Der Papst steht Kopf

Wie sein Geheimbesuch in Münster in Westfalen das Weltbild der römisch-katholischen Kirche radikal veränderte – Eine skurrile Aufklärungsgeschichte

Vorbemerkung: diese folgende „skurrile Aufklärungsgeschichte“, eine fiktive Glosse mit „biografischen Einsprengseln“, ist eine Vor-Veröffentlichung. Ich plane, sie – statt eines Nachwortes – in meinem neuen Buch „Aufgeklärter Realismus. Leitfaden zu einem zeitgemäßen Welt- und Menschenbild als Grundlage für eine dreifache Theorie des menschlichen Wissens, des verantwortlichen Handelns und des utopischen Hoffens“, das im Spätherbst dieses Jahres (2019) erscheinen soll, zu veröffentlichen.

Im Folgenden schreibe ich auf, wie ich dieses imaginäre Ereignis aufgearbeitet habe. In der obigen Überschrift meines Berichtes wird die Tendenz schon deutlich: Der Papst steht Kopf. Wie sein Geheimbesuch in Münster in Westfalen das (sein?) Weltbild der römisch-katholischen Kirche radikal veränderte.

Es ist kein Zufall, denn den gibt es nicht (casus non datur), und grenzt fast schon an ein Wunder (und daran glaube ich nicht), dass ich in meinem Alter von weit über 70 Jahren – obwohl dieses Alter die Kommunikation mit dem Bischof von Rom erleichterte – die einmalige Gelegenheit hatte, den Bischof von Rom, den ein Teil der Christen als sog. Oberhaupt anerkennt, für einen Tag durch die Stadt Münster zu begleiten und das Wahrgenommene – von mir ausgewählt – zu kommentieren.

Ich nenne das Ergebnis oder die Wirkung meiner eigenwilligen Stadtführung vorweg, um traditionelle Leserinnen und Leser, wenn es die dann gibt, nicht zu sehr zu irritieren: Es gelang, nein, nicht mir, sondern der Macht der reflektierten Wahrnehmung, das Weltbild des Bischofs von Rom, und damit das Menschen- und Weltbild der römisch-katholischen Kirche umzukehren, vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Ich phantasiere, der Bischof von Rom, also das von den Mitgliedern der römisch-katholischen Weltkirche (mehr oder weniger) anerkannte Oberhaupt, wäre zu einem unvermuteten Kurzbesuch inkognito in Münster eingetroffen und ich hätte die Aufgabe, ihm als ein sachkundiger Stadtführer und aufgeklärter Christ innerhalb eines Tages drei Dokumente aus der Geschichte und Gegenwart dieser Stadt zu zeigen und zu erläutern; einer ehemals fürstbischöflichen Stadt der Friedensverhandlungen zu Ende des Dreißigjährigen Krieges mit weitreichenden Konsequenzen; einer Stadt mit (ehemals) katholischem Milieu, die nie reformiert und aufgeklärt wurde.

Ich würde mit dem Bischof von Rom die Astronomische Uhr im Paulusdom besuchen, die Besonderheiten des Lambertikirchturms erklären – inklusive zweier Abstecher in den Friedenssaal des Rathauses und in das Stadtmuseum am Ende der Salzstraße –, und abschließend in der (ehemaligen) Dominikanerkirche verweilen, um anhand des Foucaultschen Pendels in der künstlerischen Fassung von Gerhard Richter die heutige Menschen- und Weltsicht erklären.

Mein Ziel, meine Intention des folgenden Berichtes mit Reflexion ist also, das Menschen- und Weltbild des Papsttums der römisch-katholischen Kirche vom Kopf auf die Füße zu stellen. Vor der Niederschrift meines Berichtes kann ich noch einige Marginalien klären, die meinem Bericht eine ausreichende Plausibilität verleihen.

Wir waren am Morgen vor der Bischöflichen Residenz auf dem Domplatz verabredet. Er hatte darum gebeten, von keiner örtlichen Geistlichkeit oder lokaler wie nationaler Politikprominenz begleitet zu werden. Auch ich war gebeten worden, alleine zu erscheinen; vor allem die Medien nicht zu informieren. So stand der Bischof von Rom im schwarzen Anzug ohne römischen Kragen im Vorhof des bischöflichen Palais, begleitet von seiner Sekretärin (ohne Ordenskleid) und seinem Sekretär in ziviler Kleidung (vielleicht ein Sicherheitsbeamter der päpstlichen Garde).

Bei einem Vorgespräch mit seiner Sekretärin im Campo Santo Teutonico im Vatikan – dazu war ich überraschenderweise eingeladen worden – hatten wir ein Erkennungszeichen vereinbart: seine Anzugsjacke zierte ein kleines Petruskreuz; das hatte ich nicht ohne Hintergedanken vorgeschlagen, obwohl bei seiner Medienpräsenz nicht notwendig; stattdessen Sonnenbrille und ein weitkrampiger Stohhut. Auch ich war in schwarz; nichts besonderes, sondern bei mir oft üblich. Auf dem Revers meiner Jacke klebte ein kleines Fischsymbol (mit den griechischen Großbuchstaben: ICHTYS).

