutet die Utopie von der „Erlösung der Welt“ und der auf ihr heute und zukünftig lebenden wie bisher gestorbenen Menschen. Diese Utopie ist – als konkrete Utopie – existenziell – erfahrbar und in Oxymora beschreibbar.

Religiöse Denkformen sind an das theozentrische Weltbild gebunden; zumindest in den sog. „monotheistischen“ Religionen. Im Zentrum jüdisch/christlicher Religionsvorstellungen stehen die Exodus-Erzählung und die Messias-Erwartung. Dieses messianische Denken ist in ein anthropozentrisches Weltbild und die zugehörige aufgeklärte Sprache übersetzbar. In einer „Welt ohne Gott“ ist Erlösung denk- und erfahrbar, wenn auch – im sprachkritischen und aussagenlogischem Sinn – nicht begreifbar.

Aufgeklärtes Denken, das die Stadien der Erkenntniskritik (Metaphysik, Religion, Sprache) durchlaufen hat und durchläuft, ist vorläufig, nicht endgültig. Denn die Struktur des Vorläufigen ist dynamisch, da sich Erfahrung bzw. Erwartung und Erkenntnis unterscheiden, auch wenn sie aufeinander bezogen sind. Diese Differenz/dieser Bezug ist beschreibbar und als Utopie konkret erfahrbar. Diese Differenz, diesen Bezug zu leugnen, ist ein Rückfall in die ideologische (und damit reduktive) Position des Materialismus oder Naturalismus. Die Vorgabe und Struktur des Denkens und Handelns „als wenn es Gott nicht gäbe“ nenne ich den methodischen Atheismus und unterscheide ihn konsequent von Ideologien, die instrumentalisieren und/oder legitimieren. *) Anm.(16)

Exkurs (3)

Maximen für einen aufgeklärten Menschen im 21. Jahrhundert,
sein Denken und Handeln, seinen Alltag und Beruf betreffend

Auf die Frage, an welchen Maximen ich mich in meinem Leben, das endlich ist, orientiere, antworte ich wie folgt:
(vorausgesetzt, ich habe zuvor geklärt, was ich unter einer Maxime und unter Orientierung verstehe.)

Zuvor differenziere ich „mein Leben“ in „Alltag“ und „Beruf“ und nehme seine „Endlichkeit“, seine Sterblichkeit vorläufig als eine selbstverständliche Tatsache (des Menschen als Naturwesen, als „sterblicher Schöpfer“ im Sinne von H. Arendt) hin.
Ich nenne zwei Maximen und trenne vorläufig zwischen Alltag und Beruf:

(1) Für den Alltag erinnere ich an Kants kategorischen Imperativ und wähle eine Fassung aus der Einleitung der „Metaphysik der Sitten“:
Handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann. … Jede Maxime, die sich nicht zu einem allgemeinen Gesetz qualifiziert, ist der Moral zuwider.
Ich übersetze in mein Sprachspiel:
Handle verantwortlich unter den Möglichkeiten der Autonomie/der Mündigkeit/des Selbstdenkens, indem du die Würde aller Menschen achtest.

(2) Im Beruf als Lehrer/Philosoph formuliere ich:
Lehre/unterrichte und denke nach/reflektiere, als wenn es GOTT nicht gäbe (im Sinne Bonhoeffers und Blochs). Ich umfasse diese Maxime mit dem Begriff des „methodischen Atheismus“ und spezifiziere „nachdenken“, „aneignen“ und „vermitteln“ zusammenfassend als Problemlösen – ohne Rückgriff auf eine metaphysische/religiöse Instanz. In meinem Sprachspiel lautet daher die zweite Maxime:
Löse Probleme (unterschiedlicher Weite und Tiefe) so, als wenn es GOTT nicht gäbe.

(2a) Alles Problemlösen ist fehlerhaft und vorläufig. Ohne „trial and error“, ohne Zweifel sind Erkenntnis und Erkenntnisfortschritt nicht möglich. Der (methodisch notwendige) Zweifel kann in Verzweiflung umschlagen. Erlösung (als Utopie) bleibt ein Grenzbegriff; ein Oxymoron.

