Was bedeutet es, das Programm und den Prozess der Aufklärung zuende zu denken?

Die Resultate des historischen Prozesses der Europäischen Aufklärung sind für den heutigen homo sapiens – im Zeitalter des Anthropozän – einsehbar und bilden die verbindlichen und unumgehbaren Voraussetzungen für einen aufgeklärten, mündigen Menschen, dessen Weltanschauung anthropozentrisch und universal geprägt ist und dessen Denk- und Arbeitsmethoden durch den Aufgeklärten Realismus gekennzeichnet sind.

Anthropozentrisch“ heißt: die Menschen sind für ihr Denken und Handeln allein verantwortlich (homo praestans).

Universal“ heißt: die Verantwortung umfasst alle Menschen in ihren Gesellschaften und im gemeinsamen Wohnort: Erde.

Zusammengefasst sind diese Resultate der Aufklärung:

  • die Kritik jeder Religion und religiösen Sprachspiele: Religion als Projektion. Das meint nicht die generelle Bedeutungslosigkeit; daher bedürfen religiöse Sprachspiele der Übersetzung, sonst bleibt bestenfalls die narkotisierende Wirkung (Opium-These).

  • Die konsequente Kritik jeder Metaphysik, sowohl als philosophische Problemstellung, wie auch als praktische Weltanschauung; die Konsequenzen sind nicht jede Spielart von Materialismus, sondern ein Aufgeklärter Realismus – als Metatheorie (des Bewusstseins und der Wissenschaften) und die Utopie des messianischen Denkens der Erlösung.
  • Die Entmythologisierung der Vorstellung vom Paradies im Himmel und auf der Erde und aller Phantasien von Himmel und Hölle; Schauplatz des Denken und Handelns ist der Planet Erde.

  • Die Entwicklung des menschlichen Selbstbewusstseins und der Autonomie; der Grundrechte für alle Menschen (Proklamation der Menschenrechte).

Auch die heutigen Weltvorstellungen und Welterklärungen sind nicht ideologiefrei; bestehende Interpretationen wirken weiter und neue (scheinbar angepasste) Ideologien haben sich gebildet, die interessengebunden das Bewusstsein und die Geschichte der Menschheit klären sollen, auch wenn sie manipulativ wirken oder Privatinteressen durchsetzen wollen.

Ich fasse diese Ideologiebildungen zusammen:

  • Alle Spielarten des Materialismus als Weltanschauung,

  • Alle Spielarten des Naturalismus, abgeleitet aus der Evolutionstheorie (Darwin),

  • Alle Spielarten des Konstruktivismus; der unbedingten Vorläufigkeit aller Entwicklung und Geschichte (alles sei relativ),

  • Weiterhin alle religionsabhängigen Weltanschauungen (vom theozentrischen Weltbild bis zum Pantheismus).

  • Mystifizierende Weltanschauungen bis hin zum Aberglauben.

  • Spezielle interessengebundene Weltanschauungen, die sich aus den jeweiligen Macht- und Herrschaftsstrukturen ergeben;

  • insbesondere aus der Wirtschaftsstruktur: die Entwicklung zur weltweiten Waren-Gesellschaft produziert eine eigene, überlagernde Ideologie der Kapitalverwertung.

Daher sind Ideologiekritik, insbesondere die Kritik der Politischen Ökonomie und die Kritik der Gesellschaftsstruktur wie des Wissenschaftsbetriebs notwendig, um über die realen Lebensverhältnisse in Familie, Gesellschaft und Wissenschaft aufzuklären.

Diese aufklärende Kritik wird durch die Leistungen des menschlichen Bewusstseins ermöglicht, individuell wie vergesellschaftet, optimiert durch „Auslagerungen“ einzelner Bewusstseinsleistungen (KI im weiten Sinn); siehe die Aussage von Hannah Arendt (1959): der Mensch ist ein sterblicher Schöpfer.

Für Programm und Prozess der Aufklärung am Ende des Anthropozän bedeutet dies:

  • Methodischer Atheismus (Verzicht auf die Gotteshypothese) ist sinnvoll,

  • Die Evolution der Natur – inklusive der Entstehung des homo sapiens – erklärt nicht die Geschichte der Menschheit. Die Geschichte des homo sapiens ist eine Bewusstseinsgeschichte, trotz des Einflusses des „Unbewussten“.

  • Ziel dieser Bewusstseinsgeschichte (im Sinne der Aufklärung) ist – zusammenfassend – die Aufgabe, Probleme zu lösen.

  • Problemlösen ist einerseits auf Erfolg aus, andererseits immer auch vorläufig. Diese Doppeldeutigkeit von antizipativ und provisorisch macht seine Dynamik aus und kennzeichnet die Menschheitsgeschichte im Anthropozän.