Durch welche Indiskretion oder welches Missverständnis ich zu dieser ungewöhnlichen Stadtführung eingeladen wurde, weiß ich nicht. Manche werden das Verb „einladen“ durch „auserwählen“ ersetzen wollen und ihren Neid kaum verbergen können. Ich war zutiefst überrascht. Die Ordensschwester und Sekretärin, die ich auf meinen Wunsch hin im Campo Santo Teutonico im Vatikan traf, verriet nur soviel: man wisse, dass mein Studium in Freiburg im Breisgau durch die Stiftung der deutschen Bischöfe gefördert worden sei (meine Doktorarbeit wurde dann durch ein Stipendium des Landes NRW unterstützt) und ich vor kurzem ein Buch über das Verhältnis von Christen und Atheisten veröffentlicht hätte. Auch sei ich meinem Taufgelöbnis (das meine Großeltern für mich abgegeben haben) trotz aller Distanzierung treu geblieben und hätte bis zum Rentenalter katholischen Religionsunterricht erteilt. Und da ich mich mit der Täuferbewegung in Münster intensiv und öffentlich beschäftigt habe, würde ich nun gebeten, den Papst in einer geheimen Mission zu unterstützen. Der Papst zähle auf meine Verschwiegenheit.

Demgegenüber verwies ich auf meine langjährige Distanzierung zur Praxis der Kirche, die mit gutem Grund als Kriminalgeschichte zu deuten sei. Daher hätte ich auch den Deutschen Friedhof im Vatikan als Treffpunkt ausgewählt, denn vor längerer Zeit sei der Leiter, ein deutscher Prälat, der zuvor Leiter des Cusanuswerkes war, wegen dunkler Geschäfte „aus dem (öffentlichen) Verkehr“ gezogen worden. Sie entgegnete, immerhin hätte ich unter seiner Leitung drei Wochen lang hier in Rom eine Akademie besucht. Ich schwieg und wunderte mich nicht über die exakten biografischen Vorermittlungen, sondern gab meine Zustimmung.

Aber einen Wunsch meinerseits bat ich weiterzuleiten: auch weil es sich um einen geheimen Besuch handele, würde ich den Papst mit „Herr Bischof“ anreden. Denn so wie es mit Recht keine Fürstbischöfe mehr gebe, dürfe es auch keinen Papst-Titel mehr geben. Leider habe sich die Säkularisierung weltweit und vor allem im Vatikan noch nicht durchgesetzt.

Ich sah ihr Stirnrunzeln, aber sie versprach, meinen Wunsch weiterzuleiten. Zuvor hatte ich sie damit zu trösten versucht, dass ich ihr davon erzählte, dass ich 1963 in der Universität Münster die Vorlesung von Josef Ratzinger „Einführung ins Christentum“ mit Interesse besucht hätte. Eine Reaktion blieb aus.

Das Weltbild der Astronomischen Uhr im Dom zu Münster: Die zerbrechende Einheit von Astrologie und Astronomie – Zum Verhältnis von Chronos und Kairos

Leicht verunsichert, ob nicht doch die Presse uns umzingeln würde, gingen wir auf den Dom zu und erreichten durch das Paradies, die Vorhalle, den südlichen Chorumgang und blickten auf die dreiteilige Schauwand der Astronomischen Uhr.

Die nach der Zerstörung durch die Täuferbewegung 1540 wiederhergestellte Uhr unterstellt einerseits das theozentrische Weltbild mit christologischer Perspektive, erlaubt andererseits eine chronologisch exakte Zeitbestimmung auf der Erde wie den Lauf der Planeten. Diese Konstellationen konnten also den Stand der Planeten am Himmel während eines bestimmten Zeitpunktes fixieren und – im Sinne der Astrologie – bewerten. Astronomie und Astrologie bildeten eine auch von der Kirche akzeptierte , wenn auch zunehmend zerbrechende Einheit. Der Stand der Gestirne am Himmel erlaubte eine auch prognostische Bewertung der irdischen Abläufe. Wobei der Ablauf der Geschichte auf der Erde durch den Kreislauf der Jahreszeiten geprägt war – und nur einmal im Jahr – in der Silvesternacht – musste der Jahreszeiger von Menschenhand bewegt werden. Die Messbarkeit und Wiederkehr der Himmelsmechanik schien die Stabilität der chronologisch ablaufenden Geschichte auf der Erde zu sichern. Noch korrelierten Kosmologie und menschliche Herrschaft miteinander und die christliche Kirche war der Garant dieser Stabilität Reform und Revolution waren in diesem Weltbild nicht (oder nur insgeheim) denk- und realisierbar; Reformation, Umsturz und Aufklärung blieben „außen vor“.

Meine Gäste stehen staunend vor diesem Kunstwerk und seiner bis heute ablaufenden Mechanik; aber ich gebe zu bedenken, schon wenige Jahre vor dieser Neukonstruktion stellten die Täufer diesen Ablauf radikal in Frage; wenn auch in Form einer chronologisch vorgestellten endzeitlichen Apokalyptik. Und die Reformatoren hinterfragten die Stabilität dieser Konstruktion und die Berechtigung der christlichen Kirchen, diese Konstruktion zu legitimieren.

Wer den Dombezirk verlässt und sich dem bürgerlichen Stadtbezirk mit seinem Prinzipalmarkt nähert, kann die spätgotische Lambertikirche mit ihrem heutigen Turm (vom Ende des 19.Jahrhunderts) nicht übersehen.