(2b) Weg wie Ziel des Lernens und Lehrens sind das Realisieren von „vollständigen Lernhandlungen“. Soweit stimme ich der konstruktivistischen Lerntheorie zu; denn vorzeitige Abbrüche wie unvollständige Inszenierungen führen zu keinen Problemlösungen.

(2c) Wie kann der (existenzielle) Umschlag von Zweifel in Verzweiflung (und damit als Konsequenz das vorzeitige Ende von Reflexion und Lernprozess) vermieden werden? Menschen (als Vernunft- und Naturwesen) bedürfen der „Hoffnung auf Erlösung“, vorstellbar und erfahrbar als Utopie.

(2d) Als Christ vertraue ich auf die Erlösung der Welt (mich eingeschlossen); wahrgenommen und expliziert als „konkrete Utopie“ im Messias-Ereignis des Jesus aus Nazaret. Dieser Vertrauensvorschuss (daher „konkrete Utopie“) drückt sich individuell und existenziell im Verb „credere“ aus, um das missverständliche Verb „Glauben“ (das auch „putare“ bedeuten kann) zu vermeiden.
Dieser Vertrauensvorschuss erlaubt mir (im Kreis der Mitvertrauenden), Jesus aus Nazaret als Christus, als Erlöser zu bekennen; erfahrbar wie realisierbar ist diese konkrete Utopie als Menschenliebe (agape).

Anmerkungen

(1) Zur Sprachkritik und zur Begriffsbildung vgl. die Einleitung und die entsprechenden Stichwörter in meinem Taschenwörterbuch „Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten, Münster/Westf.2017
Zur Struktur und zur Veränderung der Weltbilder vgl. Günter Dux, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Wiesbaden 2017 (4. Auflage)

(2) Hans Joas bietet in seinem neuesten Buch “Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung“, Frankfurt/Main 2017 eine ausführliche Analyse religionsgeschichtlicher Konzeptionen und hinterfragt mit guten Gründen die These vom zunehmenden „Bedeutungsverlust der Religion“ in der modernen Gesellschaft. Auf der Basis der Analyse des Verhältnisses der Geschichte der Macht und der Geschichte der Religion widerlegt er die teleologische Geschichtsauffassung vom Verschwinden der Religion bzw. ihrer „Aufhebung“ in der säkularen Gesellschaft. Dem stimme ich zu, vermisse aber eine religionskritische Analyse religiöser Theorie und Praxis in modernen Gesellschaften, die nicht nur die „Anpassungsfunktion“ gegenüber den Machtverhältnissen begreift, sondern auch die Ideologieproduktion.

(3) Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011; vgl. Bettina Hollstein/Matthias Jung/Wolfgang Knöbl (Hrsg.), Handlung und Erfahrung. Das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, Frankfurt u.a. 2011; Hermann-Josef Große Kracht (Hg.): Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Sozioöogie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas, Bielefeld 2014

(4) Ob und wie weit Judentum und Christentum den Säkularisierungsprozess verursacht haben, ist in der Literatur und der Wissenschaft umstritten; vgl. Philipp W. Hildmann/Johann Christian Koecke (Hrsg.), Christentum und politische Liberalität. Zu den religiösen Wurzeln säkularer Demokratie, Frankfurt am Main/Bern/Bruxelles 2017

(5) Grundsätzlich und umfassend zum Thema „Ideologiekritik“ vgl. Kurt Lenk (Hrsg.): Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Darmstadt/Neuwied 1978 (8. erweiterte Auflage); Zur Entfaltung der Differenz von Erfahrung und Erkenntnis unter dem Stichwort „Vorläufigkeit“ siehe: Jürgen Schmitter: Die Vorläufigkeit theoretischer Arbeit. Zum Verhältnis von Wissenschaftskritik und Hochschuldidaktik, Osnabrück 1980 (Univ.Diss.)