  • Diese Dynamik zeigt, realisiert und bewährt sich in den Lernstrategien sowohl des Individuums wie der Gesellschaft: von der Problemfindung und -stellung bis zur Erfolgskontrolle und möglicher/notwendiger Korrektur.

  • Der Prozess der Problemlösung (als allgemeine Beschreibung menschlichen Denkens und Handelns) ist nicht ziellos, sondern orientiert sich an der (konkreten) Utopie der Erlösung.

  • Der Messianismus der Propheten der hebräischen Bibel ist eine konkrete Form dieser Utopie.

Literaturhinweis:

Jürgen Schmitter: Aufgeklärter Realismus, Münster/Westf. 2020

Planung:

Jürgen Schmitter; Aufklärung unter dem Regenbogen. Eigensinniges Wörterbuch der philosophischen Aufklärung. Vom Problemlösen zur Erlösung, Münster/Westf. 2025/26

Methodischer Atheismus statt Apatheismus/Erlösung als messianische Denkform

Unter „methodischem Atheismus“ verstehe ich den bewussten Verzicht, im Alltag, in der Gesellschaft und in den Wissenschaften die „Gotteshypothese“ zur Lösung von Problemen jeglicher Art zu gebrauchen. Unter den Bedingungen des heutigen, aufgeklärten Weltverständnisses ( des anthropozentrischen Weltbildes) müssen und können alle Probleme des Denkens und Handelns ohne Rückgriff auf einen „Gottesglauben“ gelöst werden. Denn der homo sapiens ist ein homo praestans, der für sein Denken und Handeln allein verantwortlich ist.

Von dieser Einsicht sind alle atheistischen Weltvorstellungen (vom Agnostizismus bis zum Apatheismus) streng zu unterscheiden; diese unterliegen der Ideologiekritik (im Sinne von Projektion und Entlastung). Dies gilt auch für theistische Vorstellungen (vom Polytheismus bis zum Monotheismus und Pantheismus). Auch sie unterliegen der Religionskritik, wie sie im Projekt der Aufklärung entwickelt wurde. Grundlage des heutigen Denkens und Handelns ist der „aufgeklärte Realismus“ auf der Basis des anthropologischen Weltbildes, das von einem Universum, einer Welt – und ihren Gesetzmäßigkeiten (inklusive der möglichen Wahrscheinlichkeitsrelationen) ausgeht. (siehe meine Argumentation in meiner Schrift: Aufgeklärter Realismus, Münster 2020).

Unter „Apatheismus“ versteht das „freie Wörterbuch“ (Wiktionary) ungebräuchlich eine Weltanschauung, nach der die Frage nach der Existenz eines Gottes (oder Götter) bedeutungslos ist, weil sie keine nachprüfbaren Konsequenzen hat. Jan Loffeld (in seinem Buch „Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt, Freiburg im Breisgau 2024) übersetzt diesen Begriff mit „religiöser Gleichgültigkeit“ und kennzeichnet damit (religionssoziologisch) eine bestimmte „saekulare“ Haltung.

Der Apatheismus ist für einen aufgeklärten Menschen (am Ende des Anthropozän) keine Lösung der Gottesfrage. Der Atheismus als Weltanschauung verallgemeinert die notwendige Religionskritik (Stichworte: Projektion, Opium) zu einer fragwürdigen Immanenz des menschlichen Bewusstseins; reduziert seine Möglichkeiten (Potenzen) und damit die Wahrnehmung der Realität.

Im heutigen Labyrinth des Denkens und Nachdenkens führt diese Immanenz zur Ideologie des Naturalismus oder des Konstruktivismus. Die Struktur des Problemlösens wird nicht ausreichend erkannt. So vermischt und verwechselt der Rückgriff auf die „Natur“ und ihre Prozesse der Evolution diese Evolution mit der Menschheitsgeschichte. Der Konstruktivismus erhebt das Provisorium (die bloße Vorläufigkeit) zum Ziel und behauptet letztendlich, dass der Weg schon das Ziel sei.

Demgegenüber verstehe ich das menschliche Denken und Handeln als „sterbliche Schöpferkraft“, um Probleme im Alltag, in der Gesellschaft und in den Wissenschaften kooperativ zu lösen. Problemlösen ist daher die Tätigkeit (mit Hannah Arendt spreche ich von „Arbeit“ im weitesten Sinn), die die Menschen – ohne Rückgriff auf eine „jenseitige“ Realität – leisten und verantworten (müssen!)

Diese Arbeit bedarf – bezüglich der Methoden und des Erfolgs – des dauernden Zweifels und der Prüfung (Kontrolle). Daher spreche ich von der Vorläufigkeit allen Problemlösens. Der homo sapiens ist also ein homo praestans, der für seine Arbeit und die gemeinsame Leistung einsteht und einstehen muss (Stichwort: Verantwortung).