Stigmata am heutigen Lambertikirchturm: Schiller, Goethe und die Käfige der hingerichteten Täufer. Der spezifische Umgang mit der missachteten Aufklärung: zwischen Possenspiel (Stadtmuseum am Ende der Salzstraße, Säulenkapitelle an der Rathausfassade) und Friedenskompromiss (Friedenssaal des Rathauses)

Ich erläutere, dass Ende des 19. Jahrhunderts der baufällig gewordene Kirchturm abgerissen wurde, und ein neuer Turm entstand, gegen den Wunsch der preußischen Obrigkeit ein Imitat des Freiburger Münsters. Vor allem die drei abgelassenen Eisenkäfige, in denen die Körperteile der hingerichteten Anführer des Täuferreiches den Vögeln zum Fraß ausgesetzt und den Bürgerinnen und Bürgern zur Abschreckung und Warnung ausgestellt worden waren, wurden wieder – allen sichtbar – hochgezogen. Daran änderte auch das Possenspiel nicht, das Professor Landois, exkommunizierter Priester und Darwinist, Gründer des Münsteraner Zoos und später zu einem Münsteraner Original stilisierter Zoologe, veranstaltet hatte. Er ließ drei weitere Eisenkäfige nachbauen und behauptete, diese seien die echten. Heute sind diese Resultate der Possenspielerei im Stadtmuseum am Ende der Salzstraße zu bestaunen. Dieser verharmlosende, touristenattraktive Umgang mit der Geschichte hat in Münster, der katholischen Metropole des Münsterlandes Tradition; daran ändern auch die in den Käfigen angebrachten, der Kunst verpflichteten „Irrlichter“ nicht. Und das regelmäßige Trompetensignal der (städtisch angestellten) Trompeterin mochte vor Feuersbrunst in früheren Zeiten schützen, aber den Schlaf der Münsteraner Bürgerinnen und Bürger stört es bis heute nicht.

Mehr oder weniger versteckte Elemente der Possenspielereien konnte ich meinen Gästen zeigen: zwei der in Stein gemeißelten Heiligenfiguren im Westportal erinnern in ihren Gesichtern an Schiller und Goethe, ein Säulenkapitell am nach dem Krieg wiederhergestellten Renaissance-Rathaus zieren Köpfe der auf dem Prinzipalmarkt hingerichteten Täuferführer, und im Stadtmuseum ist neuestens, in kleine Flaschen verpackt, Taufwasser der Täufer zu kaufen: hochprozentiger klarer Schnaps.

Die Verwunderung meines Inkognito-Gastes nahm zu und er murmelte etwas von italienischen Verhältnissen, die er im Münsterland nicht vermutet habe. Aber meine voreilige Interpretation des spezifischen Umgangs mit der gefürchteten Obrigkeit und der missachteten Aufklärung beeindrucke nicht weiter. Während wir nach einem Umweg in den Friedenssaal zu Ende des Dreißigjährigen Krieges Richtung ehemaliger Dominikanerkirche gingen, erzählte ich von den vergeblichen Einsprüchen der päpstlichen Delegation, dessen Leiter später Bischof von Rom (und damit Papst) wurde: Die Niederlande erhielten ihre garantierte Unabhängigkeit und das Recht der freien Religionsausübung. Und eine einmalige „Absonderlichkeit“ des Friedensvertrages, die Nachbardiözese Osnabrück betreffend, musste ich erwähnen: die dortigen Fürstbischöfe waren – bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, also bis 1803, abwechselnd katholisch oder evangelisch.

Wie der römische Papst in der Dominikanerkirche die Erdrotation erfuhr, die leibliche Himmelfahrt als symbolische Täuschung erkannte und als aufgeklärter Bischof in seine römische Diözese zurückkehrte.

Höhepunkt und Abschluss meiner außergewöhnlichen Stadtführung war der Aufenthalt in der Dominikanerkirche mit der durch Gerhard Richter künstlerisch gestalteten Installation des Foucaultschen Pendels. Ich war überrascht, dass er, der vor Jahren auch in Deutschland studiert hatte, die Wirkung dieses Pendels (aus dem Deutschen Museum in München) kannte, und mir, nachdem ich die unterschiedlichen Weltbildvorstellungen zwischen dem barocken Hochaltarbild der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel aus dem Jahre 1708 (das hinter einer eisernen Gittertür zu sehen ist), und der nur indirekt erfahrbaren Erdrotation, die uns alle trifft und betrifft, offen zugab, das Weltverständnis, das dem Mariendogma von 1950 zugrunde läge, sei für einen aufgeklärten Menschen nicht mehr versteh- und vermittelbar. Und das habe auch Konsequenzen für ein aufgeklärtes Menschenbild. Seine Sekretärin – die unerkannte Ordensschwester – wollte immer noch nicht glauben, dass sie, auf dem Erdboden stehend, um das gleichschwingende Pendel rotierte. Der Bischof von Rom scherzte noch, dass er nicht 30 Stunden Zeit habe, das Pendel zu umkreisen,

bedankte und verabschiedete sich, und verschwand mit seiner Begleitung im Dienstwagen Richtung Flughafen.

p.s.

Wenn ich mich nicht getäuscht habe, ist in naher Zukunft eine Enzyklika zum Thema Säkularisierung, Aufklärung und Menschenwürde durch den Bischof von Rom zu erwarten.

Übrigens wäre das Petruskreuz am Revers seines Anzugs umdrehbar. Den legendären Petrusakten nach wurde Petrus nach seiner Verhaftung kopfüber gekreuzigt. Er habe seinen Wunsch damit begründet, dass er nicht würdig sei, auf die gleiche Weise wie Christus zu sterben.