(5a) Ich verweise zum Problemzusammenhang auf Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015 und für das NT auf den Begriff der „Dahingabe“ als der radikalen Form der Interpretation des Kreuzestodes Jesu: Wiard Popkes: Christus Traditus. Eine Untersuchung zum Begriff der Dahingabe im Neuen Testament, Zürich/Stuttgart 1967. Die hier nicht zu lösende Frage ist: wie kann die radikale Kenosis-Theologie des NT – im Rahmen eines noch theozentrischen Weltverständnisses (Popkes nennt sie „Dahingabe-Christologie“) in ein anthropologisches Weltverständnis übersetzt werden? Schon diese Frage zu denken ist die strukturelle Möglichkeit für einen heutigen Christen, Erlösung als konkrete Utopie zu erfahren.

(6) Zur Differenz von Problemlösen und Erlösung: Ich fasse den Ausdruck „Problemlösen“ (problem solving) sehr allgemein; er soll wissenschaftliche, gesellschaftliche und alltägliche Arbeit umfassen. Expliziert habe ich diese „Methode“ innerhalb eines anthropozentrischen Weltverständnisses an den notwendigen Elementen eines erfolgreichen Lernprozesses (Stichwort: Vollständige Lernhandlung von der sachgemäßen Problemstellung bis zur Evaluation); siehe: Jürgen Schmitter: Grenzen und Möglichkeiten der Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung im System Schule, in: G.Bartsch/R.Gaßmann (Hrsg.): Generation Alkopops, Freiburg im Breisgau 2010.

(7) Wenn ich von der „Dynamik des Vorläufigen“ spreche – den Begriff habe ich von R. Schutz übernommen (Roger Schutz: Dynamik des Vorläufigen, Güterloh 1967; Original: „Dynamique du provisoire“ in: Le Presses de Taizé, 1965), dann auf der Basis des messianischen Denkens, nicht des Konstruktivismus (siehe: Siegfried J. Schmidt: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit, Weilerswist 2010); zum missverständlichen Begriff der „Entweltlichung“ siehe das entsprechende Stichwort in meinem „Vademecum“ und: Paul Josef Cordes/Manfred Lütz: Benedikts Vermächnis, Franziskus Auftrag. Entweltlichung – Eine Streitschrift, Freiburg/Basel/Wien 2013.

(8) Vgl. mein Nachwort „Mit der Torheit leben und sterben?“ in: Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten, Münster 2017

(9) Zum Verhältnis von Reflexion und Aktion verweise ich aus marxistischer Sicht auf: Wolfgang Harich: Zur Kritik der revolutionären Ungeduld. Eine Abrechung mit dem alten und neuen Anarchismus, in: ders.: Schriften zur Anarchie, Marburg 2014

(10) Vgl. auch: Dirk Baecker/Alexander Kluge: Vom Nutzen ungelöster Probleme, Berlin 2003

(11) Ich verweise auf das Stichwort „Orthopraxis“ in meinem „Vademecum“ (2017) und die Reflexion „Zum Verhältnis von Weg und Ziel“ in: „Die radikale Umkehr“ (2013).

(12) Vgl. die entsprechenden Stichworte in meinem „Vademecum“ (2017)

(13) Ich verweise auf die Rechtfertigungsrede des Heinrich Krechting in: „Der zweifache Exodus“ (2017).

(14) Zur Aktualität der Marxschen Konzeption der Kritik der politischen Ökonomie vgl. Michael Quante: Der unversöhnte Marx, Münster 2018 und Thomas Steinfeld: Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx, Frankfurt 2018

(15) Ich verweise nochmals auf mein Stichwort „Orthopraxis“ in meinem „Vademecum“ (2017).

(16) Damit kritisiere und ergänze ich die Aussagen von Siegfried J. Schmidt in seinem Buch: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit. Prozessualität als Argumentationsstrategie, Weilerswist 2010, und verweise auf Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, München 1951/1968, und Roger Schutz: Dynamik des Vorläufigen (Dynamique de provisoire, 1965), Gütersloh 1967; sowie: Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott, Festschrift für Stéphane Mosès, Berlin 2000. Zu meinen metatheoretischen und wissenschaftsdidaktischen Überlegungen siehe: Die Vorläufigkeit theoretischer Arbeit. Zum Verhältnis von Wissenschaftskritik und Hochschuldidaktik, Osnabrück 1980 (Diss.)