Die Zurhilfenahme von Gotteshypothesen würde diese Verantwortung schmälern, auch wenn eine entlastende Wirkung unterstellt wird. Gott als „Schöpfer“ – und sein Werk: die „Schöpfung“ sind mythologische Vorstellungen; Projektionen, entnommen aus den religiösen Sprachspielen des theozentrischen Weltbildes. Ich lasse die Frage, ob solche Sprachspiele eine Bedeutung für die heutigen Menschen haben, zunächst unbeantwortet; aber sie sind in Bezug auf die Vorläufigkeit allen Problemlösens sekundär.

Was bleibt dem aufgeklärten Menschen angesichts dieser Einsicht in den methodischen Atheismus? Seine Handlungen, seine Art, Probleme zu lösen, müssen vorläufig bleiben, korrigierbar, umkehrbar, verbesserbar sein, ansonsten schlägt sein Denken in Dogmatik und Aberglauben um und sein Verhalten wird widersprüchlich, unsachgemäß und menschenfeindlich.

Diese bewusste Vorläufigkeit bedeutet gerade nicht, dass menschliches Bewusstsein statisch und ziellos ist. Ich spreche daher von der Dynamik des Vorläufigen. Worin besteht diese Dynamik grundsätzlich? Meine Antwort: in der (nur) utopisch denkbaren und auf spezielle Weise aussprechbaren Hoffnung auf Erlösung.

In meinem Bild des Labyrinthes für die Arbeit des menschlichen Bewusstseins bedeutet das: das Labyrinth hat nicht nur einen Eingang (Schwangerschaft und Geburt), ein Zentrum (die Mündigkeit), sondern auch einen „Ausgang“ während des sterblichen Lebens: die Erlösung.

Diese Dynamik erlaubt, erzwingt und befreit (zu) Umkehr und Korrektur bei Irrwegen, Holzwegen: sie ermöglicht und ermutigt zu neuen Lösungen.

In der messianischen, konkret utopischen Denkform und den entsprechenden Sprachspielen der Bibel des Judentums und Christentums wird die Hoffnung auf Erlösung konkret und universal: in der Messias-Erwartung. Ich frage mich daher, ob jenseits der „Menschwerdung Gottes“ im Messias/Christus noch sinnvoll über „Religion“ gedacht und gesprochen werden kann. Zumindest sind religiöse Denkweisen und Sprachspiele gegenüber der primären Hoffnung auf Erlösung sekundär.

Was meine ich mit dem Unterschied von primär und sekundär? Sekundär sind religiöse Vorstellungen über den Kosmos und seine Entstehung, die die Menschen im Laufe ihrer Geschichte gebildet und erzählt haben, um ihre Sterblichkeit und Schuldhaftigkeit zu verstehen. Diese Vorstellungen von „Schöpfung“ im allgemeinen und „Erschaffung des Menschen“ im besonderen werden in erzählenden Sprachspielen umgesetzt (z.B. Schöpfungs- und Paradiesgeschichten), die einerseits die Schuldfrage klären sollen, andererseits das menschliche Leben entlasten.

Religionskritisch analysiert lösen diese Erzählungen das Problem der menschlichen Verantwortung für ihr Tun nicht. Sie sind Projektionen, mythische Erklärungsversuche, die Erlösung nicht bewirken. Daher nenne ich diese Vorstellungen und Sprachspiele „sekundär“. Religion bedarf der Aufklärung. Theistische Weltanschauungen – bis zu den Endformen des Monotheismus – lösen das Problem der Sterblichkeit und Verantwortung nicht.

Auch apokalyptische Vorstellungen vom Ende der Welt und dem Endgericht blicken zwar in die Zukunft, bedürfen aber der Übersetzung, damit chronologische Lösungen nicht mit kairologischen Erfahrungen verwechselt werden.

Erlösung im messianischen Sinn zeigt sich, „offenbart“ sich in existenzieller Erfahrung – jenseits von Raum und Zeit. Daher ist diese Erfahrung nur als Utopie denkbar und (ebenfalls) vorläufig beschreibbar. Sie ist nicht beweisbar, aber kann überzeugen.

Dieses konkret utopische ‚Denken, dieses messianische Denken ist meiner Überzeugung nach (als Resultat meines Nachdenkens) keine Theorie (oder Metatheorie bzw. Weltanschauung), sondern realisiert sich in einem speziellen Theorie-Praxis-Verhältnis: die Erlösung – als Befreiung – in der praktischen Umkehr menschlichen Verhaltens.

Das messianische Denken der jüdisch-christlichen Bibel kennt für diesen Umkehrprozess – in seiner dialogischen Struktur – ein zusammenfassendes Wort: agape – mitmenschliche Liebe. Konsequenz dieser Überzeugung ist die weltweite Durchsetzung der Empathie gegenüber allen Menschen. In dieser Perspektive kann ich das Projekt der (weltweiten) Aufklärung zu Ende denken. Die Realisierung dieses Projektes bleibt eine stetige Aufgabe und Verpflichtung.