Verweisen statt wahrnehmen

Die Kunst der Aenigmatik des Gerhard Richter

Beobachtungen und Reflexionen zum installierten Kunstwerk
mit dem Foucaultschen Pendel im Innenraum
der Dominikanerkirche in Münster/Westfalen

Meine Neugierde trieb mich in der letzten Woche bei meinen regelmäßigen Besuchen der Landeshauptstadt Münster in Westfalen in die Dominikanerkirche, mitten ins Zentrum der Innenstadt, um die Installation von Gerhard Richter „Zwei Graue Doppelspiegel für ein Pendel“ kennenzulernen. In der Bekanntmachung der Stadt Münster heißt es vollmundig: „Für die Betrachter wird der Besuch der profanierten Kirche zur Begegnung mit der Zeit und mit ihrer Vorstellung von Wirklichkeit“. Ich frage mich, ob sich das „ihrer“ auf Zeit oder Kirche bezieht und erfahre – in fast allen Veröffentlichungen –, dass es sich um eine entweihte Barockkirche handelt (im Eigentum der Stadt). Soll ich rückschließen, dass die Einrichtung eines Kunstwerkes dem Kirchenbau eine erneute Weihe verleiht oder soll ich – im Sinne Gerhard Richters – vermuten, dass der Künstler einen idealen Ort gefunden hat, ein Foucaultsches Pendel aufzuhängen und in Schwingung zu versetzen: eine 48 Kilogramm schwere Metallkugel an einem 28,75 Meter langen Edelstahlseil über einer kreisrunden, äquivalent zur Bewegung des Pendels gewölbten Platte aus Grauwacke, einem 380 Millionen Jahre alten Sedimentgestein? Und weiter heißt es in der städtischen Information: „Ein Magnetfeldantrieb im Zentrum der Bodenplatte sorgt für die ununterbrochen gleichmäßige Bewegung des Pendels. Im Verlauf einer Stunde dreht sich die Ebene unter dem Pendel um 12 Grad nach Osten. Entsprechend dem „Sterntag“, an dem sich die Erde einmal um die eigene Achse dreht und der in Münster etwa 30 Stunden zählt. Damit wird die erstmals im Jahre 1851 von dem französischen Physiker Léon Foucault in einem Pendelversuch nachgewiesene Erdrotation sichtbar“ (kursiv von mir).

Die Behauptung der „Sichtbarkeit“ stelle ich in Frage und unterstelle, dass dies nicht die Absicht des Künstlers ist. Fast eine Stunde habe ich mich im Kirchenraum aufgehalten und die Menschen beobachtet, die unablässig und zahlreich in den Raum (bei offenen Türen) strömten und, wenn ich ihre Gesichter richtig deute, eher ratlos oder andächtig verweilten. Denn alle wussten aus den Medien, dass ein weltberühmter Maler, dessen Werke auf Auktionen für zig Millionen Dollar verkauft werden, der Stadt Münster ein Geschenk auf Dauer vermacht hat.

Ich hätte mir spontan eine Umfrage gewünscht: was nehmen die Menschen wahr, was erwarten sie, die sie die Pendelbewegung beobachten? Und wie ordnen sie die an den zwei Wandflächen der Vierung paarweise gruppierten verspiegelten Glasbahnen (mit den Maßen 6 Meter mal 1,34 Meter) dem Pendel in seiner steten Bewegung und ihrem jeweils eigenen Standort zu? Mir bleibt die Beschreibung zweier Menschen in ihrem jeweiligen Verhalten: der alte Mann mit seinem Regenschirm und der kluge Mitmensch, der aus dem Physikunterricht seiner Schulzeit zitiert.

Der alte Mann nimmt seinen geschlossenen Regenschirm und stellt ihn nahe der Skala der Bodenplatte – jenseits der Absperrung – und schaut konzentriert minutenlang auf die Skala und hofft, anders kann ich sein Verhalten nicht interpretieren, dass die Bodenplatte sich für ein paar Grad gegenüber dem Standort seines Schirmes bewegt hat. Nach einiger Zeit schüttelt er den Kopf, da er keine Drehung wahrnimmt, und zieht seinen Schirm leicht verunsichert wieder hinter die Absperrung zurück. Ich erkenne nicht nur seine Verunsicherung, die vermeintliche Drehung der gewölbten Platte aus Sedimentgestein nicht wahrgenommen zu haben, obwohl er doch seinen Schirm fest auf den Boden gedrückt hatte, sondern ich fühle auch seine Verlegenheit, das Verbot der Absperrung missachtet zu haben. Und ich frage mich: weiß er nicht, dass wir mit dem gesamten Kirchenboden – und damit mit der gesamten Erdoberfläche – rotieren, ohne diese Erdrotation wahrzunehmen?

Mein Nachbar im Kirchenrund, ein kluger Mitmensch, hat diese Situation auch beobachtet und flüstert mir zu, der Herr habe wohl in der Schule nicht aufgepasst; er habe im Physikunterricht gelernt, dass die Erde sich in 24 Stunden um ihre Achse drehe. Ich will nicht belehrend wirken und ihm erläutern, dass auf unserem Breitengrad die Rotationszeit etwa 30 Stunden dauert. Ich nicke lächelnd mit dem Kopf und überlege für mich, dass die Schattenbildung der Metallkugel auf der Platte von Grauwacke durch das einströmende Sonnenlicht die konkrete Gradbestimmung der Drehbewegung der Ebene unter dem schwingenden Pendel verkompliziert – denn auch die Sonne bewegt sich, obwohl wir in der Schule gelernt haben, dass die Erde, auf der wir Menschen leben, nicht nur rotiert, sondern sich auch auf einer elliptischen Bahn um die Sonne dreht. Doch was ist, wenn die Sonne nicht durch die Fenster der Dominikanerkirche scheint? Das Pendel schwingt und die Erde rotiert und einen archimedischen Punkt haben wir Menschen, die wir auf der Erdoberfläche leben, nicht.

