Gegen die Lagermentalität – Zum Ursprung des Christentums

Aus dem Brief an die Hebraier (13,13-14):

Daher wollen wir hinausgehen zu ihm (Jesus Christos), außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend, denn nicht haben wir hier eine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. (Übersetzung: Münchener NT) (Vulgata: „extra castra“; NT gr.: ménousan/méllousan pólis; vulg./lat.: civitas)

Das ursprüngliche Christentum ist eine messianische Täuferbewegung innerhalb des Judentums in der damaligen Zeit, deren Gemeinden sich, so der Hebräerbrief (entstanden vor der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die römischen Truppen), als „außerhalb des Lagers“ verstehen, also keine Tempel- und Opfer-orientierte Religionsgemeinschaft sind. Diese Gemeinschaften haben keine „bleibende polis“, sondern erinnern sich an und bekennen sich zu Jesus aus Nazaret als ihren Messias und suchen eine „neue polis“.

Christen können sich also – im religiösen Sinn – nicht auf ein räumliches Zentrum rückbeziehen; weder auf Jerusalem (mit dem Tempel), noch Konstantinopel noch Rom. Denn sie leben und handeln weltweit „außerhalb des Lagers“; das ist ihr universaler Auftrag. Überall, wo sie sich im Namen und Auftrag des Messias (Christos) Jesus zusammenfinden und sich seiner kenosis erinnern und seiner Erlösung (der Welt) gedenken und diese durch ihr Verhalten bezeugen, sind sie zu hause.

Religionen beziehen sich auf ein religiöses Zentrum; daher spreche ich von religio als Rückbezug. Judentum wie Christentum sind durch die Exodus-Struktur gekennzeichnet; kennen aber auch – sekundär – den Schöpfungsmythos (erzählt im Buch Genesis). Das Christentum erwartet und erfährt (als kairologisches Ereignis – in der Deutung des Paulus aus Tarsus) den Beginn der „Gottesherrschaft“. Übersetzt vom theozentrischen Weltbild in das anthropozentrische Weltverständnis bedeutet das die konkrete Utopie der Erlösung, die befreit und verhindert, dass Zweifel und Endlichkeit in Verzweiflung und Vernichtung umschlagen.

Daher akzeptieren aufgeklärte Christen keine „Lagermentalität“; sie ziehen sich nicht in ihre „Kirchen“ zurück, sondern ihre Form der „Entweltlichung“ bedeutet, sich nicht den bestehenden Verhältnissen anzupassen, sondern Verantwortung für die Menschen und die Welt zu übernehmen.

Zum Hintergrund der Argumentation des „Briefes an die Hebraier“

Der Text des „Hebräerbriefes“ ist seiner Argumentation nach ein Traktat eines Gelehrten der Priestertheologie des hellenistischen Judentums, der gelernt hat, mit der biblischen Tempel- und Opfertheolgie zu argumentieren. Die Schärfe seiner Kritik am Tempeldienst und Opferkult (in Jerusalem) besteht darin, dass er diese Opfertheologie allein auf Jesus, den Messias, bezieht und die Adressaten seiner Argumentation, sog. „Judenchristen“, vor einem Rückfall in die Opferpraxis des Tempels in Jerusalem schützen will. Der Kontext im 13. Kapitel des Hebräerbriefes verdeutlicht dies:

Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit.

Lasst euch nicht durch schillernde und fremdartige Lehren verführen. Denn es ist gut, dass das Herz gefesselt wird durch Gnade, nicht durch Speisegebote; die sie befolgten, hatten keinen Nutzen davon.

Wir haben einen Altar, von den zu essen keine Vollmacht hat, wer dem Zelt dient. Denn die Leiber der Tiere, deren Blut der Hohe Priester als Sühnopfer ins Heiligtum hineinbringt, werden außerhalb des Lagers verbrannt.

Darum hat auch Jesus, um durch sein eigenes Blut das Volk zu heiligen, außerhalb des Tores gelitten.

Lasst uns also vor das Lager hinausziehen zu ihm und seine Schmach tragen, denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Durch ihn wollen wir Gott allezeit als Opfer ein Lob darbringen, das heisst die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen.

Vergesst nicht, einander Gutes zu tun und an der Gemeinschaft festzuhalten, denn an solchen Opfern findet Gott Gefallen.