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Kurt Appel/Erwin Dirscherl (Hrsg.), Das Testament der Zeit. Die Apokalyptik und ihre gegenwärtige Rezeption, Freiburg/Breisgau 2016

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Paul Josef Cordes/Manfred Lütz: Benedikts Vermächtnis, Franziskus Auftrag, Entweltlichung – Eine Streitschrift, Freiburg/Basel/Wien 2013

Günter Dux, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Wiesbaden 2017 (4. Auflage)

Urs Eigenmann, Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit als himmlischer Kern des Irdischen. Ein Beitrag zur religionskritischen Unterscheidung der Geister, in: Die Kritik der Religion. Der Kampf für das Diesseits der Wahrheit, Münster 2017 (Editi-on ITP-Kompass, Bd. 21

Urs Eigenmann, Von der Christenheit zum Reich Gottes. Beiträge zur Unterscheidung von prophetisch-messianischem Christentum und imperial-kolonisierender Christen¬heit, Luzern 2014 (Edition Exodus)

Dominik Finkelde, Politische Eschatologie nach Paulus, Wien 2007

Hans-Jürgen Goertz: Bruchstücke radikaler Theologie heute. Eine Rechenschaft, Göttingen 2010

Hermann-Josef Große Kracht (Hg.): Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas, Bielefeld 2014

Wolfgang Harich: Schriften zur Anarchie. Zur Kritik der revolutionären Ungeduld und Die Baader-Meinhoff-Gruppe, Marburg 2014
Hans Joas, Sind die Menschenrechte westlich?, München 2015

Philipp W. Hildmann/Johann Christian Koecke (Hrsg.): Christentum und politische Liberalität. Zu den religiösen Wurzeln säkularer Demokratie, Frankfurt am Main/Bern/Bruxelles 2017

Bettina Hollstein/Matthias Jung/ Wolfgang Knöbl (Hrsg.): Handlung und Erfahrung. Das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, Frankfurt am Main u.a. 2011

Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Frankfurt/Main 2017

Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott, Festschrift für Stéphane Mosès, Berlin 2000

Leszek Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative, München 1960

Leszek Kolakowski, Falls es keinen Gott gibt. Die Gottesfrage zwischen Skepsis und Glaube, Gütersloh 2008

Kurt Lenk (Hrsg. u. Einl.): Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Darmstadt/Neuwied 1978 (8. überarb. u. Erw. A.)

Wiard Popkes: Christus Traditus. Eine Untersuchung zum Begriff der Dahingabe im Neuen Testament, Zürich/Stuttgart 1967

Michael Quante: Der unversöhnte Marx. Die Welt in Aufruhr, Münster 2018

Siegfried J. Schmidt: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit. Prozessualität als Argumentationsstrategie, Weilerswist 2010

Jürgen Schmitter: Die Vorläufigkeit theoretischer Arbeit. Zum Verhältnis von Wissenschafskritik und Hochschuldidktik, Osnabrück 1980 (Univ.Diss.)

Jürgen Schmitter, Grenzen und Möglichkeiten der Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung im System Schule, in: G. Bartsch/R. Gaßmann (Hrsg.): Generation Alkopops. Jugendliche zwischen Marketing, Medien und Milieu, Freiburg im Breisgau 2010.

Jürgen Schmitter, Die radikale Umkehr des Heinrich Krechting am Schwarzen Brack, Episoden, Münster/Westf. 2013

Jürgen Schmitter, Der zweifache Exodus des Heinrich Krechting aus Schöppingen im Münsterland zu Beginn der Reformation. Eine fiktive Dokumentation, Münster 2017

Jürgen Schmitter, Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten. Ein Taschenwörterbuch, Münster 2017

Roger Schutz: Dynamik des Vorläufigen, Gütersloh 1967

Spinoza: Tractatus Theologico-politicus, Opera/Werke Bd. 1, Darmstadt 1989

Thomas Steinfeld: Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx, Frankfurt am Main 2018

Jacob Taubes: Die politische Theologie des Paulus, München 1993

Jacob Taubes: Apokalypse und Politik. Aufsätze, Kritiken und kleinere Schriften, hrsg.v. H. Kopp-Oberstebrink u. M. Treml, Paderborn 2017

Gerd Theißen/Petra von Gemünden: Der Römerbrief. Rechenschaft eines Reformators, Göttingen 2016