Weder die Philosophen noch die Künstler verfügen über den archimedischen Punkt, von dem aus sie alles, was in der Welt der Fall ist, überblicken oder sogar steuern könnten. Was bleibt, wenn die Sprache versagt, nicht aus Mangel, sondern durch strukturelle Begrenzung? Was bleibt, wenn ein Bild universale Erfahrungen des In-der-Welt-Seins nicht abbilden kann? Auch hier frage ich nach den strukturellen Grenzen, nicht nach der individuellen Kompetenz. Dabei geht es nicht nur um die jeweilige Thematik (Ist die Menschenvernichtung in ihrer grenzenlosen Brutalität abbildbar? Oder: Ist „Erlösung“, die mehr und anderes sein will als „Probleme-lösen“ darstellbar?), sondern auch um die Bedingungen der Möglichkeit von menschlicher Wahrnehmung. Ich vermute, Gerhard Richter, der um diese Problematik weiß, will mit seiner Kunst (bei ihm immer auch ein präzises Kunst-Handwerk) auf universale Erfahrungen hinweisen, die die Menschen nicht – zumindest nicht problemlos – wahrnehmen können.

Die Erdrotation betrifft alles und alle, die auf der Erdoberfläche leben, aber sie kann von uns Menschen zwar nicht wahrgenommen werden, aber durch das Foucaultsche Pendel wird auf sie verwiesen – und ihre Geschwindigkeit kann gemessen werden. Dieses Verweisen auf die Drehung des Bodens – und einen skalierten Kreis – über eine gleichmäßige Pendelschwingung, die eine gleichbleibende Ebene bildet, kann optisch verdeutlicht werden; wie beim Foucaultschen Pendel im Deutschen Museum in München – durch im Kreis angeordnete umkippende Klötzchen. In Münster hat Gerhard Richter darauf verzichtet.

Was beabsichtigt der Künstler mit dieser Installation; was ist sein Interesse und was fasziniert ihn?

Ich verzichte auf die Wiedergabe der wenigen veröffentlichten und kargen Aussagen des Künstlers; denn sie mögen für den Eigentümer des Kirchenraumes, die Stadt Münster, wichtig und für den finanziellen Vertragsabschluss (beziehungsweise die Bedingungen der Schenkung) bedeutsam sein; für die Analyse der Aussage und Wirkung eines Kunstwerkes sind sie nicht maßgebend. Ich erinnere mich an die Diskussion einer Schülergruppe mit einem mir befreundeten Maler in seiner Ausstellung: die Schüler wollten wissen, was er mit seinen (abstrakten) Bildern aussagen wolle – und er verweigerte sich. Denn seine Aussagen seien seine Bilder und ihre Bedeutung müssten sie durch ihre eigene Wahrnehmung herausfinden. Auch die Unterschriften seien beliebig und dienten allein der Identifizierung und Katalogisierung (und einem möglichen Verkauf) der einzelnen Bilder.

Damit kehre ich zu der Frage zurück, was die Menschen, die ich in der Dominikanerkirche beobachtet habe, möglicherweise erwarten und wahrnehmen. Nun sollen meine Reflexionen nicht auf ein Psychogramm der Museumsbesucherinnen und -besucher hinauslaufen (z.B. meines „alten Mannes mit Regenschirm“ und meines Nachbarn, der sich, wenn auch unpräzise, an seinen Physikunterricht erinnerte), sondern ich beschreibe im Folgenden meine Erwartung, also meine Kontext-Überlegungen, und meine Wahr-nehmung dieser Installation von Gerhard Richter.

Wenn ich die Bilder von Gerhard Richter – in seine aktuellen Schaffensperiode – mir anschaue (und ich hatte Gelegenheit, seine letzte umfassende Ausstellung im Kölner Museum Ludwig und auch seinen Birkenau-Zyklus im Burda-Museum in Baden-Baden sowie (mehrmals zu unterschiedlichen Tageszeiten) sein Kölner Domfenster zu besuchen), dann nehme ich seine Absicht wahr, Phänomene darzustellen, die grundsätzlich nicht abgebildet werden können, weil ihre „Totalität“ in einem „Bild“ (in einem Abbild) nicht fassbar ist; auf das, was diese Phänomene bedeuten, kann der Künstler nur verweisen. Verweisen statt abbilden, das ist die Vorerwartung, wenn ich mich den Bildern dieses Künstlers annähere. Welche „Phänomene“ meine ich?

Die Praxis des Übermalens und Verwischens, die Richter präzise und konsequent ausübt, stellt die Wahrnehmung des Abzubildenden in Frage, problematisiert die Möglichkeit des Abbildens – in Bezug auf die gewünschte Aussage des jeweiligen Phänomens. Es bleibt die Möglichkeit des Verweisens auf Phänomene, die grundsätzlich unabbildbar sind. Denn das Abbild löscht das Wesentliche des jeweiligen Phänomens; es bleibt der Verweis, um das Individuelle oder das Totale oder das Unfassbare, eben das Unbegreifbare auszudrücken; es als Künstler im (nicht mehr traditionellen) Bild oder in einer Installation darzustellen. (Das Wort „Verweis“ ist zumindest in der deutschen Sprache doppeldeutig: Hinweis/Verbot.)

Ich nenne diese Form der bildlichen Darstellung aenigmatisch und erkläre die Herkunft dieses von mir gewählten Kunstwortes an späterer Stelle. In dieser Form dokumentiert sich das Besondere des jeweiligen Phänomens: z.B. die Individualität, auch Würde eines Menschen, die im Bild (Abbild) möglicherweise verloren geht; oder der helle Schein einer Kerze (ihr jeweiliges Licht oder ihr Glanz), der in ihrer fotografischen Abbildung verschwindet; oder die Totalität des Verbrechens der systematischen und bürokratischen Menschenvernichtung im Holocaust (vgl. Richters Birkenau-Serie) oder die Fülle (das Pleroma) der Erlösung im Kontext der messianischen Utopie der jüdisch-christlichen Tradition (vgl. Richters Kölner Domfenster mit seinen 11500 Quadraten aus mundgeblasenem Echt-Antik-Glas in 72 unterschiedlichen Farbkombinationen, gewonnen durch einen Zufallsgenerator; Südquerhausfassade 2006).