(Hebr. 13,8-16 in der Übersetzung der Zürcher Bibel)

Schärfer kann die Kritik an den Speisegeboten und der Opfertheologie in der Sprache der jüdischen Priestertheologie (Nutzlosigkeit der Speisegebote und die Hinrichtung Jesu außerhalb des Tempelbezirks als einzig sinnvolles Blutopfer der „Heiligung“) nicht formuliert werden, auch wenn für aufgeklärte Menschen (auch Christen) unserer Zeit diese weltbildbezogene Denkweise fremd und unverständlich bleibt. Diese Kritik muss also in Bezug auf unsere Lebenspraxis übersetzt werden.

Ich fasse zusammen:

Der Verfasser der Argumentation des sog. Hebräerbriefes polemisiert gegen die „Lagermentalität“ derer in seinem Freundeskreis (der getauften messianischen Juden), die sich weiterhin am Tempelkult des Hohen Priesters und der dort stattfindenden Opferpraxis orientieren. Ich unterstelle, der Tempel in Jerusalem ist noch nicht durch die römischen Legionäre zerstört ( und das spricht für eine Entstehung des Briefes eindeutig vor 70 n. Chr.). Die Gegenargumentation in der Sprache der Priestertheologie ist:

(1) Es gibt nur einen Hohen Priester, und das ist Jesus aus Nazaret, der vor den Toren der Stadt (außerhalb der Mauern) hingerichtet wurde;

(2) Sein Tod ist das einzige sinnvolle Opfer zur Erlösung der Menschen;

(3) Und deshalb haben die Messias-Vertrauten (die Christen) hier (in Jerusalem) keine „bleibende polis“, sondern sie sind Suchende der „zukünftigen polis“.

Christen haben keinen heiligen Ort, kein Kultzentrum – nur Erinnerungsorte -, denn als „Erlöste“, als freie Menschen können sie überall „Gott loben“ – für die Befreiung danken (Eucharistie als Danksagung), sich sozial (für ihre Mitmenschen) engagieren (Diakonie/Caritas als Konsequenz) und (um der Erinnerung und Bezeugung der Erlösung willen) Gemeinschaft halten (ekklesia).

Grußwort zur Aufstellung einer Gedenksäule zur Erinnerung an die Schöppinger Bürgerinnen und Bürger, die, angeführt von Heinrich Krechting, 1534 als Täufer nach Münster zogen, in das „Neue Jerusalem“, um das endzeitliche Königreich Christi aktiv zu erwarten

(Neufassung vom 08. Oktober 2015)

Meine Damen und Herren,

wie Einige von Ihnen wissen, arbeite ich ehrenamtlich im Archiv des Heimatvereins Metelen und erstelle dort u.a. eine regionalgeschichtliche Bibliothek. Weiterhin bin ich Mitglied im Arbeitskreis „Kulturraum Scopingau“ und habe Anfang dieses Jahres zusammen mit Thomas Flammer das Buch „Beiträge zur Kirchengeschichte des Scopingaus“ herausgegeben. Seit Jahren beschäftige ich mich mit der Gestalt des Hinrich Krechtinck/Heinrich Krechting aus Ihrem Ort Schöppingen und habe sein Leben von ca. 1540 bis 1580 in der Grafschaft Gödens in Ostfriesland in meinem Buch „Die radikale Umkehr des Heinrich Krechting am Schwarzen Brack“ (2013) auch literarisch verarbeitet.

Die Einladung und die Absicht, hier am historischen Rathaus eine Gedenksäule für die Beteiligung Schöppinger Bürger am Täuferreich in Münster aufzustellen, hat mich überrascht und auch verstört. Überrascht bin ich, dass sich heute (2015) politische Gemeinde und Heimatverein auf diese Weise an das Münsteraner Täuferreich erinnern, einer radikalen Variante der Reformation, von Martin Luther bekämpft, mit zahlreichen Vorurteilen belastet und 1535 durch die Söldnertruppen des damaligen Fürstbischofs gewaltsam zerstört. Bis heute erinnern die drei Käfige am Lamberti-Kirchturm in Münster an dieses Ende – als Warnung vor radikaler Reform, vor Aufruhr gegen die Obrigkeit, vor Revolution.

