Das utopische Denken. Zur Dynamik des Vorläufigen

Die Vorläufigkeit des konstruktivistischen Denkens für endgültig zu erklären, ist eine resignative Form der Metaphysik. Vorläufiges Denken und Handeln hat eine Dynamik, die durch utopisches Denken – im heutigen anthropozentrischen Weltverständnis – gekennzeichnet werden kann.

Menschliches Denken und Handeln im Prozess der Aufklärung ist – zusammenfassend – als Problemlösen strukturiert. Diese Struktur als endlich zu analysieren, eröffnet die Utopie der Erlösung, die existenziell erfahren und konkret erzählt werden kann, aber nicht begriffen.

Das Vorläufige ist nicht das Endgültige. Die Endlichkeit alles Menschlichen enthält (verbirgt und eröffnet) eine Dynamik: Provisorium und Antizipation zugleich; Erkenntniszuwachs wie Erkenntnisfortschritt. Der entscheidende Impuls für alles Problemlösen ist die Utopie der Erlösung (als Erwartung: zeit- und ortlos).

Religion, wie sie sich heute präsentiert, ist der Rückzugs-Ort des Heiligen in einer profanen Welt. Demgegenüber umfasst das Utopische Denken den Welt-Raum. Dieses Denken benötigt weder Tempel noch Heiligtümer; es wirkt mitten unter den Menschen, mitten in unserer verdinglichten, entfremdeten Welt. Historisch wie biografisch gesehen hat das Utopische Denken konkret einen Namen: gebunden in der – und übersetzt aus der jüdisch-christlichen Täufer-Tradition: das messianische Denken.

Utopisches Denken wird im Alltag der Menschen erfahrbar und erzählbar, aber bleibt unbegreifbar. Der „Ort“ der Utopie, der einzige Ort des Ortlosen (ein Oxymoron) ist das Gespräch; in ihm kann erzählt und gehört werden, was Erlösung bedeutet (in der Struktur der Antizipation). Die Differenz von chronos und kairos ist erkennbar, erfahrbar, erzählbar, aber nicht aufhebbar.

Das Gespräch dient sowohl der gemeinsamen Rückerinnerung, als auch der gemeinsamen Entwicklung von Perspektiven und Aktionen; es ist der Raum der Umkehr (Revision) und Verantwortung. Entscheidend ist die dialogische Struktur des Gespräches, selbst da, wo der Einzelne sich mit sich selbst verständigt (verständigen muss). Verantwortung ist nicht delegierbar, Selbstkritik und Umkehr befreien.

Gespräch zwischen Philosoph und Revolutionärin

Der Philosoph erläutert: Ich lebe gern am Rand des Geschehens,
um meinen Beobachter-Status nicht zu gefährden.

Die Revolutionärin entgegnet: Nur im Zentrum ist Bewegung.
Nur dort ist Veränderung der Gesellschaft möglich.

Der Philosoph reagiert: Nur mit Abstand kann ich
der Veränderung ein Ziel geben.

Die Revolutionärin überlegt: Auch im Auge des Orkans
gibt es den Raum der Stille, um sich zu orientieren.

Der Philosoph antwortet: Im Chaos des Zentrums wie im Trubel
der Metropolen ist es fast unmöglich, Räume des Nachdenkens
zu schaffen und darin zu verweilen.

Die Revolutionärin protestiert: Wer im Zentrum lebt und handelt,
muss mit anderen den Raum der Orientierung schaffen,
um nicht im Strudel des Chaos zu versinken.

Der Philosoph überlegt: Zugegeben, jeder von uns,
gleich ob er im Zentrum oder in der Peripherie lebt,
ist für die Orientierung verantwortlich.
Aber wie ist das Problem zu lösen,
dass der Hahn in der Morgenröte aus Leibeskräften krähen kann,
aber nur mühselig fliegen, eher flattern,
während die Eule am Abend in der Dämmerung in lautlosem Flug
und mit scharfem Blick das gesamte Feld überschaut?

Die Revolutionärin schweigt zunächst und
der Philosoph fährt fort:
Ich suche ein Lebewesen, das Engagement und Orientierung
verbindet, den Tag nutzt und nicht die Dämmerung
abwartet. So ein Lebewesen suche ich; weder trompetender
Elefant, noch hoch kreisender Habicht.

Der Philosoph lächelt. Beide schweigen
und ahnen die Lösung: der Mensch.