Phänomene dieser Art können ihren Glanz, auch ihre Individualität oder Brutalität verlieren, wenn sie fotografisch abgebildet werden. Auf Phänomene dieser Art kann nur durch eine spezielle Abmal- oder Übermaltechnik, die Gerhard Richter beherrscht, „verwiesen“ werden.

Im Bereich der menschlichen Sprache drücken sich solche Grenzerfahrungen, die nicht begreifbar sind, in Oxymora aus. Religiöse Sprachspiele wie die Sprache der Utopien leben von solchen Oxymora; sie sind Ausdrucksformen der Sprache der Poesie und Mystik. (Vgl. die Stichworte meines Vademecum für aufgeklärte Christen und nachdenkende Atheisten, Münster 2017, und meinen Aufsatz zum „Messianischen Denken in einer Welt ohne Gott“, 2018, auf meiner Homepage.)

Für eine bildende Künstlerin oder einen bildenden Künstler, die an den oben beschriebenen Phänomenen interessiert und von ihnen fasziniert sind, bleibt die Methode der Aenigmatik.

Diese Methode – so das Resultat meiner Überlegungen – praktiziert Gerhard Richter; ich fasse seine Arbeitsweise und ihre Resultate unter dem Slogan zusammen:
Verweisen statt Abbilden.

Den Begriff „Aenigmatik“ – ein Kunstwort, das der Duden nicht kennt – habe ich in Anlehnung an das 13. Kapitel des ersten Korintherbriefes gewählt; verfasst vom jüdisch-christlichen Gelehrten Paulus, um die Methode des messianischen Denkens aus der Messias-Erfahrung heraus unter den Bedingungen der Jetzt-Zeit zu kennzeichnen:

Denn Stückwerk ist unser Erkennen und Stückwerk unser prophetisches Reden. Wenn aber das Vollkommene kommt, dann wird zunichte werden, was Stückwerk ist. Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, überlegte wie ein Kind. Als ich aber erwachsen war, hatte ich das Wesen des Kindes abgelegt. Denn jetzt sehen wir alles in einem Spiegel, in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich ganz erkennen, wie auch ich ganz erkannt worden bin.“ (so die Übersetzung der Zürcher Bibel 2007).

Martin Luther übersetzt die entscheidende Passage: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem tunckeln Wort.“ Und in der lateinischen Vulgata-Übersetzung heißt es: „per speculum in aenigmate“. Schon für die Sprachspiele in Utopie und Mystik habe ich 2017 formuliert: „Die Sprache der Oxymora ist aenigmatisch, kann existenziell wirksam sein, aber bleibt unbegreifbar, und im Medium des Bildes: nicht abbildbar, da nicht wahr-nehmbar.“ (S. 214, Nachwort: Mit der Torheit leben und sterben? Aus: Vademecum, Münster 2017)

In der aenigmatischen Produktionsweise – in Sprache und Bild – wird auf rätselhaft widersprüchliche Weise („in einem tunckeln Wort“, Martin Luther) gedacht und gestaltet: im Bereich der Sprachkunst (Dichtung) soll das „beredte Schweigen“ ausgedrückt werden. Die Sprachspiele der Utopie sind die Sprachspiele der Mystik, nicht der heute verbreiteten, oberflächlichen Esoterik. Mystik aber beginnt und endet mit dem Schweigen. Abbilden wie Begreifen sind Formen des rationalen Denkens, sowohl im theozentrischen Weltbild (von Himmel und Erde), als auch im anthropologischen Weltverständnis: Probleme werden mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden gelöst und mithilfe der einzig erfolgreichen, da eindeutigen Sprache: der Sprache der Mathematik kommuniziert.

Der Gebrauch (wie Missbrauch) religiöser Sprachspiele stellt einen Sonderfall dar, der eingehender Kritik und notwendiger Übersetzung bedarf. Dies gilt auch und vor allem für die sog. Religiöse Kunst. Wenn versucht wird, existenzielle Erfahrungen in religiöser Sprache begreifbar zu machen, so ist das im theozentrischen oder metaphysischen Weltverständnis sehr wohl möglich, bedarf aber der Aufklärung, denn im Kontext eines anthropozentrischen Weltbildes und des für wissenschaftliche Problemlösung notwendigen „methodischen Atheismus“ (zunächst) sinn-los.

Jenseits aller Formen des idealisierten Begreifens und Problemlösens bleibt die Möglichkeit und Notwendigkeit der Kunst, auf das Unbegreifbare zu verweisen. Doch die Methoden der Aenigmatik sind gefährdet: sie können umschlagen in Beliebigkeit. Denn ohne Kontextwissen und Hintergrunderfahrung können die Artefakte aenigmatischer Produktion – im wörtlichen Sinn – oberflächlich – an der Oberfläche – bleiben.

Richters Bilder und Installationen verlangen, um sie zu verstehen, im Zuschauer bzw. Beobachter einen konkreten Denk- und Erinnerungsprozess: bei den Menschenbildern, die auf die Individualität verweisen, ist biografisches Hintergrundwissen notwendig; beim Kerzenbild das Wissen um die Funktion einer Kerze. (Hier wäre ein Vergleich mit den Bildern von Georges de la Tour, dasselbe Sujet betreffend, interessant.) Beim Kölner Domfenster ist die spezifische Aura des Kirchenraumes (soweit noch erfahrbar) ein notwendiger Hintergrund.

