Brief an den Genossen Kevin Kühnert als Antwort auf seine Frage, warum ich in die SPD eingetreten bin

An den Generalsekretär der SPD, Kevin Kühnert,

SPD Parteivorstand, Wilhelmstraße 141, 10963 Berlin

Brief an den Genossen Kevin Kühnert als Antwort auf seine Frage, warum ich in die SPD eingetreten bin

Metelen, am 13. Mai 2023

Lieber Kevin,

Du fragst mich, kurz vor der Geburtstagsfeier zum 160-jährigen Bestehen unserer SPD, warum ich in die SPD eingetreten bin, und – nach einigem Zögern und Überlegen – will ich Dir antworten, indem ich meine Geschichte auf meine Art erzähle.

Ich gehöre, 80 Jahre alt, zur abnehmenden Minderheit der sog. Stammwähler unserer Partei, die, seit sie wählen dürfen, stets bei allen Wahlen die SPD und ihre Kandidatinnen und Kandidaten gewählt haben – wenn auch manchmal mit leisem Zweifel.

Ich gehöre also zu der Minderheit von Wählern, auf die sich die Wahlforscher mit ihren Prognosen verlassen können; übrigens eine zunehmende Minderheit in allen Parteien.

Dass ich zu dieser aussterbenden Minderheit gehöre, hat eine konkrete Geschichte. Bevor ich meine biografische Herkunft erzähle, erkläre ich meine Absicht, bis zu meinem Lebensende SPD-Mitglied zu bleiben.

Diese Entscheidung kann ich – am Rande bemerkt – mit weiteren „Bekenntnissen“ verbinden, wenn auch aus anderen Gründen und Motiven. Vor 80 Jahren wurde ich als Christ in die römisch-katholische Kirche „hineingetauft“ und seit über 50 Jahren bin ich Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW im DGB), deren Vorsitzender ich von 1994 bis 2004 war.

Zurück zur SPD, deren Mitglied ich seit fast 60 Jahren bin. Ich stamme aus einer SPD-Familie im Norden von Krefeld am Niederrhein. Ich wurde 1943 zur Zeit der Nazi-Diktatur geboren, gerade an dem Tag, an dem mein Vater mit 42 Jahren während des Zweiten Weltkrieges noch Soldat werden musste. Mein Vater war in der Weimarer Republik, als „kleiner“ Beamter (mit Volksschulabschluss) in die SPD und die Eiserne Front eingetreten. 1933 verlor er deswegen zunächst seinen Arbeitsplatz; 1945 aktivierte er seine Mitgliedschaft in der SPD und blieb es bis zu seinem Tod. Sein Vater, mein Großvater, war Frisörmeister im Krefelder Nordbezirk und sympathisierte bereits mit den Vorkriegssozialisten (vor dem I. Weltkrieg).

Mein Großvater mütterlicherseits war Klempnermeister im Krefelder Süden, ehemaliger Maat in der kaiserlichen Marine und ein menschenfreundlicher Katholik. Beide Großväter haben mich in meiner Kindheit je auf ihre Weise geprägt.

Ich vermute, diese Herkunft erklärt, dass ich nach dem Abitur Philosophie und Theologie studierte (in Münster und Freiburg), gefördert durch das Cusanuswerk, in die SPD eintrat (als die NPD in den Landtag von Baden-Württenberg einzog), mich in der Studentenbewegung engagierte und als Berufsschullehrer im Münsterland Gewerkschaftsfunktionär wurde.

Diese biografische Entwicklung hat mich nach der Verrentung  in die Kommunalpolitik (Kreistag und Gemeinderat) gebracht und zum Autor mehrerer Bücher gemacht, u.a. über das Projekt der Aufklärung (von Immanuel Kant bis Hannah Arendt, von Erasmus von Rotterdam bis Dietrich Bonhoeffer, Franz Rosenzweig und Hermann Cohen). Und ich kann ergänzen: von Rosa Luxemburg und August Bebel bis Erich Ollenhauer (während meiner Schulzeit) und Willy Brandt.

Diese Geschichte hat mich geprägt. Ob die SPD das Programm und Projekt der Aufklärung (Mündigkeit, Menschenwürde und Menschenfreundlichkeit (Empathie) sichert und weitertreibt, muss jede und jeder für sich überprüfen. Mich überzeugt es bis heute.

Mit solidarischen Grüßen

Jürgen Schmitter

p.s.

Wer das Projekt der Aufklärung unterstützt und weitertreibt, darf sich und andere auch mit Recht Genossin und Genosse nennen.

 

Literaturhinweise:

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen, Münster (agenda Verlag) 2020

Jürgen Schmitter: Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän. Überlegungen zur Anthropologie der Aufklärung, Münster (agenda Verlag) 2023