Gerd Theißen: Der Anwalt des Paulus, Gütersloh 2017

Stichwort: Messianisches Denken in einer Welt ohne Gott

Religion hat keine Wahrheit, die allgemein begreifbar ist (im Sinne aussagenlogisch geprüfter und sprachkritisch bewährter Begriffe und Sprachspiele). Der Sinn des Religiösen (als Rückbindung), insbesondere der religiösen Sprache, ist weltbildgebunden. Der Sinn der Rede von GOTT ist in einem theozentrischen Weltbild verstehbar. Demgegenüber ist im anthropozentrischen Weltverständnis die „Rede von GOTT“ einzig als synsemantischer Ausdruck bestimmbar und übersetzbar. Sie verweist auf die Utopie von der „Erlösung der Welt“ und der auf ihr heute und zukünftig lebenden wie bisher gestorbenen Menschen. Diese Utopie ist – als konkrete Utopie – existenziell – erfahrbar und in Oxymora beschreibbar bzw. erzählbar.
Religiöse Denkformen sind an das theozentrische Weltbild gebunden; zumindest in den sog. „monotheistischen“ Religionen. Im Zentrum jüdisch/christlicher Religionsvorstellungen stehen die Exodus-Erzählung und die Messias-Erwartung. Dieses messianische Denken ist – so meine These – in ein anthropozentrisches Weltbild und die zugehörige aufgeklärte Sprache übersetzbar. In einer „Welt ohne Gott“ ist Erlösung denk- und erfahrbar, wenn auch – im sprachkritischen und aussagenlogischen Sinn – nicht begreifbar.

Aufgeklärtes Denken, das die Stadien der Erkenntniskritik (Kritik der Metaphysik, der Religion und der Sprache) durchlaufen hat und durchläuft, ist vorläufig, nicht endgültig. Denn die Struktur des Vorläufigen ist dynamisch, da sich Erfahrung bzw. Erwartung und Erkenntnis unterscheiden, auch wenn sie aufeinander bezogen sind. Diese Differenz/dieser Bezug ist beschreibbar/erzählbar und als Utopie konkret erfahrbar. Diese Differenz, diesen Bezug zu leugnen, ist ein Rückfall in die ideologische (und damit reduktive) Position des Materialismus oder Naturalismus. Die Vorgabe und Struktur des Denkens und Handelns „als wenn es Gott nicht gäbe“ nenne ich den methodischen Atheismus und unterscheide ihn konsequent von Ideologien, die instrumentalisieren und/oder legitimieren.

p.s.
Damit kritisiere und ergänze ich die Aussagen von Siegfried J. Schmidt in seinem Buch: Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit. Prozessualität als Argumentationsstrategie, Weilerswist 2010, und verweise auf Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, München 1951/1968, und Roger Schutz: Dynamik des Vorläufigen (Dynamique de provisoire, 1965), Gütersloh 1967; sowie: Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott, Festschrift für Stéphane Mosès, Berlin 2000. Zu meinen metatheoretischen und wissenschaftsdidaktischen Überlegungen siehe: Die Vorläufigkeit theoretischer Arbeit. Zum Verhältnis von Wissenschaftskritik und Hochschuldidaktik, Osnabrück 1980 (Diss.).

Ausführlich erläutert habe ich meine Überzeugung in meinem 2017 erschienen „Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten. Ein Taschenwörterbuch“ (Münster in Westf.) und neuestens argumentativ zusammengefasst in meinem (noch unveröffentlichten) Manuskript: „Was bedeutet strukturell Erlösung in einer Welt ohne Gott? (Über die Differenz zwischen Chronos und Kairos im messianisch-apokalyptischen Denken und die Konsequenzen in einem anthropozentrischen Weltverständnis: methodischer Atheismus und die Utopie der Erlösung), Metelen (März 2018, 35 S.).

Vgl. zur Gesamtproblematik das Stichwort „Messianismus“ I und II von Ton Veerkamp und Hans-Ernst Schiller in Band 9/I (Maschinerie bis Mitbestimmung) des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus (HKWM), Hamburg 2018 (Sp. 657-682) und speziell im selben Band das Stichwort „materialistische Bibellektüre“ von Kuno Füssel (Sp. 252-266).