Bei dem Birkenau-Zyklus zeigt sich das Problem des Umschlags auf besondere Weise: es ist fraglich, ob die Totalität des Verbrechens der Menschenvernichtung abbildbar ist; aber gibt es nicht andere, mehr beeindruckende Formen des Verweisens, wenn ich an die Bilder von Felix Nussbaum in seinem eigens errichteten Museum in Osnabrück (von Daniel Libeskind gestaltet) denke? Was bleibt von der Wirkung der Birkenau-Bilder, wenn das Wissen um die Konzentrations- und Vernichtungslager verblasst?

Sicher ist auch die aenigmatische Darstellungsweise begrenzt; ohne Denkleistung bleibt das Wahrnehmungsinteresse der Beobachterinnen und Beobachter oberflächlich. Ich kehre zurück zum Foucaultschen Pendel und seiner Installation zwischen zwei grauen Doppelspiegeln in der Dominikanerkirche in Münster. Die physikalisch-technische Innovation bestand 1851 und später darin, gegen die ablehnende Haltung der Kirche, die das Phänomen der Erdrotation vorab aus einer für uns heute überholten, ideologisch bestimmten Weltsicht leugnete, ein „Messinstrument“ zu konstruieren, das das Phänomen der Erdrotation nachweisen und ihre jeweilige Zeitdauer bestimmen konnte.

Gerhard Richter interessiert und fasziniert dieses Phänomen (und sein Nachweis) – so unterstelle ich –, weil es alle Menschen, die auf der Erdoberfläche leben, betrifft, aber von niemandem wahrgenommen werden kann. Das Foucaultsche Pendel symbolisiert die Methode der Aenigmatik, in der Richter seine Arbeitsweise als Künstler erkennt, reflektiert (daher die Wandspiegel) und mitteilt. Er installiert das Pendel in einem (länger gesuchten) spezifischen Raum, der keiner weiteren Nutzung unterliegt; an dessen gegenüberliegenden Wänden sich die gleichbleibende Pendelbewegung in den je zwei grauen Spiegelflächen eigentümlich reflektiert. So wird der Innenraum der Dominikanerkirche zu einem Gesamtkunstwerk, das die Besucher in seiner rätselhaften Wirkung einbezieht.

Diese aenigmatische Wirkung wird verstärkt, da kontrastiert, wenn der in der Kirche vorhandene und zur Zeit verdeckte Hochaltar, ein prachtvoll geschnitzter Barockaltar aus einer Paderborner Kirche, der 1976 restauriert und rekonstruiert wurde, nicht nur (auf Wunsch des Künstlers und gegen den anfänglichen Willen der Stadt) im Kirchenraum erhalten bleibt und wieder sichtbar wird.

Spezifikum dieses Altars ist in seinem Hauptfeld ein Gemälde von Georg Christian Brüll, das die Himmelfahrt Mariens darstellt. Diese Abbildung ist die Phantasievorstellung frommer Menschen auf der Grundlage eines heute überholten (theozentrischen) Weltbildes. Diese Vorstellung resultiert aus einer Legendenbildung des 6. nachchristlichen Jahrhunderts, die schon vor der Zeit der „Gegenreformation“ (vgl. Tizians Gemälde „Mariä Himmelfahrt“ um 1516) immer wieder künstlerisch umgesetzt wurde und sogar 1950 (!) zu einer dogmatischen Engführung in der römisch-katholischen Kirche führte (die leibliche Aufnahme Mariens, der Mutter Jesu, in den Himmel – Assumptio Beatae Mariae Virginis – während die Ostkirchen bis heute von der „Entschlafung“ – dormitio – sprechen).

Auch das christliche Kreuz, das im Kirchenraum anzutreffen ist (ob mit oder ohne Korpus), hat Verweischarakter. Abgebildet wird nicht „Gott“, das wäre sinn-los, oder im christlichen Verständnis Götzendienst und fiele unter das strenge Abbildungsverbot der jüdisch-christlichen Tradition.
Stärker kann der Gegensatz in diesem ehemaligen Kirchenraum nicht sein (wenn dem Wunsch des Künstlers mit Recht – wie ich meine – entsprochen wird): einerseits ehemaliger Ort kultischer Verehrung mit Hilfe eines Bildes religiöser Phantasie, andererseits Ort technisch-wissenschaftlicher Beweisführung in einem aufgeklärten, wissenschaftlichen Weltverständnis. Und ich ergänze – als Beobachter der zahlreichen Besucherinnen und Besucher: Ratlosigkeit bleibt zurück bzw. wird zurückbleiben. Ich wünsche mir, dass das Gesamtkunstwerk „Innenraum der Dominikanerkirche“, gestaltet von Gerhard Richter, Wirkung bei den Besuchern erzeugt: nachzudenken über die Alternative: Verweisen statt Abbilden.