Verstört hat mich diese Einladung, da ich Sorge habe, dass dieses Mahnmal der Erinnerung an „500 Jahre Reformation“ – im übernächsten Jahr – nicht gerecht wird. Ich füge hinzu, diese Sorge hat mir Pfarrer Böcker in einer Vorabklärung unserer Manuskripte zum größten Teil genommen, auch wenn wir im Detail unterschiedliche Einschätzungen des Täuferreiches in Münster haben.

Dabei stören mich nicht kleinere historische Ungenauigkeiten im Einladungstext, sondern ich will der Täuferbewegung als einer radikalen Form der Reformation zu Beginn der Neuzeit gerecht werden und auch der (mennonitischen) Täuferbewegung, die es bis heute weltweit gibt – und die ich zu den christlichen Kirchen zähle.

Dass Sie hier in Schöppingen Heinrich Krechting und seine Familie ins Zentrum der Erinnerung stellen, kann und muss auch bedeuten, dass Sie seine gesamte Lebensgeschichte und die seiner Kinder erinnern: Heinrich Krechting hat sich in einen konsequenten Calvinisten gewandelt, hat 40 Jahre lang bis zu seinem Tod 1580 zwar geschwiegen, aber wurde Kirchenvorsteher der reformierten Kirche in Dykhausen, Landwirt, Stadt- und Hafenplaner in der Grafschaft Gödens – und sein Enkel setzte diese Tradition als Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen fort, ohne seinen Großvater zu verleugnen.

Daher gebe ich zu bedenken;

dass die Zerstörung des Täuferreiches in Münster und die zahlreichen Hinrichtungen der Täuferinnen und Täufer im 16. und 17. Jahrhundert nicht das Ende der radikalen Erneuerung des Christentums und ihrer Kirchen bedeuten. Heinrich Krechting aus Schöppingen, Bruder des hingerichteten Pfarrers Bernd Krechting, hat weitergewirkt und als radikaler Reformator die Neue Stadt Gödens in Ostfriesland am Schwarzen Brack geplant und erbaut – für alle Konfessionen und Religionen, weltoffen und mit Deichen geschützt vor den Stürmen der Nordsee und den Reaktionen der Herrschenden.

Selbstkritisch gegenüber seiner früheren Praxis als Kanzler des Täuferreiches und menschenfreundlich für alle Glaubensflüchtlinge aus dem Reich Karls V., blieb er bis zu seinem Tod am 28. Juni 1580 stumm, aber nicht wirkungslos.

Um nicht missverstanden zu werden, will ich zum Abschluss meines Grußwortes bewertend aus heutiger Sicht verdeutlichen:

Heinrich Krechting war Täter in einer fanatischen Bewegung und als ausgebildeter Jurist ihr Vollstrecker; er erwartete aktiv und gewaltsam das endzeitliche Gottesreich. Er lebte als Täufer in einem Land, in dem auf der Grundlage eines Reichsgesetzes auf den Empfang und das Bekenntnis zur Erwachsenentaufe die Todesstrafe stand.

Krechting überlebte, anders als sein Bruder Bernd, die Eroberung Münsters und löste sich nur langsam von seinen apokalyptischen Hoffnungen, die Wiederkehr Christi stehe bevor.

Zuletzt floh er in die Grafschaft Gödens am Schwarzen Brack (im heutigen Ostfriesland) und wandelte sich in einen gewaltfreien Calvinisten; wahrscheinlich nach intensiven Gesprächen mit Gräfin Hebrich von Gödens und seinem Freund, dem polnischen Reformator Johannes a Lasco aus Emden.

Ich meine, diese Entwicklung, diese Umkehr des Heinrich Krechting aus Schöppingen und seiner Familie, dieses Modell einer Hafenstadt wie Neustadtgödens, in der alle Flüchtlinge frei und gemeinsam leben und arbeiten konnten, sollte beim Nachdenken über dieses Mahnmal nicht vergessen werden.

Auch seine Enkel und Urenkel, Heinrich Krefting und Hermann Wachmann, anerkannte Bürgermeister der freien Hansestadt Bremen, haben diese Erinnerung an ihren Großvater in einer schriftlichen „Nachricht“ festgehalten.