Grußwort zur Aufstellung einer Gedenksäule zur Erinnerung an die Schöppinger Bürgerinnen und Bürger, die, angeführt von Heinrich Krechting, 1534 als Täufer nach Münster zogen, in das „Neue Jerusalem“, um das endzeitliche Königreich Christi aktiv zu erwarten

(Neufassung vom 08. Oktober 2015)

Meine Damen und Herren,

wie Einige von Ihnen wissen, arbeite ich ehrenamtlich im Archiv des Heimatvereins Metelen und erstelle dort u.a. eine regionalgeschichtliche Bibliothek. Weiterhin bin ich Mitglied im Arbeitskreis „Kulturraum Scopingau“ und habe Anfang dieses Jahres zusammen mit Thomas Flammer das Buch „Beiträge zur Kirchengeschichte des Scopingaus“ herausgegeben. Seit Jahren beschäftige ich mich mit der Gestalt des Hinrich Krechtinck/Heinrich Krechting aus Ihrem Ort Schöppingen und habe sein Leben von ca. 1540 bis 1580 in der Grafschaft Gödens in Ostfriesland in meinem Buch „Die radikale Umkehr des Heinrich Krechting am Schwarzen Brack“ (2013) auch literarisch verarbeitet.

Die Einladung und die Absicht, hier am historischen Rathaus eine Gedenksäule für die Beteiligung Schöppinger Bürger am Täuferreich in Münster aufzustellen, hat mich überrascht und auch verstört. Überrascht bin ich, dass sich heute (2015) politische Gemeinde und Heimatverein auf diese Weise an das Münsteraner Täuferreich erinnern, einer radikalen Variante der Reformation, von Martin Luther bekämpft, mit zahlreichen Vorurteilen belastet und 1535 durch die Söldnertruppen des damaligen Fürstbischofs gewaltsam zerstört. Bis heute erinnern die drei Käfige am Lamberti-Kirchturm in Münster an dieses Ende – als Warnung vor radikaler Reform, vor Aufruhr gegen die Obrigkeit, vor Revolution.

Verstört hat mich diese Einladung, da ich Sorge habe, dass dieses Mahnmal der Erinnerung an „500 Jahre Reformation“ – im übernächsten Jahr – nicht gerecht wird. Ich füge hinzu, diese Sorge hat mir Pfarrer Böcker in einer Vorabklärung unserer Manuskripte zum größten Teil genommen, auch wenn wir im Detail unterschiedliche Einschätzungen des Täuferreiches in Münster haben.

Dabei stören mich nicht kleinere historische Ungenauigkeiten im Einladungstext, sondern ich will der Täuferbewegung als einer radikalen Form der Reformation zu Beginn der Neuzeit gerecht werden und auch der (mennonitischen) Täuferbewegung, die es bis heute weltweit gibt – und die ich zu den christlichen Kirchen zähle.

Dass Sie hier in Schöppingen Heinrich Krechting und seine Familie ins Zentrum der Erinnerung stellen, kann und muss auch bedeuten, dass Sie seine gesamte Lebensgeschichte und die seiner Kinder erinnern: Heinrich Krechting hat sich in einen konsequenten Calvinisten gewandelt, hat 40 Jahre lang bis zu seinem Tod 1580 zwar geschwiegen, aber wurde Kirchenvorsteher der reformierten Kirche in Dykhausen, Landwirt, Stadt- und Hafenplaner in der Grafschaft Gödens – und sein Enkel setzte diese Tradition als Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen fort, ohne seinen Großvater zu verleugnen.

Daher gebe ich zu bedenken;

dass die Zerstörung des Täuferreiches in Münster und die zahlreichen Hinrichtungen der Täuferinnen und Täufer im 16. und 17. Jahrhundert nicht das Ende der radikalen Erneuerung des Christentums und ihrer Kirchen bedeuten. Heinrich Krechting aus Schöppingen, Bruder des hingerichteten Pfarrers Bernd Krechting, hat weitergewirkt und als radikaler Reformator die Neue Stadt Gödens in Ostfriesland am Schwarzen Brack geplant und erbaut – für alle Konfessionen und Religionen, weltoffen und mit Deichen geschützt vor den Stürmen der Nordsee und den Reaktionen der Herrschenden.

Selbstkritisch gegenüber seiner früheren Praxis als Kanzler des Täuferreiches und menschenfreundlich für alle Glaubensflüchtlinge aus dem Reich Karls V., blieb er bis zu seinem Tod am 28. Juni 1580 stumm, aber nicht wirkungslos.

Um nicht missverstanden zu werden, will ich zum Abschluss meines Grußwortes bewertend aus heutiger Sicht verdeutlichen:

Heinrich Krechting war Täter in einer fanatischen Bewegung und als ausgebildeter Jurist ihr Vollstrecker; er erwartete aktiv und gewaltsam das endzeitliche Gottesreich. Er lebte als Täufer in einem Land, in dem auf der Grundlage eines Reichsgesetzes auf den Empfang und das Bekenntnis zur Erwachsenentaufe die Todesstrafe stand.

Krechting überlebte, anders als sein Bruder Bernd, die Eroberung Münsters und löste sich nur langsam von seinen apokalyptischen Hoffnungen, die Wiederkehr Christi stehe bevor.

Zuletzt floh er in die Grafschaft Gödens am Schwarzen Brack (im heutigen Ostfriesland) und wandelte sich in einen gewaltfreien Calvinisten; wahrscheinlich nach intensiven Gesprächen mit Gräfin Hebrich von Gödens und seinem Freund, dem polnischen Reformator Johannes a Lasco aus Emden.

Ich meine, diese Entwicklung, diese Umkehr des Heinrich Krechting aus Schöppingen und seiner Familie, dieses Modell einer Hafenstadt wie Neustadtgödens, in der alle Flüchtlinge frei und gemeinsam leben und arbeiten konnten, sollte beim Nachdenken über dieses Mahnmal nicht vergessen werden.

Auch seine Enkel und Urenkel, Heinrich Krefting und Hermann Wachmann, anerkannte Bürgermeister der freien Hansestadt Bremen, haben diese Erinnerung an ihren Großvater in einer schriftlichen „Nachricht“ festgehalten.